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Alles hat keine Zeit XLI

Tagesmail vom 13.11.2020

Alles hat keine Zeit XLI,

„Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.“ (Rilke)

Da ist er schon, der ernste Hergereiste, geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister und zeigt uns einen neuen Griff:

„Ich bin Virologe und Wissenschaftler. Ich bin kein Politiker.“ (ZEIT.de)

Solange Engel auf die Erde kommen, um uns den Weg zu weisen, solange sind wir nicht verloren:

„Denn ein Engel stieg zu gewissen Zeiten in den Teich hinab und bewegte das Wasser. Wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hineinstieg, der wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch geplagt war.“

Engel sind nicht von dieser Welt. Sie sind Diener der unbefleckten Erkenntnis. Sind sie keine Politiker?

„Unter diesen sehr speziellen Voraussetzungen ist es besonders wichtig, als Wissenschaftler authentisch, also bei sich und erlerntem methodischen Rüstzeug zu bleiben und „keinem Fürsten zu dienen. Keine Wahl hat mich dazu legitimiert, politische Entscheidungen zu treffen. Ich kommuniziere die Fakten und helfe dabei, sie einzuordnen. Nicht mehr und nicht weniger. Im Hinblick auf das Coronavirus habe ich als Wissenschaftler damit zwangsläufig den Job, unangenehme Wahrheiten zu kommunizieren. Das Virus kann ich nicht wegretuschieren. Es ist da. Es wartet auf seine Gelegenheit, und es wird sie nutzen, wenn wir nicht dazwischenschlagen. Es verhandelt nicht und geht keine Kompromisse ein. Aufgabe von uns Virologen ist es, dieser von wissenschaftlichen Erkenntnissen getragenen Wahrheit in der Öffentlichkeit immer wieder Gehör zu verschaffen. Es liegt nun einmal in der Verantwortung des Wissenschaftlers, ein realistisches Bild zu zeichnen und nicht das gewünschte.

In Demokratien gibt es Politikerkasten – was nicht bedeutet, sie besäßen das alleinige Recht zur politischen Tätigkeit. Jeder Demokrat ist zoon politicon. Und ist er‘s nicht, ist er kein Demokrat, sondern Privatmann oder Idiot.

Demokraten werden nicht gewählt, sondern besitzen durch Verfassung und Volkes Willen alle politischen Rechte und Pflichten von Natur aus. Gleichgültig, welche Berufe sie ergreifen: der Beruf zur politischen Verantwortung ist kein arbeits-teiliger, sondern ein ganzheitlicher Beruf. Er hat das Ganze der Polis zu überblicken, zu verstehen und muss für das Ganze Entscheidungen treffen.

Wer sich hinter beruflichen Pflichten versteckt, verrät seine Verantwortung und bleibt ein Diener bloßen Überlebens. Den Erwerb des guten, ja, glücklichen Lebens als gemeinsame Leistung aller Demokraten hat er noch nicht entdeckt.

Sind Wissenschaftler Emissäre einer höheren Welt, die sich losreißen müssen von ihren kristallinen Erkenntnissen, um herniederzusteigen in die unreine Welt der Toren und Kopflosen?

Erlöser von Oben steigen hinab in die Niederungen der Sterblichen:

„Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache.“

Die Weisen und Mächtigen jener Jahre waren die heidnischen Hellenen und Römer. Wenn Menschen einer Demokratie aufgespalten werden in Weise und Törichte, Mächtige und Ohnmächtige, Vornehme und Verachtete, so hat die Demokratie versagt.

Gott spaltet die Menschen, Demokratien nicht. Und wenn doch, sind sie schlechte Demokratien. Moderne Demokratien sind schlecht, sie funktionieren nur durch Spaltung in hochwertige und minderwertige Leistungsträger, in mächtige und ohnmächtige, komplexe und unterkomplexe.

Demokratien vertreten das Prinzip der Gleichheit wie ein Heiligtum. Gleichheit ist nicht clonhafte Gleichförmigkeit, sondern Gleichwertigkeit des Unterschiedlichen und Individuellen. Individuen sind einmalige, nicht identische Wesen, was ihre Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale betrifft, aber vergleichbare Lebewesen, was ihre demokratische Würde angeht. Genau genommen ist alles vergleichbar. Selbst das Unvergleichliche muss verglichen werden, um seine Einmaligkeit ins rechte Licht zu rücken.

Moderne Demokratien sind schlecht, weil sie Gleichheit und Gleichwertigkeit auf den Kopf stellen. Das Gleichwertige zerlegen sie in Ungleichwertiges, Gleichheit wird eingestampft in uniforme Verwechselbarkeit. Die Einen werden bevorzugt, die Anderen benachteiligt. Alle werden eingestampft zu uniformen Konsumenten und kapitalistisch Abhängigen, in Sklaven der Gier, in Anbeter der Macht und Zerstörer der Natur.

Um den Schein der Gleichwertigkeit zu wahren, haben schlechte Demokratien die Methode des Aufstiegs erfunden. Wer seine Kräfte und Begabungen ehrgeizig in den Dienst einer nie zu befriedigenden Wirtschaft und Machtanhäufung stellt, darf sich als etwas Besonderes fühlen. Er ist weder gleich noch gleichwertig, sondern überwertig und unvergleichlich – obgleich seine Unvergleichlichkeit nur erkennbar ist durch Vergleich mit allen anderen.

Diejenigen, die Oben sind, müssen nicht aufsteigen. Per zufälliger Geburt sind sie bereits dort, wohin alle Unteren neidisch aufschauen. Zufällige Geburt entscheidet über die Ungleichwertigkeit der Demokraten. Um diesen Makel zu vertuschen, wurde die Gleichheit der Bildungschancen erfunden. Wer sich fleißig bildet – nicht indem er sich durch Bildung ein unabhängiges Bild von der schlechten Realität macht, sondern indem er die Mächtigen und Aufgestiegenen clonartig imitiert – erhält eine Chance, in den Club der Führenden aufzusteigen. Gelingt es ihm, war er persönlich erfolgreich. Das Prinzip der Gleichwertigkeit aber wird zerstört, denn die vielen Nichtaufgestiegenen verkommen im Morast der Bedeutungslosen. Zurzeit kommt ein Aufgestiegener auf etwa 99 Abgehängte, von Angehörigen der Oberklassen ganz abgesehen.

Wer von unten kommt und aufsteigen will, muss seine Umgebung und seine vertrauten Bezugspersonen verlassen, um in schwindelnder Höhe auf sie runter zu schauen. Aufstieg betoniert die Klassenstruktur einer ungerechten Gesellschaft, er verändert sie nicht. Er wechselt einige Individuen aus, doch die Klüfte und Unterschiede der Klassen bleiben, wie sie sind.

Gleiche Bildungschancen sind keine Gleichheiten. Sie wollen unterschiedliche Klassen einer Gesellschaft, die ungerecht bleiben soll. Nur wenige Mitglieder der Gesellschaft sollen ausgetauscht werden.

Bildungschancen sind verfälscht worden in Wissens- und Machtchancen. Bildung wurde zu Wissen, Wissen zu Macht. Das ist das Gegenteil zur ursprünglichen Bildung der Griechen, deren „Ziel die Klarheit im Denken und Reden und die Entschlossenheit und Tatkraft im Handeln“ war.

Mit anderen Worten: Bildung war Einübung in selbstbestimmtes Denken und in demokratisches Handeln. Wer sich heute mit diesem Bildungsbegriff einen Job suchen wollte, könnte sich gleich beim Hartz-4-Schalter anstellen. Unabhängige Denker und politisch Engagierte sind für Mächtige wie Stachel- und Giftgewächse. Anpassung ist die Grundforderung jedes Erfolgreichen. Unangepasstes Verhalten nennt man neurotisch-krankhaftes Verhalten. Dressur durch unsichtbare, allgegenwärtige Konditionierungsakte ist der Kern heutiger Bildung.

Nicht Gleichheit ist der Kernpunkt heutiger Bildung, sondern Wettbewerb in Leistung, Ehrgeiz und Anpassung. Menschen sind unterschiedlich in Begabungen und Strebsamkeit, ihre unterschiedlichen Talente aber sind nicht das Ergebnis ihrer Leistungen, sondern das Geschenk ihrer zufälligen Eltern. Grund ihrer Leistungsfähigkeit ist nicht – ihre Leistungsfähigkeit, sondern die Gnade des Zufalls. Gnade und Zufall sind das Gegenteil der Gleichheit.

Gleichwertigkeit kann durch zufällige Leistungsfähigkeit weder über- noch unterboten werden. Denn Gleichheit ist unantastbarer Anfang und festgelegtes Ziel jedes menschlichen Lebens, durch keinen Wettbewerb zu überbieten oder zu verfehlen.

Eine konkurrenzbestimmte Aufstiegsgesellschaft ist keine Demokratie, sondern eine Meritokratie. (Leistungs- oder Verdienstherrschaft)

Wo ist der Wissenschaftler einzuordnen, der Wert darauf legt, kein politisches Wesen zu sein? Will er keine Macht? Ist er einem selbstlosen Erkenntnistrieb verfallen?

Hier charakterisiert er sich selbst:

„Neugier auf etwas Neues, Unbekanntes und vielleicht sogar Unbequemes. Das finde ich reizvoll, auch weil Neugier genau das ist, was mich und andere Forscher ohnehin seit jeher umtreibt. Als Forscher mit naturwissenschaftlich-rationalem Fokus bin ich fasziniert davon, die Natur zu verstehen und ihre Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten zu durchdringen. Mein Interesse ist auf den Gewinn valider wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichtet. Ich möchte anhand von Experimenten, Beobachtungen und Studien zu Schlussfolgerungen kommen, die durch jeden nachprüfbar sind. Ich verfolge in meiner Arbeit keine politischen Absichten. Auch als Forscher und Wissenschaftler will ich frei und unabhängig arbeiten können. Alles andere wäre für mich mit den Grundvoraussetzungen für wissenschaftliche Forschung schlicht nicht vereinbar. Wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht davon abhängig sein, wer sie zutage fördert, in Auftrag gibt oder am Ende bezahlt. Sie gilt universell und steht jedem zur Verfügung. Damit ist also auch der Forscher eine Art Weltbürger im Schillerschen Sinne, der keinem Fürsten, sondern der Erkenntnis dient.“

Die Selbstbeschreibung ist reinste Überheblichkeit über das niedrige Volk, eine kaum zu überbietende Selbstidolisierung. Neugieriges Erkennen um des Erkennens willen – oder Staunen – war der Antrieb der Griechen, die Menschen und Natur wahrnehmen wollten. Sie verehrten den Kosmos, indem sie seine Gesetze und Strukturen durchschauen wollten. Die Weisheit dessen, was sie erkannten, ließ sie in hymnische Verehrung fallen. Die mütterliche Natur war Alpha und Omega ihrer Weltbewunderung, eine Haltung, die wir nicht mehr kennen.

Jugendliche haben noch Ahnungen in Naturbewunderung. Doch kaum, dass sie sich entschlössen, den Ahnungen zu folgen und Naturwissenschaften zu studieren, verflöge die Reinheit ihrer Naturverehrung. Durch fremdbestimmte Leistungen müssten sie nachweisen, dass sie zum Studium geeignet wären. Lob und Tadel der Menschen würde ihr autonomes Staunen in Gehorsam verwandeln, den Pfaden ihrer Brahmanen zu folgen. Nur wenige erlebten das Glück, ihren eigensinnigen Vorstellungen zu folgen und den Applaus ihrer Zeitgenossen zu erhalten.

Absurd ist die Vorstellung, wissenschaftliches Forschen habe heute keine politischen Absichten, sei von allem unabhängig und diene keinem Fürsten. Wiederum zeigt sich, dass Wissenschaftler nicht daran denken, die Geschichte ihrer Wissenschaften zu studieren. Schon Popper beklagte die Ignoranz seiner Kollegen in Wissenschaftstheorie. Die jungen Wissenschaftler steigen ein in den laufenden Prozess, lernen schnell die Kniffe der Autoritäten, doch über die Berechtigung dieser Kniffe machen sie sich selten Gedanken. Das überlassen sie Außenseitern ihrer Disziplin. Sie wollen schnelle Erfolge und schielen begierig nach den Nobelpreisen. Für philosophische Wissenschaftstheorie gibt es keinen Nobelpreis.

Würden sie nur das kleinste Büchlein über die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens durchblättern, erführen sie schnell, dass die Griechen ihre Naturphilosophie einstellten, als sie merkten: ohne experimentelle Naturbeschädigungen kämen sie nicht weiter. Die Griechen waren die Einzigen, die Drostens Forderungen nach Unabhängigkeit erfüllten.

Als sich die Christen der Reste des griechischen Staunens bemächtigt hatten, war es mit Unabhängigkeit vorbei. Ohnehin gab es anfänglich große Widerstände, der „Weisheit der Welt“ als Torheit Gottes zu folgen. Denn die Weisheit der Welt würde durch die Torheit Gottes zuschanden werden. Wissenschaft wurde soli deo gloria betrieben, um die Weisheit des Schöpfers und die Überlegenheit des christlichen Glaubens furchterregend zu demonstrieren. Maschinen waren die praktischen Umsetzungen ihrer Naturerkenntnisse.

Ab Francis Bacon hatten die Wissenschaften nichts anderes zu tun, als die Welt zu erobern und – gemäß der biblischen Prophetie – die alte Natur aus dem Weg zu räumen, um eine nagelneue aus Nichts zu erfinden. Wissenschaft wurde zur technischen und weltpolitischen Theologie oder zur Wissenschaftsreligion:

„Wissenschaftsreligion ist der Fortschrittsglaube, der heute die Welt beherrscht und überall Hoffnungen und unmäßige Erwartungen weckt. Wissenschaft, die einst ihre Freiheit in Kämpfen gegen die kirchliche Autoritär errang, ist heute selber eine unfehlbare Autorität, der man „dient“ und „Opfer bringt“, die ihre Jünger und Propheten, ihre Häresien und Glaubenskriege kennt. Diese Wissenschaft übernahm den Missionsgedanken, ja die Erlösungsidee eines Christentums, dessen kirchlicher Bindung und dessen Offenbarungswahrheit sie sich entzog, bis sie selbst als OFFENBARUNG auftrat.“ (Wagner)

Wissenschaft muss falsifizierbar sein, sonst ist sie keine, kann Popper nicht oft genug wiederholen. Gerade die Widerlegbarkeit aber führte zur neuen Unfehlbarkeit. Widerlegungen gehören zum Forschungsalltag. Doch es wäre ein Trug, die Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts als Geschichte der Widerlegungen zu beschreiben. Nein, ständig schreitet der Erkenntnisprozess voran und ist bereits in die Tiefen des Universums und an den Anfang der Naturwerdung vorgedrungen. Die Naturwissenschaften haben sich zu einem jenseitigen Reich der Erkenntnis zusammengefunden, das mit dem Reich der Natur auf Erden nichts mehr gemein hat. Die Forscher wurden zu neuen Priestern, die über die paradiesischen Folgen ihrer Fakultät nicht ekstatisch genug jauchzen – und über die höllischen Folgen ihrer Erkenntnisse nicht panisch genug verstummen können.

Zweifellos gibt es nützliche Aspekte des Fortschritts. Im Abwägen der Vorteile aber mit den schädlichen Folgewirkungen wurde das Schädliche zur furchterregenden Tatsache, dass der Mensch sich selbst auslöschen und die Natur in eine Wüste verwandeln kann.

Seit ihren europäischen Anfängen befindet sich die Wissenschaft in den Fängen der Mächtigen, früher der Könige, Kaiser und Päpste, heute der Monopole und kriegslüsternen Staaten, die den Wettlauf der Geschichte gewinnen wollen.

Längst vorbei sind jene Zeiten, in denen einsame Genies mit Bleistift und Papier ungeheure Dinge notierten, um die Welt zu beeindrucken. Längst sind sie auf riesige Gelder und Maschinen angewiesen, mit denen sie der Natur ins Herz kriechen und den Menschen manipulierbar machen können.

Warum gibt es Exzellenz-Unis, die besonders viele Gelder einstreichen, wenn nicht zur Ehre des eigenen Landes? Die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Corona ist ein Wettlauf aller reichen Länder, nicht nur zur Ehre des eigenen Landes, sondern um sich first of all die nötigen Impf-Kapazitäten unter den Nagel zu reißen.

Der Fortschritt der Wissenschaften ist ein Wettbewerb der Nationen, um der eigenen Eitelkeit und Macht zu dienen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war es der amerikanische Präsident Eisenhower, der vor den Wissenschaften im Dienst des militärisch-technischen Komplexes warnte.

Damals waren die Ergebnisse der Forschungen – mit Ausnahme der Atom- und Weltraumforschung – noch jedem zugänglich. Inzwischen muss man mit der Lupe nach freien Forschungserkenntnissen suchen.

Ohne Geld läuft nichts. Wer nicht die genialsten Forscher einkaufen, die besten Forschungsprojekte finanzieren kann, muss sich aus dem Staube machen.

Drosten lebt in einem szientiven Märchenreich, das mit der Realität nichts zu tun hat. Als vor 30 bis 40 Jahren die Ökobewegung begann, gab es eine stupende Kritik an der Wissenschaft, die zur machtgierigen Ersatztheologie geworden war. Mit dem Untergang dieser erstaunlichen Phase begann auch der Untergang der selbstkritischen Erforschung der Wissenschaft.

Die Medien, in vollem Triumph gegen Impfgegner und Homöopathen, verteidigen die Wissenschaften wie der Klerus die Gebeine der Heiligen.

Bei Drosten entlarven sich die Ähnlichkeiten zwischen Wissenschaft und Medien: sie beschreiben, was ist. Doch über die Frage, was aus dem Ist werden soll, schweigen sie. Sie sind uninteressierte Beobachter um des theoretischen Beobachtens willen. Dass das wissenschaftliche Ist danach schreit, in Macht umgesetzt zu werden, nicht anders als das Ist in der Politik, das haben beide Beobachtergruppen noch nicht bemerkt.

„Ich bin ausschließlich den Fakten verpflichtet – dem wissenschaftlichen Experiment, meinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Was zählt, ist mein eigener Verstand, der kollegiale Austausch, das beständige Ringen um belastbaren Erkenntnisfortschritt. Dabei muss ich mich jederzeit der harten wissenschaftlichen Debatte über meine Arbeit stellen. Diese Art zu arbeiten macht mich als Forscher unabhängig von möglichen Erwartungen und Interessen Dritter.“

In Laboren sind diese Beschreibungen richtig. Doch die Labore dieser Welt sind längst zu Brutstätten nationaler Wettbewerbe geworden. Wissenschaftliche Erfindungen und Entdeckungen sind Staatsgeheinisse geworden, die nicht scharf genug abgeschirmt werden können. Wie Corona im Labor funktioniert, ist das Eine, wie er im öffentlichen Leben zuschlägt, ist das Andere, mit welchen Methoden er in die Knie gezwungen werden kann, ist das Dritte.

Natürlich können Wissenschaften streiten. Was sie aber nicht können, ist: ihre Ergebnisse in klerikalem Ton verkünden und ihre Korrekturen unter den Tisch fallen lassen. Sie betreiben eben keine Aufklärungsarbeit, sondern brillieren in gottähnlicher Unfehlbarkeit über Zahlen und Kurven.

Vom Doppelcharakter der Medizin wissen sie nichts: sie pendelt zwischen allgemeinen Naturgesetzen und der Einsicht in die Besonderheiten des Einzelnen. Nicht jeder wird von Corona in gleichem Maße getroffen.

Die Medizin hat die psycho-somatische Eigenartigkeit des Menschen verdrängt. Was bei dem Einen ankommt, kommt noch lange nicht beim Andern an. Warum? Weil der Mensch ein generelles Naturwesen mit individuellem Geist ist. Geist ist auch Natur, aber eine individuell gewordene Natur, die sich in der Einzigartigkeit des Einzelnen ver-körpert und ver-geistigt. Was Jupiter gemäß ist, ist noch lange nicht dem Ochsen gemäß. Die Wunderpille hilft dem Einen, der Andere guckt in die Röhre.

Im Streit um Homöopathie wird von Somatikern immer betont, diverse Heilerfolge der Naturheiler seien nichts als Placebo-Wirkungen. Doch genau diesen Effekt gibt es auch in der normalen Medizin. Wer kein Vertrauen in die Wissenschaft, seinen Arzt, seine verschriebenen Pillen aufbringt, der hat keine Chancen. Der Placebo-Effekt – auch Thomas-Theorem genannt – ist das wirkmächtigste Instrument der Menschen im Kampf ums Dasein. In der Sozialpsychologie ist das Thomas-Theorem unbestritten, in der geistvergessenen Medizin wird es diskreditiert:

„Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“

Der Virologe vergleicht sich mit Schiller:

„Was fangen wir mit all der Freiheit an, die wir so sehr schätzen? Bei der Antwort auf diese Fragen scheint mir Schiller besondere Aktualität zu haben. Für ihn war klar, dass persönliche Freiheit nicht losgelöst von der Gesellschaft gelingen kann. Schiller war bereit, auch seinen Mitmenschen Freiheit zuzugestehen. Damit die Freiheit aller geschaffen und erhalten werden kann, ist es wiederum notwendig, dass die Menschen füreinander einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen. Umso besser das klappt, umso weniger bedarf es auch Eingriffen von oben. Schiller ist ein überzeugter Kämpfer für die Freiheit. Sein Anliegen ist es, das Freiheitsvermögen und Freiheitsbewusstsein des einzelnen Menschen und der Gesellschaft insgesamt zu stärken. Sich selbst bezeichnet er dabei als „Weltbürger, der keinem Fürsten dient“.“

Tatsächlich: Schiller war ein Freiheitskämpfer. Aber welche Freiheit meinte er, mit welchen Mitteln kämpfte er?

Von der Französischen Revolution, die er anfänglich begeistert begrüßte, wandte er sich ab, weil sie in terroristischen Untaten verendete. Löblich. Doch die Abkehr schüttete das Kind mit dem Bade aus. Schiller, gefangen vom unpolitischen Geist der Deutschen, entwarf keine humane Politik, sondern – gar keine. Er verlegte die Freiheit auf die Bühne und verwandelte sie in innere Freiheit. Ist das Innerliche nicht vom Äußerlichen, innere Freiheit nicht von äußerer Freiheit abhängig? Diese Abwendung von den harten Machtfragen, diese Ästhetisierung der Politik in Theater war der Untergang der deutschen Emanzipation. Kunst maßte sich an, Politik durch Theater zu ersetzen, weshalb hysterische Künstler sich bis heute als die wahren Menschenerzieher und Politiker präsentieren. Je verrückter und aufgeblasener, umso freier. Bloße innere Freiheit ist Beten vor Gott, aber keine demokratische Freiheit:

„Wenn die Idee der Revolution in der gewaltsamen Herstellung neuer Verhältnisse bestand, aus denen neue Menschen hervorgehen würden, war die Idee der deutschen Klassik die umgekehrte: die Erziehung neuer Menschen auf rein innerlichem Wege, die organisch zu einer neuen, humaneren Gesellschaft führen werde. Als in Frankreich mit den realsten, brutalsten und inhumansten Mitteln um eine neue Gesellschaft gerungen wurde – wobei die Köpfe flogen –, entstand in Deutschlands stillem Kämmerlein die ideale Kunstphilosophie, in der die Kunst als Höhepunkt der Humanität erschien.“ (H A. Korff, Geist der Goethezeit)

Was wurde aus Schillers Freiheit? Kasperle-Politik auf Theaterbrettern, Hitlers Verbrecherpolitik als Folgen des bewunderten Wagner und – die heutige, geradezu beschämende Kunstverachtung in Coronazeiten. Kunst geschlossen, Freiheit gestrichen.

Schiller war ein großartiger Kämpfer, doch den Kampf um die Freiheit verlor er, weil sein großer Freund Goethe ein Fürstenknecht blieb. Drosten kämpft um Freiheit und Selbstbestimmung, doch vor einem unfehlbaren Staat geht er in die Knie.

„Damit die Freiheit aller erhalten werden kann, ist es notwendig, dass die Menschen füreinander einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen. Umso besser das klappt, umso weniger bedarf es auch Eingriffen von oben.“

Kein kritisches Wörtchen zum Tohuwabohu der Regierung. Alles wird dem Untertanen aufgebürdet, der perfekt sein muss, damit der unfehlbare Staat nicht belästigt wird.

Für Merkel war Drosten der erste wissenschaftliche Prophet, den sie für ihre Zwecke instrumentalisierte. Nachdem er ins Fadenkreuz des Shitstorms geriet, stand plötzlich ein Nachfolger da. Keine Frage, keine Erklärung. War Drosten zu wichtig geworden? Merkel duldet keine Konkurrenz ihrer wirkmächtigen Demut.

Aus reiner Erkenntnishöhe schwebte ein Wissenschaftler herab in die Niederungen des tumben Pöbels und offenbarte ihm das Geheimnis der Schiller‘schen Freiheit. Und siehe, die Freiheit entpuppte sich als Freiheit brüllender Schauspieler auf windstiller Bühne.

Tut freiwillig das Rechte, bevor der Staat euch dazu zwingt, predigte der ernste Hergereiste. Statt auf Schiller, den er nicht verstand, hätte er sich auf Merkels Hauptpropheten berufen müssen. Dessen Freiheitsbegriff war unmissverständlich:

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“

Fortsetzung folgt.