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Alles hat keine Zeit XCVIII

Tagesmail vom 31.03.2021

Alles hat keine Zeit XCVIII,

Karfreitag steht vor der Tür. Der passende Augenblick, um die Frage zu stellen: Ist Antisemitismus heilbar?

Broders Antworten sollen eindeutiger klingen, als ihre Formulierungen hergeben:

„Das Phänomen ist wie eine Krankheit, es ist nicht rational zu erklären. Und gibt es eine Vorbeugung, etwa durch politische Bildung? Nein, es ist nicht therapierbar. „Der Antisemitismus gehört zur abendländischen Kultur wie der Glaube an den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, er ist Teil und Erbe der christlichen Tradition.“ (Weser-Kurier.de)

In seinem Buch „Der ewige Antisemit“ schreibt Broder:

„Der Antisemitismus gehört zur abendländischen Kultur wie der Glaube an den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, er ist Teil und Erbe der christlichen Tradition. „Der Antisemitismus ist das Problem der Antisemiten.“

Es gibt heilbare und unheilbare Krankheiten. Die meisten Krankheiten sind heilbar. Sind sie heilbar, sind sie auch rational zu erklären. Die ratio der Menschen wäre fähig, die Ursachen der Krankheit zu ergründen und therapeutische Mittel zu ihrer Heilung zu entwickeln. Wäre Antisemitismus eine heilbare Krankheit, wäre sie durch rationale Mittel – oder Aufklärung – therapierbar.

Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse klingt nach angeborener Erbsünde der Christen, die nur durch Gottes Gnade, nicht aus eigener Kraft überwunden werden kann. Das Christentum ist keine Angelegenheit der Ewigkeit. Es ist „in der Mitte der Zeit“ entstanden. Heilszeit hat Anfang und Ende und ist das Gegenteil heidnischer Ewigkeit. In welche Rubrik also gehört Antisemitismus: ist er ewig oder in der Zeit entstanden?

Wäre Antisemitismus ewig, widerspräche das seiner Entstehung in der Zeit der Erfindung des Christentums mitten im Judentum. Es widerspräche auch der historisch belegbaren Tatsache, dass es Antisemitismus schon vor der Entstehung des Christentums gegeben hat. Die heiden-abweisende Arroganz der Juden, als einziges Volk der Welt die auserwählten Kinder Gottes zu sein, habe zur Reaktion der Griechen und Römer geführt, den Juden einen Hass auf das Menschengeschlecht zu bescheinigen (odium generis humani).

Hiermit hätten wir zwei Ausprägungen des Antisemitismus:

a) die vorchristliche Reaktion der Griechen und Römer gegen die hochmütige jüdische Erwählungslehre und

b) den urchristlichen Hass gegen die angeblich jüdischen Christusmörder.

Die erste Form begnügte sich mit literarischen Polemiken der Intellektuellen, änderte aber nichts an der grundlegenden Toleranz der Römer gegen alle Religionen – mit Ausnahme jener, die sich staatsfeindlich gebärdeten. Das Judentum war im Römischen Reich gar eine „religio licita“, eine Religion mit gewissen Privilegien.

Erst der Hass der Christen gegen die Juden führte zu ihrer permanenten Diskriminierung und gewalttätigen Verfolgung – ab jener Zeit, in der das Christentum die Staatsgewalt für sich erobert hatte. Systematisch seit dem mittelalterlichen Beginn des Abendlandes.

Nationalsozialismus war der schreckliche Höhepunkt dieser Entwicklung. Alle christlichen Nationen Europas, Russland inbegriffen, empfanden sich als auserwählt. Also begann der militante Wettbewerb um die wahre auserwählte Nation. Die Deutschen fühlten sich als die auserwählteste Nation unter allen auserwählten. Das mussten sie sich und der Welt beweisen durch vollständige Eliminierung des historischen Originals.

Im heutigen Streit um Antisemitismus wird seine religiöse Wurzel tabuisiert. Die christlichen Kirchen wollen ihr verhängnisvolles, mehr als 1000-jähriges Erbe verdrängen. Das Judentum seinerseits sucht heute Verbindung mit den christlichen Kirchen, um Hand in Hand mit ihren ehemaligen Todfeinden das Feindbild des Islams zu bekämpfen. Zudem wird unter den Teppich gekehrt, dass Juden in früheren Zeiten vor christlichen Pogromen regelmäßig in mohammedanische Länder flohen. Dort lebten sie zwar nicht in gleichberechtigten, aber sicheren Verhältnissen und wurden als Bruderreligion anerkannt.

Nach Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft entwickelte sich das Judentum aus einer religiösen Königsherrschaft zu einem Volk des Gesetzes – unter der Ägide der Priester. Es entstand eine Theokratie unter strenger Beachtung göttlicher Gebote.

Genau hier – so Norman Cohn – spaltete sich das Judentum in zwei rivalisierende Strömungen. Die eine Strömung fasste ihre Auserwählung als Verpflichtung auf, „allen Menschen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit widerfahren zu lassen, die Heiden zu erleuchten und Gottes Erlösung bis an die Enden der Welt zu tragen.“ (Die Sehnsucht nach dem Millennium)

Die andere definierte ihre Auserwählung als politische Überlegenheit über alle Völker und als zukünftige Siegerin der Heilsgeschichte. „Aus der Gewissheit, das auserwählte Volk zu sein, neigten die Juden dazu, Bedrohung, Unterdrückung und Knechtschaft mit Phantasien zu beantworten, die den endgültigen Triumph und ein grenzenloses Wohlleben versprachen, das Jahwe, wenn die Zeit erfüllet ward, seinen Erwählten bereiten würde.“ (ebenda)

Am Ende der Geschichte, nach langen Martyrien unter feindlichen Mächten, werden sich die Heiligen Gottes erheben und als auserwähltes Volk die Herrschaft über die Erde antreten. „Sämtliche Völker, die je über Israel herrschten, werden dem Schwert verfallen, während Angehörige der übrigen Völker Israel dienen werden.“

Das irdische Leben der Auserwählten besteht nicht aus reinem Sonnenschein. Oft müssen sie Pein und Verfolgung erleiden, denn wen Gott liebt, den züchtigt er. Ihre Drangsale empfanden die Kinder Gottes als Beweis ihrer Besonderheit, die sie in Demut hinnehmen mussten, um sie dereinst in finalen Triumph zu verwandeln. In der Offenbarung des Johannes verschmolzen jüdische und christliche Endzeitvisionen zur Einheit. Was nicht bedeutet, dass beide Religionen eine siegreiche Einheit bildeten. Alle drei Erlösungsreligionen verharren bis zum letzten irdischen Augenblick in unversöhnlicher Konkurrenz.

Wen wundert es, dass die drei Religionen sich in der Welt durch Arroganz und Überlegenheitsanspruch nicht sonderlich beliebt machten? Selbst Amerika kann es nicht lassen, seine einst vorbildliche Demokratie mit militanten Missionierungs- und Beglückungszwecken zu verunreinigen. Moralisch besser sein, ist kein Grund, andre zur Imitation der eigenen Vortrefflichkeit zu zwingen. Vortrefflichkeit ist friedensstiftende Empathie mit allen Völkern dieser Welt.

Die Globalisierungspolitik des Westens ist keine humane Universalisierung, sondern technische und wirtschaftliche Konkurrenz, um die Überlegenheit der eigenen Nation zu beweisen. Konkurrenz ist Krieg mit nicht-kriegerischen Mitteln. Auch der Neoliberalismus ist nichts als eine gerecht kaschierte Weise der Übertölpelung anderer Nationen, um die Lorbeeren der Geschichte dereinst zu kassieren.

Warum gibt es immer wieder Hader um den Antisemitismus? Weil er mit verschiedenen Problemen verbunden ist, die zusammen einen undurchschaubaren Wust bilden. Susan Neiman ist nicht nur eine scharfsinnige, sondern furchtlose Denkerin „jüdischer Herkunft.“ Solche Umschreibungen der Deutschen, die nicht einfach von Juden oder Jüdinnen reden können, werden von ihr verspottet. Sie vergreift sich an den heiligten Tabus der Debatte.

„In Eichmann in Jerusalem legt Hannah Arendt dar, dass Eichmann wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätte verurteilt werden sollen und nicht – wie es in der Anklageschrift hieß – wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk. Der Mord an Millionen von Juden ist nicht allein ein Verbrechen an einem bestimmten Stamm, sondern an der Idee der Menschlichkeit. Das Verbrechen, das wir Holocaust nennen – der Versuch, einen Teil der Menschheit auszulöschen, schlicht, weil es einem bestimmten Stamm angehört – war ein Angriff auf die Idee der Menschheit selbst, was ein Grund dafür ist, warum ein so großer Teil der Menschheit, ob jüdisch oder nicht, darin den Inbegriff des Bösen sieht. Das Töten unbewaffneter Menschen ist immer ein Verbrechen an der Menschheit. Dies ist eine universelle Haltung.“ (Neiman, Von den Deutschen lernen)

Jeder Vergleich des Holocaust mit anderen Menschheitsverbrechen wird hierzulande als Relativierung, ja als antisemitische Aggression niedergemacht. Hören wir die ketzerische Neiman:

„Die Konzentration auf Auschwitz verzerrt unsere moralische Sicht. Die Konzentration auf Auschwitz ist eine Form der Verschiebung für das, was wir über andere nationale Verbrechen nicht wissen wollen. Durch Sklaverei sind mehr Menschen gestorben, als in Auschwitz ermordet worden sind. Solche Beispiele zeigen, wie närrisch es ist, in eine Olympiade des Leidens einzutreten. Abgesehen von der Tatsache, dass Leidenswettbewerbe der Seele schaden, fehlt es uns an Mitteln, eine Skala des Bösen aufzustellen. Aus politischen Gründen ein Verbrechen gegen ein anders abzuwägen ist moralisch unannehmbar. Sowohl der Holocaust als auch die Sklaverei und ihre Folgen sind böse.“ (ebenda)

Warum sind diese Problementwirrungen so wichtig? In der Schule lernen die Deutschen die universellen Menschen- und Völkerrechte. Wer aber Israel kritisiert, dem wird vorgehalten, er trete nicht für Menschenrechte ein, sondern sei ein verkappter Antisemit. Das sorgt für kollektive Unklarheit und verwirrt die meisten, die ihren Unmut wem aufbürden? Natürlich den Juden, die an allem schuld sind. Weshalb es bitter nötig wäre, den Knäuel zu entwirren, um das Problem Antisemitismus so transparent wie möglich zu machen.

Bis vor kurzem war der Status der Menschenrechte unantastbar. Woher kommt der religiöse Rechtsruck der Völker, beginnend mit dem der USA unter Dabbelju Bush? Er kommt von der Abwendung führender Intellektueller vom Universalismus: zurück zum uralten Partikularismus der Religionen.

In den USA waren es jüdische Neocons, die sich mit christlichen Fundamentalisten verbündeten, um das westliche Flaggschiff der Demokratie in eine erlösungs-egoistische „America-first-Nation“ zu verwandeln. Jüdischer und christlicher Heilsegoismus verbanden sich, um der Nation die universelle Solidarität zu rauben und an ihre Stelle einen theokratischen Autismus zu setzen.

„Kristol zufolge hängen die neue positive Einstellung der Juden zu ihrer eigenen Identität und das erstarkte Selbstbewusstsein im Gemeinwesen mit einer Abwendung vom „universalistischen säkularen Humanismus zusammen. Die Juden werden jüdischer, aber sie scheinen merkwürdigerweise auch zu wünschen, dass die Christen „christlicher“ werden. Tatsächlich sei diese Wende zur höheren Bewertung der Religion als Reaktion auf eine tiefgreifende moralische und spirituelle Krise zu verstehen, die die gesamte liberale Mentalität erfasst habe. Die Neocons bestehen darauf, dass Politik und Recht abgestützt werden durch jenseitige Werte. Die Autorität religiöser Symbole sollte das öffentliche Leben stärken. Säkulare Legitimationen zur Orientierung des Gemeinwesens seien unzulänglich.“ (Gott und Politik in den USA, herausgegeben von Kodalle)

Wenn Christen wieder christlicher, Juden jüdischer werden, steigt die Gefahr, dass der „heidnische“ Universalismus nicht länger die Weltpolitik bestimmt, die UN-Charta geschwächt, die Zusammenarbeit gleichberechtigter Völker demoliert wird.

Fundamentalistische Christen und Juden fanden sich zusammen, um den universellen Kurs der amerikanischen Außenpolitik zu unterlaufen und jede Nation auf ihren berechtigten Egoismus zu verweisen. Es war kein Widerspruch, dass amerikanische Egoisten sich mit jüdischen Egoisten verbanden, um den schweren Tanker USA von seiner blauäugigen Menschheitstour abzubringen. Die Christen hofften, dass die religiösen Juden in Israel sich durchsetzen und alles tun werden, um die Pforten des Goldenen Jerusalem für den Messias zu öffnen. Kurz vor der Wiederkehr des Herrn würden die Juden zum Christentum konvertieren, um dem Herrn den Einzug in die Goldene Stadt zu ermöglichen. Die angeblich guten Beziehungen zwischen christlichen und jüdischen Eschatologen beruhen auf einem Kuhhandel: Juden, wenn ihr Christen werdet, beteiligen wir euch am Siegeszug unseres Herrn.

Jetzt die verhängnisvolle Frage: wenn die Juden keine Christen werden wollen, was dann?

Dann wird es zu einem verhängnisvollen antisemitischen Sturm in Amerika kommen. Enttäuschte christliche Apokalyptiker werden das Ausbleiben des Herrn den Juden in die Schuhe schieben. Alle Klischees des Antisemitismus werden dann aus der Mottenkiste geholt und den Glaubensverrätern unter die Weste gejubelt.

Warum redet heute niemand mehr über die jüdischen Aufklärer in Deutschland? Weil sie um der universellen Vernunft willen den jüdischen Heilsegoismus ad acta legten:

„Indem sich die Juden auf die Seite der Aufklärung und des säkularen Humanismus schlugen, entschieden sie sich gegen die Werte der eigenen Tradition.“ (ebenda)

Mit anderen Worten: jüdische Aufklärer, die sich der Vernunft verpflichtet fühlen, gelten als Verräter der jüdischen Religion. In Abwendung von Kant, argumentierten die deutschen Romantiker nicht anders. Ab Herder wurde das Besondere jeder Nation betont, das Spezifische und Unvergleichliche. Das Individuelle war nicht das Einmalige, das jedem anderen Individuellen gleichwertig war. Es war das Einmalige, das durch Gottes auserwählenden Blick die Einmaligkeit der Nicht-Erwählten zerstörte.

„Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus will eine neue Definition des Antisemitismus. Weg von ihrer Instrumentalisierung zur Verhinderung der Kritik an israelischen Menschenrechtsverletzungen.

„In Deutschland, vielleicht mehr als in einer anderen Nation, ist man darauf konditioniert, hinter Israelkritik, egal wie nuanciert und durch Fakten belegt, eine finstere politische Agenda zu vermuten. Die JDA will einen Raum für Diskussionen auch schwierigster Themen schaffen, einschließlich der heiklen Frage, wie die politische Zukunft für alle Bewohner Israels und Palästinas aussieht. „Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind“ – das ist nach der JDA nicht antisemitisch. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, israelische Diskriminierung, israelischen Rassismus gegenüber den Palästinensern moralisch anders zu bewerten als ähnliche Strukturen in anderen Ländern oder Gebieten. Israelkritik stets mit Antisemitismus gleichzusetzen ist meiner Meinung nach selbst eine Form von Blindheit und Diskriminierung.“ (ZEIT.de)

Alan Posener riecht die bösen unbewussten Mächte bei den Verfassern der Jerusalemer Erklärung:

„Bewusst und unbewusst wurden und werden von den Feinden, aber auch von den freundlichen Kritikern Israels immer wieder antisemitische Vorurteile mobilisiert. „Es spricht aus ihnen.“ Wenn etwa der UN-Menschenrechtsrat Israel verurteilt, so geschieht das nicht im Namen des Antisemitismus, sondern im Namen der Menschenrechte. Wenn aber Israel mit ritueller Regelmäßigkeit verurteilt wird, häufiger als alle anderen Staaten der Erde zusammengenommen; wenn der Rat einen eigenen Israel-Berichterstatter und einen feststehenden Israel-Tagesordnungspunkt hat, was es für keinen anderen Staat der Erde gibt: Dann geht es eben nicht um Menschenrechte, sondern um Antisemitismus. Der jüdische Staat wird dämonisiert; an ihn werden andere Maßstäbe angelegt als an andere Staaten.“ (WELT.de)

Merkwürdig: wie der Antisemitismus-Forscher Benz sich aus hoher Warte verbietet, dass Krethi und Plethi beim Thema Antisemitismus mitreden, so Posener, der selbst ehrenwerten Menschen die erforderliche Expertise verweigert. Im Namen welcher höheren Expertise? Der selbst-ernannten. Wer zuerst ruft: Ich bin Experte, hat gewonnen.

„Es gehören aus Deutschland etwa auch die Schriftstellerin Eva Menasse, die Philosophin Susan Neiman und der Experte für die Funktionselite des NS-Staats Michael Wildt dazu, bewunderns- und ehrenwerte Menschen, aber ohne besondere Expertise;“

Bei deutschen Antisemitismus-Wächtern zeigt sich immer mehr vatikanische Unfehlbarkeit durch Selbstauszeichnung. Wer unbewusste Motivationen ahnt, hat noch lange keinen Beweis ihres Vorhandenseins. Alles kann sein, muss aber nicht sein. Auch geht es nicht um Vermutungen und Ahnungen, es geht um reale, nachweisbare, politische Worte und Taten. Und die kann Posener nirgendwo nachweisen.

Was von ihm und seinem WELT-Kollegen Broder als unschlagbares Argument vorgeführt wird, ist – ein Vergleich. Nein, kein Vergleich des Holocaust, sondern ein Vergleich Israels mit Staaten, die noch schlimmer sind als das heilige Land und dennoch glimpflicher davonkommen:

„Wenn etwa der UN-Menschenrechtsrat Israel verurteilt, so geschieht das nicht im Namen des Antisemitismus, sondern im Namen der Menschenrechte. Wenn aber Israel mit ritueller Regelmäßigkeit verurteilt wird, häufiger als alle anderen Staaten der Erde zusammengenommen; wenn der Rat einen eigenen Israel-Berichterstatter und einen feststehenden Israel-Tagesordnungspunkt hat, was es für keinen anderen Staat der Erde gibt: Dann geht es eben nicht um Menschenrechte, sondern um Antisemitismus. Der jüdische Staat wird dämonisiert; an ihn werden andere Maßstäbe angelegt als an andere Staaten.“

Israel werde dämonisiert, weil es strenger beurteilt wird als andere Staaten, die noch schlimmere Taten begehen? Wenn zwei dasselbe tun, aber ungleich beurteilt werden, ist das ungerecht – die Ungerechtigkeit aber besteht in unterschiedlichen Bewertungen des gleichen Delikts, nicht verschiedener Delikte. Jemanden für das Gleiche strenger zu beurteilen als andere ist ungerecht, aber keine Dämonisierung. Verschiedene Staaten verstoßen gleichermaßen, wenn auch in verschiedener Stärke, gegen gleiche universelle Normen. Hier verschiedene Kategorien zu vermuten, ist abwegig.

Zudem gibt es eine naheliegende Erklärung der quantitativ, nicht qualitativ unterschiedlichen Bewertung. Von totalitären Staaten erwartet man ohnehin nichts anderes als totalitäre Daueraktionen. Nicht aber von einem befreundeten Staat, der Wert darauf legt, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Wahre Demokratien müssten in Kritik und Selbstkritik besonders vorbildlich sein. Mit einer härteren Bewertung Israels will die UN ein westliches Land mit Nachdruck auf seine Rechtsverletzung hinweisen, in der Hoffnung, die Bevölkerung werde den Wink zur Kenntnis nehmen – und der Regierung Beine machen.

Der Kampf gegen Antisemitismus muss sich von lächerlichen Wortverdopplungs-Methoden und Motivationsschnüffeleien distanzieren. Die gnädige Erlaubnis, Israel dürfe doch kritisiert werden, aber bitte nicht übermäßig, ist eine Anmaßung.

Wo bleibt die Kritik der Israel-Apologeten? Werfen sie den Kritikern Dämonisierung vor, könnte man ihnen machiavellistische Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Israel ist ein befreundeter Staat. Freunde stehen einem näher und erwecken intensivere Gefühle. Man kämpft leidenschaftlicher um sie, wenn man sie auf Abwegen sieht.

Woher nur diese neurotische Sucht, Israel gegen die leiseste Kritik zu immunisieren? Glauben die Freunde Israels etwa nicht mehr an die Fähigkeit des jungen Staates, sich selbstkritisch zu korrigieren? Soll der mangelnde Glaube an die demokratische Erneuerungsfähigkeit etwa Philosemitismus sein?

Ist Antisemitismus therapierbar? Nur, wenn universelle Menschenrechte wieder zu Normen unseres Lebens werden. Jean Amery, Auschwitz-Überlebender, formulierte sie in schlichten Worten:

„Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist.“

Fortsetzung folgt.