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Alles hat keine Zeit XC

Tagesmail vom 13.03.2021

Alles hat keine Zeit XC,

„Wir versuchen jetzt, die Brücken zu bauen, aber wir wissen auch nicht, wohin wir die genau bauen. Also, das Ufer sehen wir ja auch nicht.“

Stunde der Erleuchtung, der Selbstentlarvung. Offenbarungseid der Kanzlerin – um ihren Rücktritt zu erklären. (Vorsicht: Wunschvorstellung)

Offenbarungseid: „Eid, mit dem ein Schuldner [auf Verlangen des Gläubigers] erklärt, seine Vermögensverhältnisse wahrheitsgemäß dargelegt zu haben und nicht in der Lage zu sein, seiner Zahlungspflicht nachzukommen; eidesstattliche Versicherung.“

Da hapert es schon. Die Gläubiger, das Volk, verlangen nichts: sie glauben blind an ihre Kanzlerin, die gestanden hat, dass sie ihrer „Zahlungspflicht nicht nachkommt“ – und dennoch tut, als bewege sich alles in gewohntem Rahmen.

Die deutsche Coronapolitik versinkt im Morast des Depressiven, ja Suizidalen – und Gesetzlosen. Doch der Glaube der Deutschen an ihre Obrigkeit bleibt unerschütterlich.

Die Kanzlerin baut Brücken, weiß aber nicht, wohin, sucht ein Ufer, das sie nicht sieht. Sie steht im Dunkeln. Finsternis, das ist die Bewährungsstunde der Deutschen: führe uns, wohin wir nicht wollen. Du weißt besser, was uns frommt. Weil es absurd ist, glauben wir an dich.

Hat Helge Braun seiner Chefin ins Ohr geflüstert: Versuchs doch mal mit der Methode „entwaffnende Ehrlichkeit“? Nicht mehr warnen und anordnen! Wie wär‘s mit einem Hauch von Sokrates: auch du weißt, dass du nichts weißt? Deine Edelschreiber werden entzückt sein: wir alle wandeln im Dunkeln und unsere entwaffnend ehrliche Kanzlerin geht voran.

„Ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.“

Deutschland, eine Trümmerstätte.

Was fehlt dem Land? Genau 14,5 cm – um ein brückenbauendes, gut funktionierendes Land zu sein, in dem Menschen sich wohlfühlen. Nicht nur die Kanzlerin kann keine Brücken bauen:

„Im bayerischen Bürgstadt sollte eine neue Brücke für Fußgänger und Radler über den Fluss Erf gesetzt werden. Doch ihr fehlten 14,5 Zentimeter. Das Missgeschick fiel erst auf, als die rund 3,5 Tonnen schwere Brücke schon mit einem Kran über dem Fluss hing.“ (SPIEGEL.de)

Nennen wir es das BER-Syndrom: kostet Geld, passt nicht, bringt nichts. Rilke hat es geahnt:

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein(e) ernste(r) Hergereiste(r),
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

Angela, du bist groß.

Die Konturen dämmern und verdämmern. Der ernste Hergereiste kann eine demütige Pastorentochter sein, die den Sozialismus mit der Kraft ihrer Gebete überwand. Als sie kam und siegte, hatte sie bereits zwei Väter aus dem Weg geräumt. Ihren leiblichen Vater, der dem Kapitalismus entflohen war, um sich dem Sozialismus an die Brust zu werfen, und ihren westlichen Ziehvater Kohl, den sie mit einem kaltblütigen Artikel nach Oggersheim verbannte. Kaltherzige Freudianer würden von einer Vatermörderin sprechen.

„Freuds Conclusio: Die psychischen Folgen des Vatermordes stellen die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kultur dar.“ „Allein der Neurotiker ist vor allem im Handeln gehemmt, bei ihm ist der Gedanke der volle Ersatz für die Tat. Der Primitive ist ungehemmt, der Gedanke setzt sich ohne weiteres in die Tat um, die Tat ist ihm sozusagen eher ein Ersatz des Gedankens.“

Ungehemmte Primitive – von solcher Art sind unsere Regierenden nicht. Bei ihnen setzt sich kein Gedanke in die Tat um. Unsere Mächtigen sind anständige Neurotiker, die im Handeln so herrlich gehemmt sind. Ihre Gedanken bleiben Absichtserklärungen, die sich weigern, primitive Taten zu werden. Ihre tatenfreie Reinheit behüten sie wie einen Augapfel.

Jetzt aber die schicksalsschwere Frage: gibt es auch MuttermörderInnen? Muss auch die dominante Mutter beseitigt werden, damit Deutschland ein Land der Sittlichkeit werden kann?

Was waren die Folgen des Vatermordes?

„Nachdem die Brüder den Vater beseitigt, ihren Hass befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mussten die dabei überwältigten Regungen zur Geltung kommen. Es geschah in der Form der Reue, und es entstand ein Schuldbewusstsein. Der Tote wurde stärker als der Lebende gewesen war. Im nachträglichen Gehorsam verboten sich die Brüder nun selbst, was er früher durch seine Existenz verhindert hatte – es entstand eine „innere Instanz“. Die ursprüngliche demokratische Gleichstellung der Brüder war daher nicht zu halten, und das alte Vaterideal wurde in der Schaffung von Göttern wiederbelebt – die Söhne transzendierten das Bedürfnis nach der Herrschaft, nach der Institution. Die Erbsünde des Vatermordes blieb aber existent. Christus erlöste sie schließlich durch die Opferung seines Lebens.“

Wenn Vater- und Muttermord äquivalent wären, käme einiges auf uns zu: die Gleichstellung der Brüder wäre nicht mehr zu halten.

Eine Gleichstellung der Schwestern kennt der Frauenverächter Freud nicht. „Was will die Frau“?, fragte er. Erfüllt von Penisneid hatte die Frau noch nicht mal ihre Vagina entdeckt. Der gemeuchelte Vater wurde durch Götter ersetzt, die mit Omnipotenz ausgestattet wurden, damit die Frauen ihn nicht töten könnten. Seitdem ragen die Omnipotenzphalli der Männerkulturen in allen Metropolen der Welt gen Himmel. Doch das reichte noch nicht. Fliegende Riesenphalli müssen in den Weltraum abheben, um garantiert vaginafreie Planeten im Weltall zu entdecken.

Der Sohn des Vaters lässt sich unschuldig ermorden, um den Mord am Vater zu sühnen. Weltgeschichte machen die Männer unter sich aus. Wenn aber der Sohn begraben wird, was bleibt da den Frauen noch zu tun?

„Und Josef nahm den Leib und wickelte ihn in ein reines Leinentuch und legte ihn in sein eigenes neues Grab, das er in einen Felsen hatte hauen lassen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging davon. Es waren aber dort Maria Magdalena und die andere Maria; die saßen dem Grab gegenüber.“

Frauen müssen Trauer tragen, wenn ihre Männer und Söhne sich gegenseitig um die Ecke bringen. Wenn aber Wunder geschehen, dürfen sie den Siegern die Füße küssen:

„Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen.“

Wird es die Deutschen reuen, wenn sie ihre nationale Trösterin ins Ossiland zurückschicken werden? Täterin ihres Worts war sie nie. Mit primitiven Taten, die nur die sündige Welt einige Tage länger am Leben erhalten würden, hat sie sich nie abgegeben. Hätte sie ihrem himmlischen Vater die Ehre vorenthalten dürfen, das Geschick seiner Schöpfung solo verbo zu bestimmen?

Eine große Reue wird übers Land kommen, wenn die Deutschen ihre Kanzlerin in ihre Heimat zurückschicken werden. Nirgendwo zeigen sich Männer, die ihre Tröstungsfähigkeiten auch nur zum geringsten Teil ersetzen könnten. Sie tröstete, indem sie schwieg. Ganz nach dem Vorbild ihres Herrn und Heilands. Mit dieser Welt ist nicht zu reden. Sie ist zum Untergang verurteilt:

„Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen? Aber Jesus schwieg still.“

Deutschlands Trümmerstätte wird zur psychischen Schädelstätte, zur desolaten Nation, die sich selbst kreuzigen wird.

Es sei … Es sei, junge Deutschen stürmen die Parlamente und jagen die ganze korrupte Corona davon.

Doch Hilfe naht – nicht nur gegen den schwarzen Filz: „Schamlose Maskendeals, dubiose Auslandskontakte, horrende Nebenverdienste von Abgeordneten: Im Superwahljahr produzieren CDU und CSU ihren größten Skandal seit 20 Jahren.“ (SPIEGEL.de)

Die geschmähte Moral kehrt in die Republik zurück. Alle Christdemokraten müssen ein Papier unterschreiben, in dem sie geloben, sich an Recht und Gesetz zu halten. Vor allem an das, was sich ungeschrieben von selbst versteht: an Moral, Ethik, Sittlichkeit und wie man diese Eitelkeit der Gutmenschen noch bezeichnen mag.

Eine geniale Lösung. Sollten sie dennoch – was mit erbsündiger Sicherheit eintreten wird – rückfällig werden, könnten sie ihr papiernes Gelöbnis beliebig auf ein neues Papier übertragen und feierlich erklären: Sollte uns die Sünde erneut überfallen, geloben wir, in Reue zu versinken und mit der Gnade unseres himmlischen Vaters wieder von vorne zu beginnen.

Dieser Prozess lässt sich beliebig wiederholen. Gläubige sprechen von Schuld, Reue und tätiger Sühne. Beichte, Buße und als neuer Mensch wieder fröhlich sündigen: das ist des Christen abwechslungsreiches Leben.

Wo aber bleiben die Kohorten des Amoralismus der WELT? Müssten sie nicht schäumen gegen die Rückkehr dieses armseligen Moralismus?

Nun könnten sie zeigen, was sie drauf haben, wenn Reichelt, Chef der BILD, wegen anrüchigen Verhaltens von seinen eigenen Leuten angegriffen wird. Raus mit den Kanonen der grenzenlosen Freiheit und alle Moralpinscher niederkartätscht. Selbst Döpfner, oberster Repräsentant des deutschen Journalismus, wird angegriffen, weil er den Machenschaften des BILD-Rabulinskis tatenlos zugesehen hat.

„Letzten Endes muss Döpfner sich zurechnen lassen, dass er schon bei anderen Vorfällen nicht eingeschritten ist und Reichelt weiter gewähren ließ. Zuletzt musste sich Döpfner öffentlich für die Berichterstattung der „Bild“ im Kriminalfall von Solingen entschuldigen. Es gab auch Verwerfungen, als Tanit Koch als „Bild“-Chefin abgetreten ist, die mit Reichelt in einer Doppelspitze gearbeitet hat. Döpfner hat Reichelt, so wirkt es, immer unterstützt und damit auch dessen Radau-Kurs mitgetragen. Als CEO ist er mitverantwortlich.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Die innere Krise des deutschen Journalismus lässt sich nicht länger vertuschen. Nicht nur in der Politik geht es ans Großreinemachen.

Ulf Poschardt, rasender Blitz gegen jedweden Moralismus, zieht es indessen in den Schwarzwald zu den Tiefen der Ontologie. Er will einen Nazi-Philosophen namens Heidegger rehabilitieren. Sollte Moral praktischer Humanismus sein: wäre es nicht angemessener, den Heidegger‘schen Antihumanismus wieder zu beleben, als immer wieder den Amoralismus zu predigen?

Nach dem Krieg schrieb der Freiburger seinen berühmten „Brief über den „Humanismus“. In einem Interview mit Rudolf Augstein fasste er seinen Groll gegen den Humanismus des Abendlands in einem Satz zusammen: Nur Gott kann uns helfen. Mit solch trivialen Begriffen gab er sich sonst nicht ab. Stattdessen sprach er von Seinsvergessenheit, Ek-sistenz und sonstigen Kostbarkeiten. Was er meinte, war:

„Für Heidegger war Humanismus lediglich eine Verbrämung der Weltherrschaft unter der Überschrift eines Amerikanismus, Bolschewismus oder Faschismus. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass in Heideggers Spätwerk die Handlungskompetenz und Aktivität des Menschen stark eingeschränkt wird und dieser mehr durch Sein, Geworfenheit und Ek-sistenz bestimmt wird, denen gegenüber er sich passiv als Hirt des Seins verhalten kann. Heideggers Kritik der Ethik und der Werte läuft auf eine Ablehnung aller vom Menschen ‚gemachten‘ Ethik hinaus und steht damit fast jeder philosophischen Konzeption seit der Antike entgegen. Indem Heidegger die Ethik auf Platon zurückführt und sie der Seinsvergessenheit zeiht, bestimmt er alle Projekte der abendländischen Ethik als durch diese Seinsvergessenheit geprägt“.

Den Marktplatz-Streuner Sokrates auch nur zu erwähnen, ist eines hohen deutschen Philosophen nicht würdig. Nur Habermas wagte es, dem Weltendenker zu widersprechen:

„Heideggers Versuch, eine „ursprüngliche Ethik“ als Ethos zu etablieren, wurde vor allem von Jürgen Habermas kritisiert. Wenn der Nomos, die Gesetze, vom Sein selbst her zugeschickt (ereignet) werden, bleibt kaum Raum für Auto-nomie, also Eigen-gesetzlichkeit des menschlichen Handelns: „[So] löst er [Heidegger] überhaupt seine Handlungen und Aussagen von sich als empirischer Person ab und attribuiert sie einem nicht zu verantwortenden Schicksal.“

Was Heidegger einst in der Nazizeit Führer nannte und grenzenlos bewunderte, nannte er nach dem Krieg Unverborgenheit des Seins. Und wen wundert es, dass aus Führer – Gott wird? Diese gewaltigen Schicksalsmächte werden heute Fortschritt und Wirtschaftswachstum genannt – und von der gottgläubigen Kanzlerin angebetet. Wenn übermächtiges Geschick bestimmt, hat das Menschlein dem Ruf schweigend zu folgen. Begriffe ändern sich, die Unterwürfigkeit der Deutschen nicht.

Was aber ist Moralismus? Nichts anderes als Moral? Kein deutscher Schreiber hält es für sinnvoll, seine Begriffe zu definieren. Begriffe wären ja stabile Bezeichnungen für gewisse Sachverhalte. Da aber wittern deutsche Verwirrdenker sogleich „zeitlose Begriffe“. Zeitlose Begriffe sind heidnischen Ursprungs und verstoßen gegen den religiösen Kairos oder die vorübereilende Zeitlichkeit aller Dinge, die alle Wahrheiten von Augenblick zu Augenblick schreddern oder ins Gegenteil verkehren können. Für Griechen hingegen blieben Wahrheiten immer gleich. Das Wahre blieb immer wahr.

Doch für Christen war Zeitlosigkeit ein Sakrileg. Bei ihnen galt das Prinzip: Alles hat seine Zeit. Die Wahrheit von gestern ist die Lüge von heute. Weshalb deutsche Edelschreiber sich im Takt des Zeitgeists ändern können – ohne ihren Unsinn von gestern revidieren zu müssen.

„Die erste große Manifestation des neuen Moralismus in Deutschland ist das Wartburgfest, das Studenten (damals noch ohne weibliche Kommilitonen) 1817 veranstalteten. Dabei präsentierten sich deutsche „Burschenschafter“ nicht nur als Befürworter der deutschen Einheit und als Kritiker der europäischen Fürstenherrschaft. Sie verbrannten auch erstmals in großem Stil Schriften von Leuten, die ihnen unliebsam waren, weil sie ihren politischen Zielen im Wege standen.“ (WELT.de)

Was hier Moralismus genannt wird, ist nichts als Gewalt und Meinungsterror gegen Andersdenkende. Sollte Moral identisch sein mit faschistischen Methoden? Dann freilich wäre es überfällig, sich von jeder Moral zu distanzieren.

Begriffe wie Moralprediger oder Abkanzelungskultur aber zeigen, dass hier alles schief läuft. Wer Moral predigt, stülpt sie im Namen einer Offenbarung den Zuhörern über. Gehorchen sie nicht den von oben verabreichten Geboten, werden sie exkommuniziert und landen in der Hölle.

Mit Vernunftmoral haben Abkanzelungen nichts zu tun. Rationale Moral argumentiert und appelliert an das autonome Denken jedes Menschen. Tritt Moral mit Verheißungen und Drohungen auf, handelt es sich um göttliche Gebote, die strikt befolgt werden müssen.

Vernunft kämpft standhaft um die Wahrheit ihrer selbstbestimmten Erkenntnis. Sie sagt klar und deutlich, was sie für wahr und unwahr hält. Niemals aber verflucht sie Andersdenkende in die Hölle. Oder vernichtet sie mit Gewalt wegen mangelnden Respekts vor höheren Mächten. Das Schwarz-Weiß-Denken deutscher Philosophen ist die Frucht einer unfehlbaren Offenbarungswahrheit, gegen die niemand Einspruch erheben darf.

Es gibt ein Schwarz-Weiß von Wahrheit und Irrtum und ein Schwarz-Weiß jenseitiger Offenbarung und höllischer Verdammung. Die erste Wahrheit ist das absolute Gegenteil der zweiten. Deutsche verrühren die unvereinbarsten Widersprüche zu einem ungenießbaren Einheitsbrei. Logischer Stringenz zu folgen, ist eine Zumutung für widerspruchs-vernarrte Deutsche, die vom Risikospiel der Unvernunft nicht genug kriegen können. Warum einfach, wenn‘s kompliziert und gefährlich sein kann? Lebe gefährlich, lautete das Motto italienischer Faschisten.

Auch Kirchen müssten sich moralisch erneuern. Längst stecken sie im Sumpf des Kinderschändens, der Steuerhinterziehung und – der Verfälschung der Schrift, die sie Hermeneutik nennen. Fundamentalistische Pietisten, die sich auf das unverfälschte Wort berufen, werden von ihnen misstrauisch beobachtet und diffamiert.

In ihrer Schrifttreue ähneln deutsche Pietisten den fundamentalistischen Christen Amerikas. Die Aversion deutscher Großkirchen gegen diese Pietisten (die Luthers sola scriptura am getreuesten folgen) ist deutscher Hochmut als versteckter Antiamerikanismus.

„Das Spektrum ist vielfältig. Evangelikale Gruppen, Pfingstkirchen, charismatische Kirchen. Was sie verbindet? „Eine Art Moderne-Müdigkeit, das Gefühl, dass traditionelle Werte nicht mehr gelten“, sagt Werner. Die An­hän­ge­r:in­nen sprechen oft von der Rettung des Abendlands, von der Mis­sio­nie­rung Nichtgläubiger. Häufig mit martialischen Begriffen. Die Rede ist von den Soldaten, die vor der Schlacht stehen, vom Krieg, der bevorsteht.“ (TAZ.de)

Infam sind die Vorwürfe der Großkirchen gegen die „Sekten“, denn hier maßen sich Willkürdeuter und Verfälscher der Schrift an, „unaufgeklärte“ Christen als Eigenbrötler, ja, als Fanatiker zu diffamieren.

„“Antworten mit der Hand auf der Bibel sind attraktiv“, sagt Probst. “In der evangelikalen Bewegung ist bei aller Verschiedenheit wahrzunehmen, dass die Welt da draußen in Gut und Böse eingeteilt wird, es also zu einem Schwarz-Weiß-Denken kommen kann“, sagt Gunda Werner. Sie ist Theologin und leitet das Institut für Systematische Theologie.“

Moderne Theologen fühlen sich den Steinzeitpietisten haushoch überlegen, obgleich sie es sind, die sich die biblischen Lehren in beliebiger Willkür zurechtlegen und deformieren.

Indem die Kirchen sich als „objektive Beobachter“ der „Sekten“ ausgeben, präsentieren sie sich der Gesellschaft als die Aufklärer unter den Erleuchteten. Ein schändliches Spiel. Und die Medien machen immer mit. Wenn sie fromme Außenseiter charakterisieren müssen, fragen sie bei wem nach? Bei den „Sektenbeauftragten“ der Großkirchen. Die sind über alle Zweifel erhaben.

Demokratien leben von Kritik. Vernunft hat unmissverständlich zu sagen, was sie für richtig und falsch hält. Diese Kritik wird zunehmend mit religiöser Verdammung gleichgestellt – und verworfen, sodass der Begriff Kritik kaum noch zu hören ist. Indem Kritik immer mehr mit Richten im Namen eines Jüngsten Gerichts identifiziert wird, wird sie zunehmend torpediert.

Unfehlbares Richten muss tatsächlich angegriffen werden. Nicht aber Kritik auf gleicher Augenhöhe, die nur Argumente und Stellungnahmen kennt. Hier wird niemand verflucht, niemand selig gesprochen. Hier gibt es keine quantitative Normalität, die alles Abweichende als abnormal verdammen kann. Sydney Gennies wirft Wolfgang Thierse vor, sich als Inbegriff des Normalen zu definieren, um alles Nichtnormale zu verfemen.

Ich bin mittlerweile zum Symbol geworden für viele normale Menschen, die ihre Lebensrealität nicht mehr gespiegelt sehen in der SPD, die unsicher sind, was sie noch sagen dürfen und wie sie es sagen dürfen.“ Und: „Wissen Sie eigentlich, dass normale Leute mir danken für meinen Mut?“. (TAGESSPIEGEL.de)

Gennies empfindet diese zur Schau gestellte Normalität als Überheblichkeit, die Nichtnormale abwertet und ausschließt. Seine Schlussfolgerung:

„Normalität darf deswegen nie zur Kategorie in politischen Auseinandersetzungen werden. Nicht wieder werden. Wie schlecht gealterte Filme kann sie nur als eines noch nützlich sein: Mahnung zum Fortschritt.“

Richtig ist jede Kritik an einer vermeintlichen Überlegenheit, die mit anderen nicht mehr redet, sondern sie verdammt. Doch Gennies‘ Kritik geht zu weit. Eine statistische Norm kann er nicht von einer politisch-philosophischen unterscheiden. Statistische Norm ist die willkürliche Festlegung eines Vorbildlichen aufgrund quantitativer Vergleiche. Diese Norm aber ist abhängig vom Ganzen. Ist das Ganze schlecht, ist die Norm des Ganzen schlecht. Die durchschnittliche Norm eines Deutschen im Dritten Reich war – der begeisterte Nationalsozialist. Der Durchschnitt einer begabten Spitzenklasse ist – ein Begabter.

Ganz anders die politisch-philosophische Norm. Sie ist autonom erdacht, durchstritten und bewährt. Sophie Scholl war die Norm einer aufrechten Humanistin und Widerständlerin, beileibe keine statistische Norm des völkischen Staates.

Gorbatschow war kein normaler Sowjetmarxist, sondern die Ausnahme eines demokratischen Menschenfreunds, der Frieden mit der Welt wollte. Das trifft für alle Ausnahmemenschen zu, die wir als Leuchten und Vorbilder einer friedlichen Welt bewundern.

Nicht auf allen Gebieten benötigen wir generelle Normen. In wesentlichen Punkten des politischen Zusammenlebens aber sind Normen als Leitziele unersetzbar. Die Norm einer Demokratie ist – eine gute Demokratie, die Norm einer humanen Wirtschaft – Gerechtigkeit und Verträglichkeit mit der Natur.

Die deutsche Politik glaubt, keiner Norm zu bedürfen, sondern das Erfolgreiche und Mächtige immer weiter ins Endlose fortzusetzen. Was ist, ob gut oder schlecht, soll immer sein. Das ist die Norm des Wahns, der sich eines Tages selbst zugrunde richten wird.

Wir aber brauchen die Norm der Vernunft.

Fortsetzung folgt.