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Alles hat keine Zeit XCI

Tagesmail vom 15.03.2021

Alles hat keine Zeit XCI,

Zahlenakrobatik. Feuerwerk bunter Diagramme und statistischer Daten. Politiker in Spalierordnung. Eine Frage, eine Antwort. Sprechblasen in endlosen Wiederholungschleifen.

An Wahlabenden rächen sich die Öffentlich-Rechtlichen an den Politikern für ihre Demütigungen in wahlfreien Zeiten. Schaut sie euch an: einer ist wie der andere. Pappkameraden, ohne Verbindung zu den Wählern, von erkenntnisloser Macht getrieben, kurz vor der Roboterwerdung.

Wie oft haben die Arroganten in normalen Zeiten Stellungnahmen abgelehnt und kritische Fragen mit Floskeln brüskiert. Jetzt schlägt die Stunde der Vorgeführten, die sich mit gleichen Waffen rächen. Eine ideale Gelegenheit für die Beobachter, ihre Politikmüdigkeit mit ätzenden Inszenierungen zu kompensieren.

Wir schalten um in die Zentrale der X-Partei – mit überraschenden Erkenntnissen. Gewinnt die Partei, jubeln ihre Mitglieder. Verliert sie, sieht man versteinerte Gesichter. Wer hätte das gedacht? Die Beobachter sind so ausgebrannt wie ihre Beobachtungsobjekte. Längst ist ihr Alibiinteresse für eine vitale Politik abhanden gekommen.

Sie werden vom Volk ernährt, um jenseits des Volkes mit Kamera und Mikrofon opulent zu residieren. Sämtliche Tricks der Mächtigen kennen sie in- und auswendig, man kann ihnen nichts mehr vormachen. An Wahlabenden sind sie die Meister der Regie und die Politiker ihre austauschbaren Statisten.

Worum geht’s in diesen schicksalhaften Wahlen? Um presque rien. Die alten Machteliten bleiben, auch wenn sie rotieren. Niemand glaubt an die Wahlparolen, nicht einmal die Parteien, die sie bei Fachleuten in Auftrag gaben. Sie dienen der bewusstseinslosen Beeinflussung gewisser Klientel. Mit politischen Überzeugungen der Auftraggeber haben sie selten zu tun.

Nennt es Reiz-Reaktions-Spielchen, nennt es Werbepsychologie. Das Wahlvolk wird zur gehirnlosen Masse degradiert. Alle wissen es, alle machen mit. Demokratie entartet zum Labor für angewandte Konditionierung. Welche Segmente der Gesellschaft kann ich mit welchen Formeln ködern. Skinner hat die Demokratie besiegt:

„Wählen ist ein Mittel, die Schuld an gewissen Zuständen auf andere abzuwälzen. Die Gewählten sind keine Herrscher, sondern Sündenböcke. Und die Leute laufen so gern an die Wahlurnen, um das immer wieder bestätigt zu finden. Das Volk ist nicht in der Lage, Experten zu beurteilen. Demokratie ist die Brut des Despotismus. Demokratie bedeutet Macht und Herrschaft, nicht der Wille des Volkes, sondern der Wille der Majorität. Walden Two hat die Vorzüge einer Demokratie, aber keinen ihrer Defekte. Der Wille des Volkes wird gewissenhaft ermittelt. Wir haben keine Wahlkämpfe, die die Streitfragen durch Sentimentalitäten fälschen oder verdunkeln, sondern wir studieren die Wünsche der Mitglieder ernsthaft. Demokratie ist nicht die beste Staatsform und kann es nicht sein, weil sie sich auf einer wissenschaftlich unhaltbaren Konzeption vom Menschen gründet. Eine Philosophie, die sich auf die angeborene Güte und Weisheit des Menschen verlässt, ist unvereinbar mit der nachweisbaren Tatsache , dass der Mensch zum Guten oder Bösen und Weisen oder Törichten geprägt wird durch die Umgebung, in die er hineinwächst.“ (Skinner, Walden Two)

Das ist die Philosophie, die heute die Demokratien beherrscht. Alles andere wurde von einer sogenannten Verhaltens-Wissenschaft zur Farce erklärt. Alle Parteizentralen handeln im Geiste Skinners. Sie wollen mit Hilfe gewisser Reizwörter gewählt werden, niemanden mit Argumenten überzeugen. Wer überzeugen will, müsste reden, mit Sachkenntnis und logischer Folgerichtigkeit an die Vernunft der Menschen appellieren.

Wie sieht‘s in Wirklichkeit aus?

„Es ist – ich sage das ganz klar, aber auch mit der nötigen Unschärfe – für die Politik in einer Zeit, in der sich Technologien so rasant ändern … gar nicht immer einfach, die Setzung der entsprechenden Rahmenbedingungen – vom Arbeitsrecht über das Steuerrecht bis zum Urheberrecht und vielen anderen Dingen – in der Zeitspanne zu erreichen, in der es notwendig wäre, um neuen Technologien Bahnen zu verschaffen.“ (Eine „sachliche, naturwissenschaftlich ausgebildete“ Kanzlerin)

Mit der nötigen Unschärfe, damit niemand kommen und anklagen kann: Du redest nur – und handelst nach Belieben. Unscharfe Ankündigungen können nicht überprüft werden. Unscharfe Hypothesen sind Gift in der Wissenschaft, sie können nicht widerlegt werden. Hat sich das noch nicht in der Physik herumgesprochen? Und seit Jahr und Tag plappern die Medien den Refrain von der sachlichen Naturwissenschaftlerin.

Eine Physikerin, die eine geisteswissenschaftliche Niete ist. Kennt sie die Begriffe Kapitalismus oder Neoliberalismus? Warum bekennt sie sich nicht zur Doktrin ihres lutherischen Durchwurschtelns? Täglich verschärfen sich die Niedergangsängste ihrer Untertanen. Wo bleiben ihre Erklärungen, Analysen und Therapien?

Nein, in die sumpfige Arena begrifflicher Streitigkeiten steigt sie nicht hinab. Was ungesagt bleibt, ist unwiderlegbar. Hätte sie geschwiegen, würde man sie für eine Philosophin halten – also schweigt sie.

Was sagt sie beispielsweise zum Angriff eines BILD-Adligen gegen die FFF-Jugend, der an höfischer Eitelkeit und Borniertheit nicht mehr zu übertreffen ist?

„Die Nachwachsenden, die „Generation Z“, glaubt, die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben. Sie sind auf geradezu penetrante Art anspruchsvoll und selbstbewusst. Sie sind davon überzeugt, dass die Welt sich um sie dreht und dass das Leben, auch im Job, eine Art ewiges Bällebad zu sein hat. Die US-Psychologin Jean M. Twenge behauptet, bei der Generation Z, auch „Millenials“ genannt, handele es sich um die „am allerbesten behütete und zugleich mental fragilste Generation, die es je gegeben hat“. Der berühmte Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat mir mal erzählt, dass alle Naturvölker Initiationsriten kennen. Mutproben, die meist mit einer kleinen, symbolischen Verletzung enden. Die Botschaft, sagte er, sei über alle Kulturen hinweg die gleiche: „Es soll den Jungen klarmachen, dass die Welt sich nicht um sie dreht und dass das Leben Schmerzen bereithält.““ (BILD.de)

Die Klimakatastrophe ist ein – von Gott geschickter? – Initiationsritus, damit die Jugend nicht auf die Idee kommt, die Welt müsse sich um sie drehen? Die Gefahren eines kollektiven Untergangs sind nichts als pädagogische Maßnahmen, damit die Jugend sich auf ein schmerzensreiches Leben vorbereite?

Das sind Töne aus jenen Zeiten, in denen die Fürsten das gesamte Leben ihrer Untertanen beherrschten. Die Hof-Popen der Fürsten predigten: durch Schmerz zum Sieg, durch Kreuz zur Krone! Ist das auch die geheime Pädagogik des beurlaubten Chefredakteurs, mit denen er seine Lohnabhängigen drangsalierte?

Die Millenials seien eine bestbehütete Generation, wenn ihre gesamte Zukunft auszufallen droht? Und der oberste Repräsentant des deutschen Journalismus – Mathias Döpfner – schaut mit Wohlwollen auf dieses unsägliche Blatt? Zeigt mir das einflussreichste Boulevardblatt eurer Nation und ich sage euch, in welcher Kloake ihr lebt.

Was meint die Kanzlerin zum skandalösen Entzug der Gemeinnützigkeit bei Vereinen und NGOs, die sich vorbildlich demokratisch betätigen? Heribert Prantl hat das Problem trefflich auf den Punkt gebracht:

„Wenn die Vereine, so die Steuerbehörden und Finanzgerichte, zu viel Politik betreiben, dann erleiden sie steuerliche Nachteile, dann verlieren sie ihre Gemeinnützigkeit, dann dürfen sie keine Spendenquittungen mehr ausstellen, dann darf kein Spender mehr seine Spenden in der Steuererklärung geltend machen. Zu viel Politik ist also „bäh“ im Sinn des Steuerrechts. Die deutschen Steuer- und Finanzbehörden verfechten einen kastrierten Politikbegriff, der die Diskussion und die Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Zuständen nicht umfasst. „Politische Bildung“ wird bundeszentralisiert. Die einschlägigen Regelungen in Paragraf 52 Abgabenordnung fördern das Schachspiel, den Amateurfunk, den Karneval, den Hundesport und die Bienenzucht – aber nicht ausdrücklich die streitige und streitbare Demokratie. Ist es missbilligenswert, wenn sich ein Verein für eine Transaktionssteuer einsetzt? Für höhere Mindestlöhne? Für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege? Für einen sozialökologischen Umbau der Wirtschaft?“ (Sueddeutsche.de)

Nicht zu glauben, dass Steuerbehörden festlegen dürfen: demokratisch wirken ist gut, aber bitte nicht übertreiben. Überall wird das mangelnde demokratische Engagement der Bevölkerung gerügt. Wenn sich aber aufrechte und wehrhafte Demokraten zusammenfinden, werden sie vom Fiskus bestraft? Unfasslich.

Was meint die Kanzlerin zur Idolatrie amerikanischer Milliardäre durch Mathias Döpfner? Sie alle streben ins Weltall, die Zukunft der Menschheit auf Erden ist ihnen schnuppe. Dass sie nebenbei die Menschheit retten wollen, sind durchschaubare Ablenkungs-Phrasen ihrer an Egoismus nicht mehr zu überbietenden Fluchtaktionen.

Dass sie solche Reichtümer zusammenraffen konnten, liegt an legalen Gesetzen, die die Regierungen seit Jahrhunderten unter dem Druck der Reichen und Mächtigen eingeführt haben. Nie hätten wache Völker diesen Unverfrorenheiten zugestimmt, wenn sie hätten mitbestimmen dürfen. Stöckers Worte lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

„Nur, weil jemand im System des globalen Konsumkapitalismus extrem reich geworden ist, heißt das nicht, dass er qualifiziert wäre, Lösungen für die gewaltigen Probleme zu entwickeln, die dieses System erzeugt. Die Milliardäre werden uns nicht retten. Wir haben nur diesen einen Planeten. Das All ist keine Zuflucht.“ (SPIEGEL.de)

Was meint die Kanzlerin zur Klage eines Richters, der die Coronamaßnahmen der Regierung für unwissenschaftlich und verfassungswidrig hält?

„Es geht nicht, dass die Bundeskanzlerin da einen Entwurf vorlegt und den auch durchzuboxen versucht, und dann heißt es in den Nachrichten: Die Kanzlerin hat sich durchgesetzt. Sie darf gar nicht derart Einfluss nehmen. Die verletzten Grundrechte habe ich aufgeführt als allgemeine Handlungsfreiheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht und Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Recht auf Leben und Recht auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person auch in Form der Freiheitsentziehung, Schutz der Familie und Menschenwürde. Als Richter muss und darf ich mich zu dieser Grundordnung bekennen. Gerade sie aber ist bereits jetzt in Gefahr. Wenn sie weiter erodieren würde, hätte ich ein großes Problem. Dann könnte ich mir vorstellen auszuwandern.“ (WELT.de)

Auch die wissenschaftliche Beratung der Kanzlerin war eine Farce. Unliebsame Experten aus Soziologie, Psychologie wurden gar nicht erst hinzugezogen, damit sie die Kreise der Strafwütigen nicht stören. Das Grundprinzip der Pandemiemaßnahmen sollte sein: Härte, Härte und Härte. Gelobt sei, was hart macht. Der Bevölkerung rechtzeitig Selbsthilfen wie Tests und Impfungen zukommen zu lassen, war jenseits ihrer Vorstellungen. Virologen sind nur Fachleute auf ihrem Gebiet, die politischen Folgen ihrer Vorschläge (die sich keineswegs logisch aus medizinischen Befunden ableiten lassen) können sie nicht besser beurteilen als Menschen mit gesundem Menschenverstand.

Auch die Medien waren anfänglich entzückt über die „wissenschaftsfreundliche“ Regierung. Wer die Maßnahmen angriff, wurde als Feind der Wissenschaft attackiert:

„Die Auswahl des Sachverständigen kann also das Ergebnis des Falles beeinflussen. Und in der deutschen Pandemiepolitik waren von Anfang an im Wesentlichen nur zwei Bereiche durch Berater abgedeckt, die gehört wurden und deren Votum auch ernst genommen wurde: der medizinische und der virologisch-epidemiologische. Wo waren die Soziologen, die Psychologen, die Wirtschaftswissenschaftler, die Juristen?“

Was meint die Kanzlerin zum kritischen Gesamtüberblick von Ullrich Fichtner im SPIEGEL, der seinen Kommentar als „Nestbeschmutzung“ vorstellt?

„Es ist gewiss nicht Angela Merkels Schuld, dass die Deutschen häufig mit dem Neuen fremdeln, aber es ist ein Problem, dass sie selbst dieses Fremdeln so perfekt repräsentiert. Es hat nichts geholfen, dass mit ihr die erste Naturwissenschaftlerin ins Kanzleramt einzog, im Gegenteil. Nicht Wissen und Erkenntnis sind offenkundig das Problem ihrer Politik, sondern der Mangel an Leidenschaft und Tatendrang. Man höre nur den Tonfall einer Rede, die die Kanzlerin im März 2006 – also ganz frisch und unverbraucht im Amt – zur Eröffnung der Computermesse Cebit hielt. Sie sagte damals: »Es ist – ich sage das ganz klar, aber auch mit der nötigen Unschärfe – für die Politik in einer Zeit, in der sich Technologien so rasant ändern … gar nicht immer einfach, die Setzung der entsprechenden Rahmenbedingungen – vom Arbeitsrecht über das Steuerrecht bis zum Urheberrecht und vielen anderen Dingen – in der Zeitspanne zu erreichen, in der es notwendig wäre, um neuen Technologien Bahnen zu verschaffen.« Die vielen guten Absichten sind irgendwie versickert, von großen Projekten war ohnehin nie viel zu hören. Auch auf europäischer Ebene blieb Deutschland, solange es nicht darum ging, das Geld zusammenzuhalten, recht passiv und stumm. Dieses reiche Land hat schon länger keine Ziele mehr über den Tag und den eigenen Gartenzaun hinaus, keinen Ehrgeiz außer jenem, den erreichten Wohlstand, das Rentenniveau und auch alle sonstigen Privilegien zu erhalten. Während also vielerorts der Murks vorherrscht, wollen der politische Betrieb und große Teile der Gesellschaft weiter an die Märchen von der deutschen Meisterschaft glauben. Die mangelhafte Wirklichkeit passt indes häufig nicht mehr zu den schmeichelhaften Bildern, die man sich – zumal im häufig abschätzig vorgenommenen Vergleich mit den europäischen Nachbarn – so gern von sich selbst macht.“ (SPIEGEL.de)

Fichtners diagnostische Befunde sind angemessen. Doch er fragt nicht nach Ursachen. Dass der exponentielle Niedergang der Nation in Merkels Regierungszeit stattfindet, also mit der Kanzlerin zu tun haben muss, wird ignoriert.

Nein, an den historischen Ursachen der Mentalität der Deutschen, schwankend zwischen messianischem Überschwang und apokalyptischem Untergang, ist Merkel unschuldig. Ob sie den Niedergang hätte verhindern können, wenn sie ihn wahrgenommen, mit Leidenschaft vor ihm gewarnt hätte, ist unwahrscheinlich. Sie hätte aber alles tun müssen, um die Deutschen über ihre historischen Lasten aufzuklären. Aufklären? Für Pastorentöchter ein rotes Tuch.

Doch die Mitschuld des ganzen Volkes entlässt sie nicht in Unschuld. Sie hat keine Vorstellungen von einer humanen Demokratie. Ihr lutherisches Staatsverhältnis gebietet ihr, den irdischen Staat als unrettbare Einrichtung zu betrachten, die man als Sündenpest nur notdürftig durch die Zeiten bringen kann.

Eine Frage stellt sich Fichtner überhaupt nicht. Wer hat die Regierungsjahre Merkels mit gleichbleibendem Wohlwollen, ja, mit devoter Verehrung begleitet und unterstützt, sodass es nirgendwo in der Republik zur Merkelkritik kommen konnte? Es waren die Medien, die Leibgarde der frommen Muttergestalt.

Eine Selbstkritik der Beobachter, die Gut oder Böse kommentarlos passieren lassen, gibt es nicht. In Wirklichkeit waren sie überidentisch mit der Glücksbringerin der Nation. Wer Merkel kritisiert, ohne die Bewunderung der Vierten Gewalt zu erwähnen, sollte besser schweigen.

Noch ist der Wohlstand der Nation nicht gefährdet. Warum aber geht es vielen Menschen dennoch so schlecht? Sind sie undankbar, maßlos, seelisch defekt oder gar unrettbar gehässig und böse? Warum scheint die Gesellschaft täglich mehr zu verrohen? Warum wird an jedem dritten Tag eine Frau ermordet? Warum steigt die Anzahl antisemitischer Straftaten, sodass immer mehr Juden mit dem Gedanken spielen, das Land der angeblich reuigen Täter zu verlassen? Eine Schande für Deutschland.

Gerichtspsychiater haben ständig mit dem Bösen zu tun. Sind die Straftäter, die sie beurteilen müssen, selbst Opfer ihrer Umgebung oder sind sie unrettbar böse? Erstaunlich, dass die Gerichtspsychiater sich noch nie systematisch mit dem Begriff des Bösen auseinandergesetzt haben:

„Es lohnt, den Begriff des Bösen zu reflektieren. Jeder von uns weiß, was verwerflich, kriminell und grausam ist: Aber eine wirkliche Definition für das Böse besitzen wir nicht. Verschiedene Disziplinen haben versucht, das Böse zu beschreiben: Die Theologen sehen es in der Abkehr von Gott. Die Biologen glauben, im Bösen stecke eine der Fortpflanzung dienende Aggression. Die Sozialwissenschaftler erklären es damit, dass jemand durch die Gesellschaft abgesondert wurde. Mein Fach, die forensische Psychiatrie, hat sich vor einer Definition gedrückt. Obwohl wir dem Bösen, der Kombination von psychischer Störung, abnormem Verhalten und Kriminaltat, vor allem in unserem Fach begegnen. Also musste ich das Böse definieren: Für mich ist es das Fehlen von Empathie. Lange Zeit war der Diskurs sehr nihilistisch geprägt, und es wurde gesagt, Psychopathen könne man nicht heilen. Ich glaube, es ist zumindest bei vielen möglich, dass sie mit ihrer Psychopathie so umgehen können, dass niemand zu Schaden kommt.“ (SPIEGEL.de)

Wären Straftäter böse, um mit teuflischer Lust absichtlich böse zu sein, dann wäre die Gesellschaft an ihrer Verbrecher-Karriere unschuldig. Die Deutschen verabscheuen ihre Bösen. Ihre eigene Gutheit müssen sie dadurch beweisen, dass sie dauer-entsetzt sind über die Gräueltaten der Bösen. Böse Taten sind wahrhaft abscheulich, sind es aber auch die Täter? Der Gutachter muss entscheiden, ob der Angeklagte vorsätzlich gehandelt hat oder Getriebener seiner unkontrollierten Impulse war.

„Das StGB unterscheidet insgesamt zwischen vier Stufen der Zurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit:
Vollständig zurechnungsfähig, vermindert schuldfähig, bedingt schuldfähig (bei Jugendlichen) und unzurechnungsfähig.“

Und hier beginnt die Crux. Wer seine Untat kaltblütig plante, muss noch lange keine Ahnung haben, welche Motive ihn getrieben haben. Gerichtspsychiater gehen davon aus, dass sie durch Gespräche feststellen können, ob der Täter aus freiem Willen oder durch unbewusste Triebregungen handelte. Das ist der verhängnisvolle Irrtum: empirische Befunde sind unfähig, einen freien Willen zu diagnostizieren oder nicht.

Stabile Menschen können ihr Leben in hohem Maße selbst bestimmen – wenn äußere Umstände es zulassen. Diese Fähigkeiten aber verdanken sie einer liebenden Erziehung, in deren Obhut sie ihre Selbstbestimmung erlernen konnten. Wer das Unglück hatte, eine solche Erziehung nicht erfahren zu haben, der wurde zum Getriebenen seiner deformierten Beweggründe. Alles was er kann, ist zu müssen, wozu ihn seine erlittenen Defekte zwingen.

Ohne es zu wissen, steht die Psychiatrie noch immer unter dem verheerenden Einfluss der katholischen Theologie, die den freien Willen erfand, um ihren Gott von aller Schuld freizusprechen (Theodizee). Das ging nur, indem sie alle Schuld dem Menschen unterschob. Als ob die Erbsünde freiwillig in die Welt gekommen wäre. Erbsünde ja – und dennoch freier Wille??

All dies ist erneut ein Beweis, dass das Erbe der Theologie noch immer die Geschicke des Menschen vergiftet. Wenn Demokratien human werden wollen, müssen sie lernen, sich für alle Mitglieder der Gemeinschaft verantwortlich zu fühlen. Das Böse ist die Frucht einer inhumanen Gesellschaft, die eine bestimmte Quote an Übeltätern benötigt, um per Kontrast ihre Selbstgerechtigkeit zu erkennen.

Den Niedergang unserer Gesellschaft können wir nur vermeiden, wenn wir unsere Straftäter als Rückspiegelung unserer defekten Gesellschaft verstehen. Das Böse können wir nur dauerhaft vermindern, wenn wir unermüdlich an der Humanisierung unserer Gemeinschaft arbeiten. Ungerechte Strukturen erzeugen defekte Menschen, die Böses tun müssen, um sich an der Gesellschaft zu rächen.

Eben diese Humanisierung verachten die Mächtigen der Gesellschaft als blauäugige Utopie. Zu ihnen gehört die Kanzlerin, die ohnehin nicht an die lernfähige Autonomie des Menschen glaubt. Sie glaubt an einen Gott, der nur die Seinen selig macht. Die Ungläubigen verdammt er in den Abyssus.

Naturwissenschaftliche Politik gibt es nicht. Wissenschaften können – im Gegensatz zu den Medien – nur feststellen, was ist. Die Pastorentochter betreibt eine lutherische Politik. Welch Glück für die Kanzlerin, dass ihr Volk zwar religiös gestimmt, aber von Religion nichts wissen will. Ein Fall für historisch gebildete Kollektiv-Psychiater.

Was aber muss geschehen sein, dass der VATER seine demütige Magd fast über Nacht fallen ließ? Das wird für immer das Geheimnis des Himmels bleiben.

Fortsetzung folgt.