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Alles hat keine Zeit XLV

Tagesmail vom 23.11.2020

Alles hat keine Zeit XLV,

Drehbuch der Exekutive:

zuerst Fremdwörter wie Inzidenz, exponentiell, lockdown, hotspot. Die dumme Bevölkerung ist eingeschüchtert.

Rechtfertigung: Latein, Englisch und Statistik kann doch jeder. Wer‘s nicht kann, taugt nicht für Made in Germany. Soll er doch rechtsradikal, verschwörungstheoretisch, populistisch, esoterisch und dumpf grölen.

Dann Alarmismus, der in Deutschland nicht apokalyptisch heißen darf, in Amerika apokalyptisch heißen muss: es wird ernst. Es drohen Unheil und Ungemach.

Jedes Leben muss gerettet werden – mit Ausnahme derer, die im Straßenverkehr, durch Suizid, kapitalistische Überlastungs- und Ungerechtigkeitsviren, Verwahrlosungs- und Isolierungssyndrome, kurz: mangels Zukunftstauglichkeit nicht überlebenswürdig sind. Der Gang der Evolution ist streng, aber gerecht.

Danach und viel zu spät: das Parlament, das alles absegnet und den Exekutierern nicht im Weg stehen will. Demokratische Feinfühligkeit in Notzeiten. Gelobt sei, was hart macht. Not kennt kein Gebot.

Dann die Opfer. Die Alten und Sterbenden müssen allein ins Gras beißen. Dann die Kinder. Gottlob haben Politiker keine Kinder und wenn doch, wachsen sie weit entfernt im Reich der Mütter auf. An Wochenenden dürfen die Kinder die ramponierten Seelen ihrer Zeuger rekreieren.

„Doch wenn ich die Kinder tagsüber weinen höre, kann ich nicht zu ihnen, um meine Frau zu unterstützen. Die Nerven liegen bei uns allen ziemlich blank. Ich frage mich, wie sich meine Kinder später an diese Zeit erinnern werden.“ (SPIEGEL.de)

Hört ihr die Kinder weinen, oh meine Geschwister …?

„Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Historiker haben den Qualen der Kindheit so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Pädagogen widmen sich nur der Organisation von Lehrplänen und der Bestrafung durch Tests und Noten. Augustins Ausruf: „Gebt mir andere Mütter, und ich geb euch eine andere Welt“, bestimmt das Schicksal von Abermillionen abendländischer Kinder, die getötet, ausgesetzt, geschlagen und sexuell missbraucht wurden.“ (in Lloyd de Mause, Hört ihr die Kinder weinen)

Gäbe es Umfragen unter Kindern, ob Schulpflicht abgeschafft werden soll zugunsten selbstbestimmter Neugierde, würden 110% aller Kinder die Kadettenanstalten abschaffen. Liberale Gesellschaften beruhen auf illiberaler Kindernötigung.

„Ein Kriterium, das von der Politikwissenschaft zur Charakterisierung totalitärer Systeme herangezogen wird, ist das Übergreifen der öffentlichen Sphäre auf den Privatbereich. Die Überordnung der öffentlichen Sphäre über die Bluts- und Gefühlsbande erfolgte bereits vor Jahrtausenden im Zuge der Entstehung des Patriarchats.“ (French)

Ein moderner Anthropologe bestätigt Bachofens Thesen über das Matriarchat:

„Das Patriarchat ist eine Anomalie in der Menschheitsgeschichte. Das war zu der Zeit, als die Menschen begannen, einfache Landwirtschaft zu betreiben. Damals entstanden matrilineare Hackbaukulturen. Die Frauen bearbeiteten das Land in Gemeinbesitz und hatten somit großen sozialen Einfluss – und die Männer nichts mehr zu jagen. Wir haben die Großfamilie zerstört und das Prinzip der Neolokalität erfunden: dass alle irgendwo anders wohnen, nur nicht an dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Wenn dann der Mann zur Arbeit geht, wie sich das bei uns historisch entwickelt hat, muss plötzlich die Mutter ohne jegliche Hilfe mit den Kindern zu Hause bleiben. Aber diese spezielle Arbeitsteilung ist weder gott- noch naturgegeben, auch wenn Religion und Wissenschaft allzu lange Frauen auf Mutterschaft reduziert haben. Das Lustige ist ja, dass es zwei Schöpfungsberichte gibt. In dem ersten sind Eva und Adam noch zeitgleich und gleich geschaffen, im zweiten entsteht die Frau aus der Rippe des Mannes – und wird ihm nach dem Sündenfall untertan gemacht. Im Ernst, das Problem war doch, dass alle Geschichten für Eva nur ungut ausgehen konnten, nachdem das Patriarchat schon über Jahrtausende gefestigt war.“ (SPIEGEL.de)

Die Dominanz der naturwissenschaftlichen Medizin reduziert den Menschen auf seelenlose Körperlichkeit. Politiker, im Bann der Wissenschaftsreligion, wollen Menschen retten, indem sie deren Körper schützen und deren Seelen verderben lassen.

Kaiser Friedrich II ließ ein Experiment mit Säuglingen durchführen, die körperlich bestens versorgt, aber psychisch isoliert wurden: niemand durfte mit ihnen reden. Der Kaiser wollte wissen, welche Natursprache die Kinder von sich aus entwickeln würden. Nach kurzer Zeit waren alle Kinder tot.

Heute sind wir nicht klüger als das Mittelalter: Kinder sollen geschützt werden, indem sie durch Isolierung beschädigt werden. Damit fallen wir hinter die Erkenntnisse des Hippokrates zurück, der in eine seiner Schriften schrieb:

„Wo Menschenliebe vorhanden ist, da ist auch die Liebe zum Beruf vorhanden.“

„Der ideale Arzt war geradezu ein gottgleicher Philosoph. Mit Hippokrates begann das Zeitalter der Humanität.“ (Nestle)

„Kinder ohne Berührung können sterben, Alte ohne Kontakt verkümmern.“ (Berliner-Zeitung.de)

Gab es in den Corona-Gremien einen einzigen Psychosomatiker oder Kinderpsychologen? Nein, Virologen und PhysikerInnen, die an eine unsterbliche Seele glauben, lassen die sterbliche Seele der Menschen verkommen.

Im Kampf gegen Impfgegner wurde der Placeboeffekt geschmäht. Plötzlich entdecken die Medien die Bedeutung des psychischen Fürwahrhaltens. Nein, kein Placeboeffekt ist allmächtig (obgleich er allmächtige Götter erfinden kann), aber er kann wichtiger sein als das Somatische, das er mit der Kraft des Geistes prägen kann:

„Dass suggestive Kräfte wirklich messbare biochemische Wirkungen im Organismus entfalten, hat der Medizinpsychologe Manfred Schedlowski in mehreren wissenschaftlichen Studien schon vor Jahren nachgewiesen. Placebos helfen, selbst wenn man weiß, dass man ein Scheinmedikament erhalten hat.“ (Berliner-Zeitung.de)

Nicht nur die Naturwissenschaften haben den Geist verbannt. Auch die Sozialwissenschaften reduzieren alles Soziale und Organische auf mechanische Gebilde. Im Kampf der Aufklärer gegen die Kirchen wurde der heilige Geist verbannt, der mit der irdischen Seele der Menschen verwechselt wurde. Alles, was nach Geist klang, wurde eliminiert. Übrig blieb eine geistlose Materie. Das Mütterliche wurde seelenlos, die materielle Natur durfte zur Strecke gebracht werden.

Marx brachte das Kunststück zustande, das Materielle zu entgeistigen und zu entseelen, gleichzeitig zu vergöttlichen und zu dämonisieren. Der Kapitalismus muss selbst jenen Fortschritt erzielen, der ihm eines unbekannten Tages das Genick brechen wird. Ohne allgewaltiges Böses kein Gutes. Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man machen lässt.

Wer dem Menschen die irdische Seele abspricht, spricht ihm seine geistige Selbstbestimmung ab und erniedrigt ihn unter die Machenschaften einer allmächtigen Geschichte oder Evolution.

Die Fürsorgekür der Regierung ist eine bedrohliche Wohltätigkeitsfarce. Die wirklichen Bedrohungen der Menschheit durch Klimagefahren werden gestrichen. Hinter den Kulissen der Agape lauern die Bestrebungen der Regierungen nach Orwell‘scher Überwachung. Unter der Maske des Wohlwollens wächst der Drang der Regierungen nach Übermächtigung.

„Eine Untersuchung zeigt, wie die Pandemie in vielen Ländern zu einem Niedergang der Freiheit führt. Regierungen dient das Coronavirus als Vorwand, ihre repressive Politik auszuweiten.“ (FAZ.net)

Wie weit die unauffällige Nebenbei-Überwachung schon gediehen ist, zeigt der folgende TAZ-Artikel:

„Staatstrojaner sind nichts Neues, das Bundeskriminalamt darf sie seit 2009 unter anderem zur Prävention von Terroranschlägen nutzen. Dafür brauchte es bisher einen richterlichen Beschluss – jetzt nicht mehr. Was in Hamburg bereits seit 2019 erlaubt ist, gilt bald für die Geheimdienste aller Bundesländer, für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), den Auslandsgeheimdienst BND und den Militärgeheimdienst MAD. Horst Seehofer beschreibt das Gesetz als „überfälligen Schritt im Kampf gegen Terroristen und militante Extremisten.“ Doch wer kontrolliert das BfV, wenn ich unwissentlich mit einer verdächtigen Person Kontakt habe und einfach mal „zur Sicherheit“ angezapft werde. „Die Gedanken sind frei!“ Das war einmal. Ich kann nicht mehr entkommen. Die Überwachung ist längst lückenlos. Ich bin umgeben von Tausenden Mikrofonen meiner Mitmenschen, die meine Stimme aufzeichnen, damit ein Programm sie herausfiltern kann. Ich flüstere also nur noch.“ (TAZ.de)

Der ewige Trick des Fortschritts. Ach, lasst mich ein, ihr Kinder, all eure Probleme kann ich lösen. Kaum hat er die Tür hinter sich zugezogen, lässt er die Atombombe fallen und droht mit Auslöschen der Menschheit. Nicht anders beim Wirtschaftswachstum, das die Bedürfnisse der Menschen befriedigen soll – und nicht bemerkt, dass sie nie zu befriedigen sind. Echte Bedürfnisse sind unbegrenzte Bedürfnisse, die einen unbegrenzten Fortschritt benötigen.

Der ursprünglich-„gesunde“ Mensch hatte Bedürfnisse, die er befriedigen konnte durch Arbeit, die ihm Nahrung verschaffte, um gesättigt und zufrieden zu sein. Dann hatte er Ruhe, Spiel, Freundschaft, Schabernack, Heiterkeit und Frieden.

Regten sich die Bedürfnisse erneut, begann der circulus von vorne. Der Zirkel aus Bedürfnis, Arbeit und Muße war ein Spiegelbild des natürlichen Zirkels. Tätigkeit und Entspannung, Pflicht und Sorglosigkeit, Anstrengung und Erholung lösten sich im strengen Rhythmus ab.

Anders der moderne Mensch, dessen Bedürfnisse nur „befriedet“ werden, wenn sie unbefriedigt bleiben und neue Risiken und Herausforderungen benötigen. Unruhe ist das stabilisierende Moment der Moderne, Ruhe wird als selbstzerstörende Versuchung erlebt.

„Kein Staat wäre lebensfähig, wenn es plötzlich keine Gewinnsucht, keine Eitelkeit, keinen Schwindel und keine Streitsucht mehr gäbe, wenn jeder nur noch so viel essen würde, wie er zum Leben braucht, die Kleidung nur dazu da wäre, um sich vor Kälte und Hitze zu schützen, wenn niemand mehr betrogen oder geschädigt würde, wenn es keinen Streit gäbe, jeder seine Schulden bezahlte, den Luxus verachtete und seinem Lebensgefährten treu bliebe: Die ganze Gesellschaft würde mit einem Schlag zum Stillstand kommen – die Anwälte würden verhungern, die Richter würden um ihre Fälle kommen, Millionen von Handwerkern würden arbeitslos und niemand würde sich zum Heer melden. Bald würde die Gesellschaft von Feinden erobert und versklavt werden. Die menschliche Natur macht keinen Unterschied zwischen Laster und Tugend und lässt sich ausschließlich von ihrem eigenen Vorteil bestimmen. Die Natur ist ein Schauplatz für Gefräßigkeit, Begierde, Grausamkeit, Gemetzel und Vergeudung. Gerade in diesem furchtbaren Kampf habe der Mensch seine Sprache, seinen sozialen Aufbau und seine Moralbegriffe entwickelt, als Werkzeuge sozialen Zusammenhalts und kollektiven Überlebens. Private Laster sind öffentliche Tugenden.“ (Mandeville)

Der holländische Arzt Mandeville nahm Hayek vorweg. Das Ineinander des Gegeneinanders, die Symbiose des Unverträglichen, die soziale Funktion des Asozialen war die unverbesserbare Grundlage jeder Kultur.

Wer diese coincidentia oppositorum (Einheitlichkeit der Gegensätze) moralisch verbessern wollte, würde alles zerstören. Utopische Träumer wären Totengräber der dialektischen Gebilde. Verbesserung wäre Selbstzerstörung gewesen. Es kann nur einen technischen Fortschritt geben, der gewisse Probleme löst, aber die ungelösten Probleme (oder das Böse) eisern verteidigt, um die nächste Etappe des Fortschritts anzuvisieren. Wenige Probleme werden gelöst, um viele unlösbare Probleme neu zu schaffen.

Die Welt bleibt solange intakt, solange die Summe der unlösbaren Probleme die Summe der lösbaren nicht übersteigt. Da Fortschritt darin besteht, die Dimensionen aller Elemente ins Endlose zu vergrößern, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das System in die Luft fliegen muss, weil die Summe der ungelösten Probleme so gigantisch anwachsen wird, dass sie von keiner Summe lösbarer Probleme gelöst werden kann.

Dieser Grenze steuern wir in verschärftem Tempo entgegen. Theoretisch wäre die Lösung des Problems einfach. An die Stelle quantitativer Veränderung müsste die qualitative Verbesserung der Gesamtstruktur treten. Der Wettbewerb der lösbaren mit den unlösbaren Problemen müsste eingestellt werden, stattdessen müssten die menschlichen Konflikte mit – Moral gelöst werden. Nicht durch die Einheit aus Moral & Amoral, sondern durch eine Moral, die die Amoral besiegt.

Mandeville und Hayek haben die Synthese aus Moral & Amoral nicht erfunden. Ihr Vorbild ist die Theologie des Gottes, der einen Teufel benötigt, um die Notwendigkeit eines Erlösers zu schaffen. Gott-Satan ist das Vorbild von Mandeville, der Laster benötigt, um Wohltaten zu schaffen, von Faust, der Mephisto benötigt, der das Böse will, um das Gute zu schaffen, von Marx, der den Kapitalismus benötigt, um sich selbst abzuschaffen, von Hayek, der die Unvernunft benötigt, um die zufälligen Glückskinder an die Spitze der Evolution zu entrücken und die Versager als Überflüssige abzustempeln.

Die theologische Moral ist keine eindeutige Moral, die das Gute will, um allein das Gute zu schaffen. Hier ergrimmt die Moderne, die jede Wahl zwischen Gut und Böse ablehnt, weil sie sich bereits jenseits von Gut und Böse empfindet. Stattdessen bevorzugt sie die Moral eines allmächtigen Gottes, dessen Ziel kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch ist.

Gott will kein Entweder-Oder, um das finale Gute zu etablieren und das Böse zu beseitigen. Nicht durch Gewalt, sondern durch die Überzeugungskraft des Guten. Gott will keine Moral um der Moral willen, sondern Moral um der Macht willen. Moral und Amoral sind für ihn nur beliebige Instrumente zur Erringung der finalen Macht.

Rationale Moral will jede Macht um der Macht willen überwinden. Moral und Amoral sind keine beliebigen Marionetten im Dienst der Macht, sondern kämpfen gegeneinander um die Gesamtprägung der Menschheit auf Erden, die dem Menschen eine Heimat in Frieden und Gerechtigkeit sein will.

Die Moderne wird geprägt vom bedingungslosen Kampf zweier Moralsysteme:

a) der Moral eines Gottes, der mit amoralischen & moralischen Mitteln seine verlorene Allmacht in der Schöpfung wieder herstellen will und

b) der Moral autonomer Vernunft, die durch Überzeugung inhumane Amoral überwinden und eine utopisch-humane Menschheit auf Erden konstituieren will.

Die Partei der Grünen hat sich wieder einmal ein Grundsatzprogramm gegeben – um in einer Koalition mit den Schwarzen die nächste Regierung zu bilden. Nicht mit der SPD, nicht mit den Linken. Einer linken Koalition geben sie keine Chance. Auch sie zieht es in die angewärmte Stube der machtgewohnten Schwarzen.

Den Grünen wird vorgeworfen, dass sie ihre Prinzipien aus Machtgier allzu sehr verwässert hätten. Ein törichter Vorwurf, denn jede Partei ist angetreten, um größtmögliche Macht zu erringen. Wer das verabscheut, sollte keine Partei gründen. Dass man im Gerangel um Macht ohne Kompromisse nicht auskommt, weiß jedes Kind.

Merkwürdig ist nur – das gilt inzwischen für alle Parteien –, dass die Grünen ihre Kompromisse viel zu früh in einem Grundsatzprogramm niederlegten, anstatt abzuwarten, um dem künftigen Koalitionspartner einen optimalen Deal abzutrotzen. Töricht genug legen sie jetzt schon ihre Kompromissangebote auf den Tisch. Dass dadurch der zukünftige Kompromiss in vorauseilender Unterwürfigkeit geschwächt wird, scheint niemanden zu kümmern.

Das alles aber sind nur taktische Spielchen um die Macht: notwendig aber nicht erkenntnisleitend.

Was man jedoch den Grünen – und allen Parteien – wirklich vorwerfen muss, ist das nicht vorhandene Manifest ihrer „reinen, ungetrübten Ziele“, die ihre Utopie benennen. Deutsche Parteien kennen nur die Schrumpfliste ihrer Kompromissangebote. Wie ihre utopischen Endziele aussehen: das verdrängen sie. Aus Angst, von der Öffentlichkeit als Traumtänzer verspottet zu werden.

Die Medien machen sich einen Spaß draus, die Ideen einer Partei zwischen der Scylla prinzipienloser Machtgier und der Charybdis einer illusorischen Utopie zu zermahlen. Da der Vorwurf der Träumerei schlimmer ist, streicht man schon im Vorfeld die idealen Forderungen zusammen, um nicht als pubertäre Idealisten verspottet zu werden.

Alle Parteien sind zu Kompromiss-Minimalisten geschrumpft. In Deutschland fehlt die Vorstufe allen politischen Tuns: die philosophische Agora theoretischen Debattierens, das nicht auf machtpolitische Ziele ausgerichtet ist, sondern allein auf Wahrheit und Menschlichkeit ihres Denkens. Erst, wenn eine philosophische Verständigung über die Grundlagenprobleme erzielt worden ist, kann über Kompromisse nachgedacht werden.

Hayek und Popper haben ein Utopieverbot ausgesprochen. Wer den Himmel auf Erden holen wolle, werde eine Hölle errichten. Die beiden Wiener bemerkten nicht, dass ein Himmel auf Erden eine theologische Utopie ist. Ihre Kritik richtet sich gegen theokratische Bestrebungen, im Vorfeld der Wiederkehr des Herrn bereits ein Reich Gottes auf Erden zu errichten.

 Viele Amerikaner glaubten, den neuen Kontinent als Gods own country zu erleben. Das war lange Zeit kein Grund, die demokratischen Strukturen aufzugeben, um eine Herrschaft der Frommen zu unterminieren. Unter Trump aber wuchs die Sehnsucht nach einem göttlichen Regime steil nach Oben.

Helmut Schmidt, Popperfan, hat das Utopieverbot Poppers übernommen: Wer Visionen habe, sollte zum Arzt gehen.

Als Verehrer des Sokrates hätte Popper es besser wissen müssen. Sokrates wollte auch eine politische Utopie, in der die Moral herrschte: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun. Solange es auf Erden skrupellose Gewaltregimes gibt, hätte eine sokratische Volksherrschaft keine Chance. Sie müsste den Versuch unternehmen, das Gesetz internationaler Friedfertigkeit durch eigenes Vorbild zu verstärken. Nur friedliche Nationen werden kleine Völker in ihrer Eigenart akzeptieren.

Wer Poppers Irrtum verstehen will, sollte sich in die Kampfsituation der Engländer gegen das Dritte Reich versetzen. Hitler wollte das 1000-jährige Endreich auf Erden installieren und konnte nur mit äußerster Gewalt von den Alliierten daran gehindert werden.

Das utopie-schmähende Damoklesschwert schwebt heute besonders über jenen Parteien, die als links und reformfreudig gelten. Die CDU hat nichts zu befürchten, mit Biegen und Brechen will sie ihre Macht erhalten.

Der SPIEGEL schreibt über den Parteitag der Grünen:

„Es ist das grüne Heilsversprechen. Der Kampf um die Merkel-Wähler hat begonnen.“ (SPIEGEL.de)

Das ist eine hinterlistige Falle. Keine Partei kann etwas versprechen außer dem Vorsatz, das Maximum ihrer Grundsätze mit aller Kraft in Taten umzusetzen. Niemand weiß, was sie von ihren Vorsätzen realisieren kann. Sie kann nur versprechen, was allein in ihrer Macht liegt. Alles andere ist Kursnehmen auf ein entferntes Ziel. Wie viel sie auf diesem Weg erreichen werden, können sie weder wissen noch versprechen.

Hinterhältiger ist der Begriff Heil. In rationalen Staaten gibt es kein Heil, sondern es herrscht Vernunft.

Auch die FAZ kritisiert die Grünen als utopische Träumer:

„Im grünen Grundsatzprogramm wird die Welt zu einem Ort, wo Diplomat*innen und Kundschafter*innen des guten Gewissens eine sozial-ökologische Globalwirtschaft errichten, in der Ost und West, Nord und Süd Nahrung, Hoffnung und Liebe finden. Das Ganze gipfelt in das Motto „Veränderung schafft Halt“. Das kann man, so überhaupt, besser verstehen, wenn man Philosophie studiert hat oder wenigstens Habecks Roman „Unter dem Gully liegt das Meer“. Die Frage ist: Meinen die das ernst?“ (FAZ.net)

Wer auf suizidale Klimagefahr verweist, in der die Menschheit schwebt, wird mit „Angstmacherei“ und maßloser „Übertreibung“ geschmäht.

Wer auf die notwendige Kehre und utopischen Ziele der Menschheit hinweist, wird als Träumer vom Tisch gefegt.

Welches Schweinderl hätten‘s denn gern, ihr, die ihr alles beobachtet und nie Partei ergreift – nicht mal für eure eigene Zukunft?

 

Fortsetzung folgt.