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Alles hat keine Zeit XCIII

Tagesmail vom 20.03.2021

Alles hat keine Zeit XCIII,

„Dass die Pandemie noch nicht wirklich eingedämmt ist, liegt tatsächlich nicht an Biontech – sondern an der Bundesregierung. In einem Interview räumte die Kanzlerin kürzlich ein, dass die Enttäuschung über das schleppende Impftempo in Deutschland womöglich damit zu tun habe, »dass ich es erst mal faszinierend fand, dass wir überhaupt einen Impfstoff haben nach weniger als einem Jahr«. Das konnte man so verstehen, dass Angela Merkel bei aller Begeisterung schlicht vergessen hatte, rechtzeitig ausreichend Impfstoff zu bestellen.“ (SPIEGEL.de)

Wie ist die Kanzlerin philosophisch einzuordnen? Sie ist Positivistin – mit religiösem Überbau. Streng genommen ist Religion das Gegenteil von Positivismus, der sich

 „mit der Feststellung des Gegebenen, Tatsächlichen begnügt und sämtliche Metaphysik und Religion ablehnt. Er beschränkt sich auf eine theoretische Rekonstruktion des jeweiligen Erfahrungsstoffes.“ (Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe)

Auch die Medien sind positivistisch definiert, wenn sie „schreiben, was ist“ – und das Sollen ignorieren. Da man ohne Sollen nicht leben kann, wird das Ist komplettiert durch ein willkürliches, nicht weiter begründbares, ja oft geleugnetes „Mach-was-du-willst“  („Voluntarismus“).

Selbst die verhärtetsten Positivisten, die nur das Ist anerkennen, kommen ohne Sollen nicht aus: wir sollen nichts anderes, als das, was ist. Eine autonome Moral, die sich für befugt erklärt, das Ist zu verbessern und zu vermenschlichen, halten sie für unwissenschaftlich. Positivismus ist der komplette Sieg der quantitativen Naturwissenschaft über die Geisteswissenschaften, vor allem über Philosophien und Religionen.

Der Mensch, Teil der Natur, ist nicht in der Lage, sich seine eigenen Gedanken zu machen und seine politischen Verhältnisse nach moralischen Vorstellungen zu gestalten. Er kann die Realität nur erfassen durch Erkenntnis ihrer abzählbaren Tatsachen und berechenbaren Gesetze. Nur mathematisches Erkennen ermöglicht es den Menschen, Verständigung untereinander zu erzielen und sich nicht in weltanschaulich-unlösbaren Kämpfen zu verfeinden.

Das ist Merkels Politik: die Dinge lassen, wie sie sind. Ihr Glück war, dass die Dinge während ihrer Amtszeit zur Zufriedenheit der Deutschen liefen. Veränderungsnotwendigkeiten? Keine. Merkel kennt kein Sollen. Sie ist Mitläuferin der herrschenden Verhältnisse. Erst Corona machte dieser seins-frommen oder schicksalsergebenen Passivität einen Strich durch die Rechnung.

Was geschieht, wenn das, was ist, schlecht, krank und gefährlich ist? Dann wäre es selbstmörderisch, das Ist fatalistisch weiter wurschteln zu lassen.

Womit wir bei der Religion angekommen wären. Wenn die Reduktion auf das Ist lebensgefährlich wird, erkennt der Mensch die Notwendigkeit eines Sollens, welches das Ist übersteigt. Es gab Positivisten, die selbst vor schamanischem und mystischem Abrakadabra nicht zurückschreckten, um sich eine notdürftige Orientierung zu geben. Zumeist aber flüchteten die Ist-Denker in die traditionellen Religionen, mit denen sie seit ihrer Kindheit vertraut waren. Bei Merkel war das der lutherische Protestantismus ihres Vaters.

Zwei theoretisch unvereinbare Systeme, die beide die autonome Vernunftmoral des Menschen ablehnen, suchen und finden sich, um die praktische Frage zu beantworten: Was soll ich tun?

Auch der Rechtspositivismus spricht dem Menschen die Berechtigung ab, sich irgendein Rechtssystem aus den Rippen zu schwitzen – und klängen die juristischen Normen noch so verlockend und menschenfreundlich. Es gäbe nur die eine Möglichkeit: das bestehende Rechtssystem als gegebenes zu akzeptieren und in seinem Sinn Recht zu sprechen.

Der Streit um den Rechtspositivismus ging um die Frage: kann ein Rechtspositivist ein überzeugter Demokrat sein (wie etwa Kelsen), obwohl er die bestehenden Rechte anerkennen muss, gleichgültig, ob sie von demokratischem Geist erfüllt sind oder nicht?

Unser bestehendes Recht ist noch in vieler Hinsicht rechtspositivistisch deformiert. Was die prinzipielle Dämonisierung bestimmter Straftäter als „erbsündige“, lernunfähig-böse, vorsätzliche Teufel betrifft, sind Teile unseres Rechtssystems noch immer vom Ungeist der Nazi-zeit infiziert.

Heutige Kriminalpsychiater haben dieselbe Funktion wie einst die Geistlichen in den mittelalterlichen Inquisitionsprozessen, die durch „Gottesbeweis“ herausfinden mussten, ob die Angeklagten vom Teufel besessen waren oder nicht. Sie fesselten dem Angeklagten Hände und Füße und warfen ihn ins Wasser. Konnte er sich unerwartet befreien und an Land schwimmen, hatte Gott ihn durch ein Wunder für unschuldig erklärt. Blieb das Wunder aus, war der Ertrunkene zu Recht zum Tode verurteilt worden.

Wie Marx lehnt der wissenschaftliche Positivismus das selbstbestimmte Denken des geistbegabten Menschen ab. Aufgewachsen im Sozialismus der DDR ist Merkel in doppelter Hinsicht vom positivistischen Denkverbot geprägt: vom Marxismus und von der väterlichen Religion. Für sie gilt eine doppelte Verachtung jeder autonomen Philosophie:

a) von Seiten des Marxismus: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“

b) von Seiten der Schrift: „Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“

Die absurde Pointe: a) nach Marx kann kein Mensch die Welt verändern. Es ist das Gesetz der Geschichte, das die Veränderung der Verhältnisse selbständig herbeiführt. Der Gläubige des dialektischen Materialismus kann nur aufspringen. Das ist Merkels passives Mitmachen.

b) auch Luthers augustinische Zweireichelehre verurteilt alles menschliche Tun zu absolutem Gehorsam gegen Gottes Geschichtsherrschaft. Nicht nur in der civitas dei, auch in der teuflischen Welt der Politik wird letzten Endes alles von Gott bestimmt.

Für Marxisten wie für Christen gilt: Kniet nieder und betet die Geschichte an, die sich über euren Häuptern vollzieht. In ihrem mitläuferischen Passivismus ist Merkel in doppelter Weise determiniert: von Marx und von Luther.

Merkel ist die perfekte Symbiose aus kapitalistischem und sozialistischem, westlichem und östlichem Geschichtsgehorsam. Der Sozialismus protzt mit revolutionärem Elan, der Kapitalismus mit Freiheit. Doch beide Systeme sind nichts anderes als untertänige Mitläuferideologien. Marx kennt nur das eherne Gesetz des Fortschritts, der an Matthäi am Letzten in das Reich der Freiheit umkippen wird. Hayeks Evolution folgt dem „Zeit und Zufalls-Prinzip“ des Predigers, der alttestamentarischen Metapher für den Herrn der Geschichte:

„Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Zufall.“

Die Kanzlerin ist positivistisch, was dem wissenschaftlichen Fortschrittsprinzip und religiös, was dem „christlichen Geist des Abendlandes“ entspricht, sie ist almosenhaft-nächstenliebend, was der antinomischen Bergpredigt und kaltblütig mitleidslos, was dem apokalyptischen Kapitalismus entspricht. Sie gibt sich demütig, was der christlichen Siegerstrategie und grenzenlos machtgierig, was dem finalen Credo entspricht: die Größte unter euch sei euer aller Dienerin.

Das war die perfekte Mischung für alle Bedürfnisse eines vereinigten Deutschlands. Für Dabbelju Bush war sie die ideale Bestätigerin für die amerikanische Fürsprache der Wiedervereinigung, für den jungen Putin die ideale Zeugin für den Friedenswillen des neuen Deutschlands.

Für den romantischen Nationalismus der Deutschen war sie die perfekte Wiederkehr der Friedenskönigin Luise, für Feministinnen die erste Frau im Kanzleramt (die sich ansonsten um Feminismus nicht kümmerte), für die Industrie eine bedingungslose Vertreterin des Wirtschaftswachstums, für die Abgehängten die gütige Landesmutter, die einmal im Jahr sich zu den Schwachen hinunter beugte.

Für die Geschädigten der Eliten mit ihren komplexen Angebereien war sie die ideale Sprecherin einer schlichten Hausmuttersprache. Die Siegesgewissen spornte sie an mit Wettbewerbsparolen, die Niederen tröstete sie mit Einkäufen im Supermarkt. Die Medien kaufte sie mit hermetischen Einladungen ins Kanzleramt. Die Fußballenthusiasten beehrte sie mit Siegesposen im Stadion. Wenn sie einmal im Jahr den Bedrückten ihr gnädiges Ohr lieh, verwandelte sich der anklagende Ton der Leidenden und Empörten stets in die dahin schmelzende Apotheose: wie schön, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie offen sind für die Nöte des Volkes. Einmal im Leben zur Obrigkeit durchdringen, das ist der Traum jedes Deutschen.

Die Reichen ermunterte sie mit dem heiligen Satz: „Wer sein Vermögen durch Zins und Zuschlag vermehrt, sammelt es für den, der sich der Armen erbarmt.“
Da schlug das Herz von Bill Gates höher, als er bei ihr vorsprechen durfte.

Die Mühsamen und Beladenen wurden bestärkt mit dem Trost:
„Sorget euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollte. Betrachtet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen. Sie arbeiten und spinnen nicht. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“

Die Leichtsinnigen und Sorglosen wurden ermahnt: „wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“

Es gelang ihr, die wichtigsten Schreiber in „vertrautem Kreis“ so für sich einzunehmen, dass diese einen Perspektivwechsel vornahmen. Bei gewöhnlichen Politikern nahmen sie die professionelle, von Misstrauen geprägte Außen-Perspektive ein. Keinen Satz, und sei er noch so einleuchtend, ließen sie gelten, wie er gesagt wurde. Wovon lenkt das Großmaul mit seinen Phrasen ab? Natürlich will er mit seinen Versprechungen nur seine Wählerbasis vergrößern.

Mit Merkels Innen-Perspektive hingegen waren sie überidentisch: was Merkel selbst am besten weiß, was sie umtreibt, wie sie sich bemüht, sich dem Volk zu erklären. Sie könne tun und lassen, was sie wolle: immer sei sie die Schuldige, die Unterschätzte, die Missverstandene. Dabei sei sie vorbildlich nüchtern und sachlich wie eine echte Wissenschaftlerin. Als ob Wissenschaftler in der politischen Arena einen Deut sachlicher wären als andere Menschen.

Ergaben sich heftige Debatten, wartete sie ab, bis die ersten Getümmel vorüber waren und Meinungsumfragen die Mehrheiten ermittelt hatten: dann öffneten sich die Pforten und die Fürstin der Herzen betrat mit energischen Schritten die Bühne – und verkündete rein zufällig, was die Mehrheit von Oben erwartete. „Merkel sorgt für Klarheit. Wieder einmal trifft die Kanzlerin den Kern des Problems.“

Und nun? Ist alles aus. Binnen weniger Wochen hat Corona das Bild der Fürstin der Herzen zerstört – und ins Gegenteil verkehrt. Der schöne Schein der vorbildlichen Nation mit der perfekten Obrigkeit hat sich aufgelöst. Ungläubige Desillusionierung im nationalen, ja im internationalen Gesichtskreis. Was ist los mit den Deutschen? Die perfekte Wettbewerbsnation rutscht in allen Rankings auf die unteren Plätze.

Haben wir uns etwa von den deutschen Musterschülern täuschen lassen? Oder haben sie uns absichtlich ein illusionäres Theater vorgespielt? Wollten wir nicht wahrhaben, was sich seit langem angekündigt hatte? Die Bilanz der einst vorbildlichen Ökonation ist miserabel. Ewig bauten sie an einem Flugplatz, ihre Autoindustrie betrog die ganze Welt. Die hochgerühmte, technisch versierte Nation ist bis heute unfähig, sich digital zu vernetzen. Die Bundeswehr ist eine Lachplatte. Die hochmoralische Nation lässt mehr Flüchtlinge im Mittelmehr verrecken als Trump vor der mexikanischen Grenze. Die deutsche EU-Chefin von der Leyen, eine Merkel-Vertraute, ist außerstande, rechtzeitig für Impfstoffe zu sorgen. Die Regeln der EU lässt sie zerfallen, die einst hochgerühmte und in aller Welt bewunderte Einheit des alten Kontinents bricht unter deutscher Dominanz auseinander. Polen und Ungarn trampeln der EU auf dem Kopf herum – ohne Konsequenzen. Selbst Biden, angeblicher Freund der Deutschen, fordert einen sofortigen Baustopp der Nord-Stream-Pipeline. Sonst gibt’s Saures.

Und die Kanzlerin? Bunkert sich ein, empfängt nicht mal die engsten Verbündeten des Landes. Muss sie dennoch einmal vor die Kameras, redet sie perfekt virologisch: Inzidenz, R-Wert, exponentiell. Es soll wissenschaftlich klingen, klingt aber wie Viro-Theologie. Über Politik kein einziges Wort. Über Sorgen und Nöte der Untertanen nur emotionale Floskeln. Sie verstehe ja, sie verstehe ja. Aber bitte noch ein wenig durchhalten, in wenigen Wochen haben wir es geschafft, nein, vielleicht an Ostern, nein, bestimmt aber an Pfingsten. Sie kennen mich. Auf mein Wort können Sie sich verlassen. Und wenn nicht, mein Gott, muss ich denn immer perfekt sein? Muss denn der Staat für alles zuständig sein? Bin ich die Einzige, der kein Fehler vergeben wird?

In Wahrheit enthüllt Corona, was die symbiotische Nation wirklich kann. Die Zeit des Mitlaufens ist vorbei, nun müssten die Deutschen zeigen, dass sie wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch einschätzen und in mündige Politik umsetzen können. Damit sie vorbildlich aufgeklärt werden, um sich in eigener Verantwortung testen und impfen zu lassen. Doch womit, wenn die Regierung unfähig ist, das Nötigste bereit zu stellen?

Immer klarer entlarvt sich das untergründige Prinzip der nationalen Hilfsmaßnahmen. Nicht Hilfe zur Selbsthilfe stand an erster Stelle, sondern Entmündigung durch täglich wechselnde Verwirrungen, bedenkenlosen Entzug der Grundrechte und wachsende Härte der Maßregeln. Gelobt sei, was hart macht. Unter dem Vorzeichen außergewöhnlicher Notmaßnahmen zeigt sich immer klarer der Strafcharakter der Maßregeln. Die gelähmte Regierung scheint sich für die nörgelnde Undankbarkeit der Gesellschaft subtil zu rächen. Das habt ihr verdient, ihr verwöhnten Weichlinge, ihr übersättigten Schwächlinge.

Und Merkel? Hat nichts mehr zu verlieren. Ihre Pflichttage wird sie noch comme ci comme ca hinter sich bringen. Bald hat die geplagte Seele ihre Ruh. Den Rest in Gottes Hand. Ihr übermüdetes, überfordertes Gesicht verrät: auf einen honorigen Platz in der Geschichte hat sie längst verzichtet.

Da steht sie, die treue Magd des Herrn, und kann es nicht fassen, dass die Tage passiver Faszination vorüber sind: „dass ich es erst mal faszinierend fand, dass wir überhaupt einen Impfstoff haben nach weniger als einem Jahr.“

Was kommt nach der Faszination? Der Schrei aus tiefster Not gen Himmel. Die politische Obsorge um den irdischen Staat des Bösen ist vorbei. Es wartet die Stadt im Himmel:

Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohr neig her zu mir und meiner Bitt es öffne; …
Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben;
es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben.
Vor dir niemand sich rühmen kann;
des muss dich fürchten jedermann
und deiner Gnade leben.
Darum auf Gott will hoffen ich,
auf mein Verdienst nicht bauen.

Mach‘s gut, Angela. Und nimm es uns nicht übel: Politik und Religion, sie passen nun mal nicht zusammen. So wahr Dir Gott helfe.

Fortsetzung folgt.