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Alles hat keine Zeit XLII

Tagesmail vom 16.11.2020

Alles hat keine Zeit XLII,

Notzeiten. Zeiten des Wir.

Erfolgszeiten. Zeiten des Ichs.

Individualismus gilt in guten Zeiten. Die Erfolgreichen müssen sichtbar werden, sich abgrenzen von Fußkranken und Krüppelgewächsen.

Kollektivismus gilt in schlechten Zeiten. Die Verantwortlichen müssen unsichtbar werden: schuldig sind wir alle – nur wenige werden begnadigt, und die wohnen dem Himmel am nächsten.

Zuerst mit Weihnachten gelockt, als bestünde Deutschland nur aus Christen. Nach zwei Wochen schon – in denen keine animalische Kurve abflachen kann – kommt, was von Anfang kommen musste: Großalarm.

Ihr Untertanen habt versagt. Wir haben euch eine Chance gegeben, ihr aber seid undiszipliniert und zügellos. Nun zwingt ihr uns, den Ton zu verschärfen, die eisernen Halskrausen anzuziehen.

Niemand warnt: Vorsicht, alarmistische Staatspädagogik.

„Unser Volk ist schwerfällig und träge. Mit diesen zwei Fehlern hat die Regierung immerfort zu kämpfen. Nur durch unseren Antrieb bringen wir die Masse in Bewegung. Aber sie kommt sofort zum Stillstand, sobald der Antrieb einen Augenblick nachlässt. Man kümmert sich wenig, wie es anderswo hergeht, und erschrickt daher bei allem Neuen. Ich habe meinem Volk nichts als Gutes erwiesen, und doch glaubt es, ich wollte ihm das Messer an die Kehle setzen, sobald es sich um eine zweckmäßige Reform handelt.“ (Ein aufgeklärter preußischer König)

Oh doch, die Deutschen kennen noch etwas anderes als unverdiente Undankbarkeit, sie erfanden das Gegenteil, die unverdiente Dankbarkeit. Je unfähiger die Regierung, desto mehr wird sie auf Händen getragen. Voraussetzung: die Regierung vergibt die Versäumnisse und Fehler Ihrer Untertanen.

Wenn beide Seiten sich regelmäßig vergeben, entsteht eine deutsche Vergebungssymbiose. Deutsche lieben Staatssymbiosen – vorausgesetzt, die Obrigkeiten sorgen für Macht, Wohlstand oder einen guten Ruf in der Welt. Wenn Nationen weltenweit konkurrieren, muss die Obrigkeit dafür sorgen, dass der deutsche Ruf wie Donnerhall in die Welt dringt. Ist es gar eine schwache Frau, die sich unter den Männern behauptet, ist ihr Platz in den Geschichtsbüchern sicher.

Ist es die erste Pandemie in der Geschichte der Völker? Konnte man nicht wissen, wie man sich auf unsichtbare Viren einstellen kann? Gab es keine Erfahrungen seit Jahrtausenden?

Auch die deutsche Regierung ist sich keiner Schuld bewusst? Keine prophylaktischen Maßnahmen auf etwas, was sich ständig ereignen kann? Sie waschen ihre Hände in Unschuld und Unwissenheit.

Die Erfindung der kapitalistischen Staatsmaschine hat alle Schuld getilgt. Es gibt niemanden mehr, der Verantwortung trägt für Maschinen, die sich selbst regulieren:

„Der Kapitalismus ist nicht die Verschwörung kleiner Zirkel von Eliten, sondern vielmehr ein sich anonym vollziehendes Räderwerk, das einmal in Gang gesetzt, keinen Maschinenmeister mehr braucht. Seine Akteure folgen darin einer Rationalität, die die wirtschaftlichen Verhältnisse vorgeben. In Krisenzeiten suchen aber viele hinter der unsichtbaren Hand des Marktes die Hand eines Puppenspielers, der die Marionetten der Ökonomie tanzen lässt.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Wenn organische Wesen zu Maschinen werden, können intelligente Maschinen zu Menschen, Tieren und Pflanzen werden. Ist Natur vollständig mechanisiert, kann sie ersetzt werden durch mechanische Erfindungen des Menschen.

Alles ist Verschwörung, was Verantwortung trägt. Wird jemand – in höheren Etagen – eines flagranten Fehlers beschuldigt, muss der Ankläger Verschwörungstheoretiker sein. Verschwörungstheorie ist zur Erbsünde geworden, um alle Mächtigen zu exkulpieren. Schuldig werden können nur noch Fahrraddiebe und Schwarzfahrer.

Kapitalismus ist eine Maschine, für die niemand verantwortlich ist. Denn niemand kann sie in ihrem berechenbaren Tun steuern. Höchstens Jeff Bezos und andere Milliardäre, die den Dreh heraushaben, die Maschine für ihre privaten Zwecken arbeiten zu lassen.

Kapitalismuskritiker sind allesamt antisemitische Verschwörungstheoretiker, die die Juden für die mächtigsten Profiteure des Kapitalismus halten.

„Die Polarisierung zwischen dem „schaffenden Kapital“ des ehrlichen Arbeiters und dem „raffenden Kapital“ in Handel- und Bankenwesen war ein zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Das Wirken des wurzellosen und ungreifbaren Kapitals erklärten die Faschisten mit der jüdischen Weltverschwörung. Der Historiker Moishe Postone erkennt im mörderischen Antisemitismus der Nazis eine fehlgeleitete Kapitalismuskritik.“

Aufatmen in den Kirchen: Antisemitismus kann nicht urchristlichem Hass auf die jüdischen Gottesmörder entstammen, sondern dem neuzeitlichen Hass auf steinreiche Juden. Nur gut, dass es keine armen Juden in der Geschichte gab, die mangels Knete keine echten Juden sein konnten.

Hitler verbündete sich mit allem, was seine Macht stärken konnte. Hatte er nicht die besten Beziehungen zu steinreichen Ruhrbaronen? Welche Firma war, nach dem Krieg, nicht mit nationalsozialistischem Ungeist infiltriert? Wie hätten die Beauftragten der Vorsehung ihre Waffen herstellen, die Bevölkerung ernähren können ohne kapitalistische Strukturen?

„«Geld ist soviel da, soviel wir wollen. Sie wollen bloß nicht», brüllte mich Gauleiter Forster schon im Jahre 1933 an. Vom Wert des Geldes hatte keiner von diesen Desperados auch nur die blasseste Vorstellung, von Hitler angefangen. Geld! Zunächst war ihnen schon nicht der Unterschied zwischen dem Zahlungsmittel und dem Kapital klar. Sie hatten sich auf Grund der primitiven Ideen ihres Meisters eine Geldtheorie zurechtgelegt, die darauf hinauslief, man könne soviel Geld „schöpfen“, wie man wolle, es gelte nur die Preise festzuhalten. Hitler misstraute jedem, der ihm mit volkswirtschaftlichen Lehren kommen wollte.“ (Rauschning, Gespräche mit Hitler)

Hitler ging es nicht um eine andere Wirtschaftsform – sonst hätte er sich viel mehr um die Theorie der Wirtschaft gekümmert: er wollte die deutsche Wirtschaft so effizient, wie sie damals war, unter seine Fittiche bringen, um sie seinen verbrecherischen Zwecken dienstbar zu machen.

Antisemitismus ist so alt wie das Christentum. Er ist Hass auf die Juden, die keinen Menschen als Gottessohn, keinen Messias anerkennen wollten, der nicht das jüdische Volk mit Macht vom römischen Regiment befreien wollte.

Waren alle Juden, die den Kapitalismus bekämpften, verkappte Antisemiten? Sind alle netanjahu-kritischen Israelis Antisemiten? Hier wird mit allen Mitteln versucht, den Antisemitismus von religiösen Ursachen zu lösen. Da freuen sich die christlichen Kirchen.

Antisemitismus ist eine Sündenbock-, keine Verschwörungstheorie. Verschwörungstheoretiker ernennen anonyme und unbekannteMächte zu Ursachen menschlichen Elends. Die Sündenbocktheorie schiebt bekannten Mächten die Schuld eines Debakels zu. Christen hassen das auserwählte Volk, weil sie selber auserwählte Nationen sein wollen.

„Wie die Juden erst aus der Zerstreuung heraus zu der allumfassenden Weltmacht werden konnten, die sie heute sind, so werden wir heute als das wahre Volk Gottes aus der Zerstreuung in alle Welt zu der allgegenwärtigen Macht werden, zum Herrenvolk der Erde.“ (ebenda)

Der Artikel ist ein groteskes Beispiel für den heutigen Scheinkampf gegen Antisemitismus. Fromme Christen und Juden wollen ihren vorgetäuschten Frieden nicht gefährden, also müssen die religiösen Wurzeln des Antisemitismus geleugnet und anderen Kräften untergeschoben werden. Womit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen wären: die Beseitigung des Antisemitismus wäre zugleich die Beseitigung der Kapitalismuskritik. Da freuen sich Jeff Bezos und all seine Freunde. Sie sind nicht nur reich, sondern stehen auf der rechten Seite der Geschichte.

Wer Kapitalismus in eine Maschine verwandelt, scheint nicht zu bemerken, dass er ein Historizist à la Popper ist: Geschichte ist festgelegt und voraussehbar. Sie verläuft nach berechenbaren, immer gleichen Prinzipien. Das ist der komplette Sieg der Naturwissenschaften über die Geschichte, die vom menschlichen Geist regiert werden sollte, nicht von quantitativen Gesetzen.

Wundern wir uns, dass bei solch williger Untertänigkeit unter Formeln und Zahlen die Menschen keine Energie mehr aufbringen, das Klimaproblem zu lösen? Wenn alles fatalistisch seinen Kurs nimmt, was sollte der Mensch noch unternehmen? Ist er doch selbst nur ein bedeutungsloses kleines Rädchen im Getriebe einer despotischen linearen Geschichte.

Kapitalismus ist nicht nur eine nie zu stoppende Maschine, sondern eine den Menschen wohlgesonnene.

„Jeff Bezos aber hat sich die Spielregeln nicht ausgedacht, mit denen er seine Milliarden scheffelt. Wir alle spielen nach ihnen. Weil wir in diesen Tagen froh sind, die Videotelefonie von Microsoft verwenden zu können. Weil wir Facebook nutzen, um die soziale Distanz zumindest virtuell zu verringern. Und weil wir uns freuen, dass vor den Toren Berlins eine Gigafactory von Tesla entsteht, die tausende Arbeitsplätze schafft. Hat Jeff Bezos heute schon den Welthunger beseitigt? Nein, hat er nicht. Aber Amazon liefert in der Pandemie die Lebensmittel zum Glück an unsere Haustür.“

Das klingt so dreist und abenteuerlich, dass man eine Satire vermutet. Die Kanzlerin ist eine Physikerin. Vielleicht ist politische Geschichte für sie nichts anderes als das Ausrechnen automatischer Gesetze, die kein Mensch beeinflussen kann. Bewundernde Medien nennen diesen Gehorsam sachliche Nüchternheit. Die Corona-Verlangsamung ist bereits zur Friedhofsstille geworden, die jeden Widerstand zur Gotteslästerung erklärt.

Merkels Historizismus fügt sich passgenau in ihre lutherische Zweireiche-Theorie. Das irdische Geschehen ist – mit Erlaubnis des Schöpfers – durch den Teufel festgelegt. Jeder Versuch, die Machenschaften des Gottesknechts zu durchbrechen, wäre Blasphemie gegen Gott.

Alles, was die Heilsgeschichte an Unheil bringt, ist das Werk eines Teufels, der von Gott die Lizenz dazu erhielt. Unheil im Namen Gottes ist religiöser Terrorismus. Während Macron in Frankreich gegen den Terrorismus im Namen Allahs kämpft, ist seine deutsche Kollegin damit beschäftigt, den terroristischen Automatismus ihrer Heilsgeschichte gegen Klimafreunde und Friedensbewegte zu verteidigen.

Selbst Heribert Prantl, inniger Merkelbewunderer, wird stutzig über die friedlose Aufrüstungspolitik der Regierung:

„In den „Politischen Grundsätzen“ der Bundesregierung von 2019 wird dazu ausgeführt, dass es ein übergeordnetes Ziel der staatlichen Rüstungsexportpolitik sei, das Risiko der Weiterverbreitung dieser sogenannten Kleinwaffen und der leichten Waffen zu minimieren. Es wäre schön, wenn es so wäre; es ist aber nicht so. Die genannten Grundsätze können von der Bundesregierung und von den Rüstungsfirmen ohne rechtliches Risiko ignoriert werden. In Wirklichkeit ähnelt das deutsche Konstrukt der Rüstungskontrolle daher nach wie vor einem Schweizer Käse. Der neue „Frankfurter Appell“ bezieht sich ausdrücklich auf den „Krefelder Appell“ gegen den Nato-Doppelbeschluss, der jetzt genau vierzig Jahre alt ist. Diesem Krefelder Appell haben sich damals, im Jahr 1980, fünf Millionen Menschen angeschlossen; er spielte eine wichtige Rolle für die damalige Friedensbewegung. Der Krefelder Appell hatte sich in den frühen achtziger Jahren gegen die Stationierung von neuen atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa gewandt.“ (Sueddeutsche.de)

Nein, Merkel ist keine Freundin des Friedens und der Abrüstung. Teilnahmslos beobachtet sie die kriegerischen Umtriebe in der nächsten Umgebung Europas und lässt das Unheil in Gottes Namen geschehen:

„Man stelle sich vor, in Europa herrscht Krieg und keiner schaut hin. Genau das ist in Bergkarabach geschehen. Vor den Augen des Friedensnobelpreisträgers EU, noch dazu unter deutschem EU-Vorsitz, hat ein Krieg getobt, der nun mit der Verschiebung von Gebietsgrenzen und der Vertreibung Zehntausender Armenier enden dürfte. Dass es so weit kommen konnte, ist ein Armutszeugnis für die europäische und vor allem für die deutsche Außenpolitik. Weder Kanzlerin Angela Merkel noch Außenminister Heiko Maas oder die EU-Verantwortlichen haben sich in den Konflikt eingeschaltet, die viel beschworene „Sprache der Macht“ haben nur Russland und die Türkei gesprochen. Dabei wollte Deutschland doch Führung zeigen und „Weltpolitikfähigkeit“ beweisen. Es ging auch darum, die „europäische Friedensordnung“ zu verteidigen“, schreibt Eric Bonse in der TAZ. (TAZ.de)

Und noch einmal Heribert Prantl, der der Regierung demokratiezerstörende Umtriebe vorwirft:

„Mit meist begründungslosen Verordnungen hat die Verwaltung die Versammlungs- und Religionsfreiheit aufgehoben, die Freizügigkeit abgeschaltet, gewerbliche Tätigkeiten massiv beeinträchtigt, das Recht auf Bildung und Erziehung verdünnt, alte und behinderte Menschen wurden nur noch unzureichend versorgt. Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei all diesen Maßnahmen hat die Exekutive an die Gerichte ausgelagert. Und also wurde verordnet, dass selbst das Sitzen auf einer Parkbank als Gefahrenquelle für das Gesundheitssystem zu gelten habe. Der Deutsche Bundestag hat am 25. März 2020 den Löffel abgegeben. Damals, es ist nun knapp acht Monate her, hat er die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt. Diese Feststellung war richtig, aber die damit verbundene freiwillige Selbstentmachtung war falsch, gefährlich und anhaltend schädlich. Der Bundestag hat sich selbst aus dem politischen Spiel genommen; er hat die Corona-Bekämpfungspolitik pauschal und radikal an die Exekutive übertragen – also an die Bundeskanzlerin, die Ministerpräsidenten, die Minister und die ihnen nachgeordneten Behörden.“ (Sueddeutsche.de)

Prantl begnügt sich mit juristischer Kritik, politische Forderungen stellt er nicht. Den Namen Merkel liest man nur am Rande. Dabei sind Prantls Vorwürfe derart elementar, dass die Regierung auf der Stelle zurücktreten müsste. Deutschland ist keine funktionierende Demokratie mehr. Da wirkt Corona wie ein Gottesgeschenk, um den Untertanen das Denken und Widerstehen auszutreiben.

Was die Regierungen der Welt seit Jahrzehnten versäumen, nennt der Biologe Bob Wallace bei Namen:

„Herr Wallace, seit 1970 sind laut Living Planet Report des WWF 68 Prozent der Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien verschwunden. Was heißt das für uns?

Rob Wallace: Das heißt, wir können einpacken! Diese Zahl kursiert schon seit zehn Jahren. Aber wir tun weiterhin so, als wäre die Natur ein unerschöpflicher Kühlschrank, aus dem wir uns endlos bedienen können. Der Kapitalismus setzt voraus, dass alle Rohstoffe ständig verfügbar sind und es nur darauf ankommt, wie man sie zu Waren machen kann. Es ist die Fortführung des Kolonialismus: Der globale Norden raubt dem globalen Süden alle Rohstoffe und bürdet ihm Folgen dieses ungleichen ökologischen Tauschs auf. Das hat dramatische Folgen. Die offensichtlichste ist der Klimawandel. Aber wir wissen seit einer ganzen Weile, dass aus diesem Raub Pandemien entstehen.“ (derFreitag.de)

Pandemien sind keine Ereignisse aus dem Ohngefähr, sie sind unvermeidliche Folgen der globalen Naturverwüstung. Versteht sich, dass Anhänger der Kapitalismusmaschine keinen Zusammenhang sehen zwischen Profitmaximierung, Naturzerstörung und Pandemien.

Bob Wallace‘ Forderungen sind konsequent und aufrüttelnd:

„Wir müssen die Nahrungsmittelproduktion und die Aneignung von Natur dem Einfluss des Kapitals entziehen. Wir brauchen eine andere Landwirtschaft, die unsere Lebensgrundlagen schützt. Mit Gemeingütern und agrarökologischen Methoden wie etwa der nachhaltigen Intensivierung, die mit moderner Technik, mehr Vielfalt, aber ohne chemische Inputs höhere Erträge bringt und Biodiversität schützt. Wir müssen als lebende und atmende Kreaturen handeln, die abhängig von all dem sind, was schön ist und strahlend.“

Kann man sich vorstellen, solche Worte aus dem Munde der Kanzlerin zu hören?

Wo man hinblickt in Merkels civitas terrena: überall Schlendrian, Regierungsversagen, kraftlose Apathie, Demokratieallergie. Ihr Herr und Heiland würde ihr Verhalten pharisäisch nennen:

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen. Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier!“

Merkel lässt eineplakative gute Tat zu, dann darf sie Grenzen schließen, Flüchtlinge ertrinken lassen, die Welt mit Waffen versorgen, Friedenspolitik negieren, die Welt durch Klimagefahren zugrunderichten.

In Deutschland ist es ein absolutes Tabu, sich über die Charakterstruktur der nationalen Mutter Gedanken zu machen. Da Obrigkeiten von Gott sind, sind sie dem menschlichen Verstand nicht zugänglich. Die Deutschen, sie wollen sich nicht selbst anklagen, wenn sie Merkel anklagen. Denn seit vielen Jahren wird sie von ihnen auf Händen getragen.

Wo ist das Geheimnis dieser verschleierten Gestalt? Robin Alexander versucht eine Antwort:

„Diejenigen, die Angela Merkel in einem geschützten Raum erlebt haben, bei einem privaten Abendessen beispielsweise oder in den kurzen Pausen des Politikbetriebs oder nach langen Verhandlungsnächten, berichten, dass ihr öffentliches Auftreten viele Charaktereigenschaften weitgehend ausblendet: beispielsweise ihren scharfzüngigen Humor oder die Fähigkeit, Kolleginnen und Kollegen grandios zu imitieren. Sie ist klug und witzig und in beidem sehr, sehr schnell. Vergleichbar am ehesten mit Wolfgang Schäuble, der diese Eigenschaften aber weitaus gezielter einsetzt, mit einem leichten Drall in Richtung Arroganz. Die wiederum ist Angela Merkel vollkommen fremd, auch wenn ihre Gegner das Gegenteil immer wieder behaupten mögen. Um ihre Bodenständigkeit zu dokumentieren, gibt es dann halt hin und wieder ein Foto aus dem Ullrich-Supermarkt, auf dem die Kanzlerin einen Einkauf vor sich herschiebt. Nötig hätte sie das nicht, aber das ist Teil ihrer Rolle.“ (WELT.de)

Lebten wir in selbstbewussten Zeiten, wäre Merkel eine fragwürdige Gestalt, eine bigotte Schauspielerin, eine berechnende Heuchlerin. Lebten wir in selbstbewussten Zeiten, sorgten Alexanders Enthüllungen für einen landesweiten Aufschrei – der die Kanzlerin vom Sessel fegen würde. So aber leben wir in dunklen Zeiten, in denen das Verderbliche und Demokratiefeindliche alltäglich geworden ist.

Merkel spielt eine schreiende Doppelrolle. Für die Öffentlichkeit ist sie die gutmütige Mutter, die niemanden angreift, niemandem wehe tut, jedermann das Beste wünscht. Hinter den Kulissen verhöhnt sie ihre Mitmenschen durch grelles Nachäffen und scharfzüngigen Spott.

Solchen Spott fürchten die meisten. Vor allem Männer, die sich cool und unangreifbar geben, ihre Kränkbarkeit aber durch keine Macht verhindern können. Sexualpsychologen sprechen von der Vagina dentata, die den Männern droht, ihnen das beste Stück abzureißen.

Merkel spielt gekonnt die Rolle der ambivalenten Muttergestalt: auf der einen Seite die liebende und erbarmende, auf der anderen die zornige und vernichtende Mutter. Die virtuose Rollenteilung zeigt, dass sie mit Bewusstsein die konträren Mutterseiten trennt.

Die Eingeweihten erleben die Virtuosität ihrer bigotten Schauspielkunst – und erstarren in Furcht, die esoterische Rollenteilung der janusköpfigen Mutter öffentlich anzuprangern. Selbst Alexander, der Enthüller des Geheimnisses, schützt sie vor Angriffen: nein, Arroganz sei ihr fremd, in allem giftigen Klamauk bleibe sie bodenständig. Die Rolle der biederen Einkäuferin im Supermarkt hätte sie gar nicht nötig. Alexanders Dekonstruktion gerät zur Bewunderung auf höherem Niveau.

Trotz hexenhafter Mütter im Märchen kennen die Deutschen vor allem ehrenwerte und einfältige Mütterlein, weshalb sie nicht wissen wollen, was sich hinter den Kulissen abspielt. In gleicher Biederkeit ergeben sie sich dem Augenschein ihrer Sinne. Vermutungen über das Doppelleben der Mutter weisen sie unwirsch von sich.

Merkel kann nicht nur Demut, sie kann auch ganz anders. Das hätte man wissen können, denn sie beherrscht meisterhaft die Kunst, gefährliche RivalInnen aus dem Weg zu räumen. Wie reagiert sie auf scharfe Kritik?

„Schließlich hat sie im Parlament bereits gesagt, was sie von Widerspruch hält, indem sie ihn umgehend in die Nähe von Lüge, Desinformation und Verschwörung gerückt hat.“ (Berliner-Zeitung.de)

Mit welchen Finessen Merkel arbeitet, um einflussreiche Journalisten für sich zu gewinnen, zeigt ein Prozess des TAGESPIEGEL gegen Merkels Geheimnistuerei:

„Das Bundeskanzleramt muss über die bislang geheim gehaltenen Treffen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Journalistinnen und Journalisten umfassend Transparenz herstellen. Das hat das Berliner Verwaltungsgericht nach einer Klage des Tagesspiegels am Freitag entschieden.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Sie scheut sich nicht, zu Methoden subtiler Bestechung zu greifen, um sich eine günstige Presse zu schaffen. Anderswo würde man von Korruption sprechen. Und die deutschen Medien spielen diese demokratiezerstörenden Spiele mit. Ja, sie prahlen mit ihren dubiosen Vertraulichkeiten wie Robin Alexander: „Diejenigen, die Angela Merkel in einem geschützten Raum erlebt haben, bei einem privaten Abendessen beispielsweise oder in den kurzen Pausen des Politikbetriebs …“

Corona gibt Merkel die Gelegenheit, von aller gefährlichen Weltpolitik wie Aufrüstung, Klima, Flüchtlingsfragen, Laizismus, Antisemitismus, China zu abstrahieren und den Eindruck zu vermitteln, Deutschland habe alles im Griff, wenn es durch Distanz und Isolation einen Virus besiegt.

Die Deutschen werden sich hüten, ihre Mutter der Nation als komplette Versagerin zu bezeichnen. Müssten sie sich doch selbst als Versager anklagen. In der Ferne hören wir bereits:

 Oh du fröhliche, Welt ging verloren.

Fortsetzung folgt.