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Alles hat keine Zeit LXXVII

Tagesmail vom 10.02.2021

Alles hat keine Zeit LXXVII,

Mit der Kanzlerin geht’s bergab. Wie steht‘s mit der Presse, die im „polit-publizistischen Inzest“-Verfahren über viele Jahre hinweg von ihr gefügig gemacht wurde? Man könnte auch sagen, von der Lutheranerin zur Römer-13-Untertänigkeit zugeschliffen wurde?

„Aber im politisch-publizistischen Komplex Berlins gedeiht allzu leicht die Versuchung, mehr fürs Kanzleramt und die tägliche Presseschau des Bundespresseamtes zu schreiben als für die Leserinnen und Leser. Es entsteht eine Art polit-publizistischer Inzest. Das Belohnungssystem ist voll darauf ein- und ausgerichtet. Man werfe den ersten Stein immer am besten auf sich selbst. Also: Als „Spiegel Online“ noch als der Taktgeber der Berliner Republik galt, hatte ich einmal einen kritischen Kommentar zur Kanzlerin geschrieben. Es dauerte nur eine halbe Stunde, und ich hatte den stellvertretenden Regierungssprecher am Telefon, der mir schöne Grüße von der Kanzlerin ausrichtete, die meine Texte immer gern und mit Gewinn lese, aber diesmal lasse sie doch ausrichten, dass ich da voll danebenliege. Ein anderes Mal lud die Kanzlerin ein halbes Dutzend Kollegen an ihren Abendbrottisch im Kanzleramt, und am nächsten Tag ließ der Regierungssprecher am Telefon wissen, dass die Kanzlerin doch ganz angetan gewesen sei von der ruhigen und besonnen-klugen Art, die man da an den Tag gelegt habe.“ (WELT.de)

Eine der schärfsten Selbstkritiken des Journalismus, die man heutzutage lesen kann. Die deutsche Presse neigt nicht zur Devise: erkenne dich selbst. Wenn der Pöbel auf der Straße „Lügenpresse“ skandiert, ist sie empört und reagiert unerbittlich. Da wird nicht die Frage gestellt: wie kommen unsere Leser dazu, derart zuzuschlagen? Der mit dem sozialen Netz aufkommende Shitstorm war unter anderem die Reaktion eines bis dahin zur Stummheit verurteilten Publikums, das sich endlich Luft machen konnte.

Die Namen Skinner und Pawlow muss man nicht kennen, denn Konditionieren mit Schmeicheln und geschicktem Hofieren sind uralt. Wer besitzt heute die Qualitäten eines knorrigen Heraklit, der die Einladung des persischen Königs ablehnte, weil er dessen Selbstherrlichkeiten für empörend hielt? Wer die Qualitäten eines unbeugsamen Diogenes, der dem aufgehenden Stern Alexander ins Gesicht sagte: Geh mir aus der Sonne?

Die Deutschen können so unzufrieden sein mit ihrer Regierung, wie sie wollen: wenn sie eine Einladung aus Bellevue erhalten, um mit einem Verdienstkreuz dekoriert zu werden, sind sie für den Rest ihres Lebens ruhig gestellt. Nichts geht über die Anerkennung jener, die dem Himmel am nächsten sind. Es ist ein großes Versäumnis der Demonstranten, ihren Helden keinen Orden wider die deutsche Kriecherei zu verleihen.

Die deutsche EU-Chefin stammt aus der Schule Merkel:

„Schon als Bundesverteidigungsministerin hatte sich Ursula von der Leyen stets darum bemüht, die Kontrolle über ihre öffentlichen Äußerungen zu behalten. Wo immer es ging, vermied sie es, dass ihre Antworten auf unangenehme Fragen von Jour­na­lis­t:in­nen zitiert werden konnten. Während ihrer Amtszeit hielt sie keine „klassischen“ Pressekonferenzen ab, sondern lud lieber zu „Hintergrundgesprächen“ in den Berliner Bendlerblock. Bild- und Tonaufnahmen waren nicht gestattet und die Ministerin durfte nicht namentlich zitiert werden. Verwendet werden konnte nur ein kurzes, vorbereitetes Statement, das sie stets im Anschluss in die Kameras sprach – ohne den Jour­na­lis­t:in­nen dann noch die Möglichkeit zu ausführlicheren Nachfragen zu geben.“ (TAZ.de)

Wer zu einem Hintergrundgespräch im Kanzleramt geladen wird, ist journalistisch geadelt. Was darf man sich unter „kritischen Fragen“ vorstellen, die auf Pressekonferenzen zu hören sind?

„Es dauerte geschlagene 27 Minuten im Frageteil, bis endlich ein Reporter eine kühle, klare, konfrontative Frage zum fehlenden Impfstoff stellte („Haben Sie persönlich da etwas falsch gemacht? Müssen Sie sich entschuldigen?“). Bis dahin durfte Angela Merkel in Fragen nach ihrer physischen und psychischen Befindlichkeit, zu ihren hohen Beliebtheitswerten und ihrer etwaigen Erleichterung über den neuen US-Präsidenten geradezu ein Schaumbad nehmen.“

Nicht anders als in einer der seltenen Fragestunden des Bundestags. Was Schwennicke konfrontative Fragen nennt, hat mit Kritik nichts zu tun. Kritik streitet, stellt fest, begründet, argumentiert – und bleibt aufrecht bei ihrer Meinung, bis sie widerlegt wird. Alles andere sind Scheinfragen, die den Befragten die Gelegenheit geben, mit Plattitüden den Kritikern den Mund zu stopfen.

Weswegen es auch keine kritischen Interviews geben kann. Alles, was kein strenges Streitgespräch ist, ist Show. Wer sich mit Fragen oder Zitaten anderer begnügt, spricht von Unten nach Oben und respektiert untertänig das Machtgefälle. Streiten und kritisieren aber sind Vorgänge auf gleicher Augenhöhe.

Der Journalismus ist zu einem Zitier-Monstrum mit scheinkritischer Maske verkommen. In konfrontativen Gesprächen müssten die Beobachter Farbe bekennen. Genau dies verweigern sie in Interviews. Da es kaum „kritische Nachfragen“ gibt, genügt rhetorisches Geplapper, um gesichtswahrend davonzukommen. Streiten würde bedeuten, dass die Presse ihre vorgegaukelte Unparteilichkeit den Hühnern geben müsste.

Die Öffentlich-Rechtlichen sind Musterbeispiele für alibi-kritische Schaumschlägereien. Mit Sondersendungen bringen sie es fertig, der Kanzlerin Gelegenheit zur Selbstheiligung zu geben. Sie zitieren erwartbare Stichworte und schlucken stumm die „alternativlosen“ Unfehlbarkeiten Merkels.

Nach jeder TV-Audienz steigen ihre Umfragewerte. Die stichwortgebenden Leistungen der TV-Vertreter werden von keiner Gazette unter die Lupe genommen. In Talkshows dominieren Regierungsvertreter, die ihre Ungereimtheiten mühelos unters Volk bringen können. Etwaige Kritiker werden durch Gegenkritiker neutralisiert, sodass die Mächtigen mühelos davonkommen. Kein Gespräch, in dem das Volk auch nur ansatzweise seine Meinungsvielfalt los werden könnte. Hat es je Gespräche mit „Esoterikern, Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern und Populisten“ gegeben – um einmal die Sündenböcke vom Rand der Gesellschaft zusammenzufassen?

Das ganze TV-Geschäft atmet nur noch panem et circenses mit politischen Seitenbemerkungen. 90% aller Sendungen sind tagelanger Sport, trübsinnige Wiederholungen und Abfragen von Absurditäten. Der Presseclub fällt aus, wenn Wintersport von morgens bis abends für das Wohlbefinden der Nation sorgen muss.

TV-ModeratorInnen machen wochenlang Urlaub, ob es in der Weltpolitik zischt oder kracht. Sollte eines Tages der Weltuntergang bevorstehen, wird es einen Brennpunkt von üppigen zehn Minuten geben – bevor Nemesis den Stecker ziehen wird. An Hauptsendezeiten ist öde Politik tabu. Zuerst Unterhaltung, dann Unterhaltung, am Ende des Tages – Unterhaltung. Dazwischen, in karg bemessenen Zeitnischen, politische Chiffren und kurzatmige Sensationen.

Woran erkennt man deutsche Interviews – außer an launischen Fragen, die ihre Antworten schon auf der Zunge tragen? An der Abwesenheit logisch entscheidender Zentralfragen.

In einem Gespräch mit der SZ über Antisemitismus erläutert Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, seine Akzeptanz des „jüdischen“ Staates Israel:

„Wenn ich Israel zugestehe, sich als jüdischen Staat zu definieren, dann heißt es für mich, dass es eine jüdische Mehrheit gibt. Nur: Wenn ich dann die Forderung nach einem Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge nach Israel höre …“ (Sueddeustche.de)

a) Wenn er zugesteht? Und wenn nicht? Ist er so mächtig, dass sein Zugeständnis Israel als jüdischen Staat legitimieren kann? Ist der Staat jüdisch, kann er keine Demokratie sein, denn dort sind alle Rassen und Religionen gleichberechtigt. Ein jüdischer Staat wäre eine scheindemokratische Theokratie. Warum aber wird beteuert, Israel sei die einzige Demokratie in Nahost?

b) Zeigte Netanjahus Attacke gegen den Internationalen Gerichtshof nicht überdeutlich, dass sein Antisemitismus -Vorwurf vor allem der Verteidigung seiner menschenrechtsfeindlichen Politik zu dienen hat? Der Gerichtshof beruft sich auf das universelle Völker- und Menschenrecht, das in der UN-Charta niedergelegt ist. Netanjahus Kritik beweist, dass sein Antisemitismus-Vorwurf gegen das Gericht mit universeller Humanität unvereinbar ist.

Beide Fragen werden von der SZ nicht gestellt. Ähnliche Beobachtungen lassen sich in unzähligen anderen Interviews machen. Die Unfähigkeit der Deutschen zu kritischem Denken beruht auf der Scheu, die Gefragten allzu sehr in Bedrängnis zu bringen. Mit Argumenten zu siegen, sei lästerliche Besserwisserei, zu unterliegen, bedeute geradezu einen Gesichtsverlust.

Der griechische Wettbewerb der Vernunft ist Deutschen ein heidnischer Gräuel. Wer sich, wie auch immer, einer unfehlbaren Religion verpflichtet fühlt, für den ist jede autonome Wahrheitssuche eine Blasphemie. Also dürfen sie nicht widerlegen, weil sie nicht widerlegt werden wollen. Was bleibt? Stroherne Fragen, aber keine Meinungen, scheindialogische Spielchen, aber ohne „Sieger und Verlierer“, ohne „Hell oder Dunkel“, ohne „Schwarz oder Weiß“. Ausgerechnet Kategorien jener Religion, der sie sich verpflichtet fühlen. Mit anderen Worten: das Entweder-Oder ihres religiösen Dualismus hassen sie wie die Pest. Und dennoch dürfen sie sich von dieser Religion nicht trennen.

Zudem wurzelt die Scheu vor logischer Rigidität – die keinen Heils- oder Unheilsdualismus kennt – in der Dialektik Hegels, die alle Widersprüche am Ende par ordre de mufti versöhnt. Theologisch gesprochen: am Ende der Geschichte versöhnen sich Gott und sein Widersacher. Die finale Versöhnung ist kein logischer Akt, sondern ein Triumph göttlicher Gewalt, die sich Weisheit nennt, da sie über allen Widersprüchen steht.

Nach griechischer Vorstellung kann sich die Wahrheit nur dann durchsetzen, wenn sie die Kraft besitzt, die gegnerische Seite nicht nur logisch in die Knie zu zwingen, sondern das Selbstbewusstsein aufbringt, deren Irrtümer durch sanfte Vorbildlichkeit zu überwinden. Die Geschichte ist kein Kampf zwischen Gott und Teufel, sondern ein Ringen um die beste Weltgestaltung. Der Mensch ist lernfähig. Seine Irrtümer kann er – denkend und handelnd – ad acta legen.

Zweites Beispiel. In einem SPIEGEL-Interview behauptet Martin Baron, Ex-Chef der Washington Post:

„Dazu muss man erst mal verstehen, was Objektivität bedeutet. Der Begriff wurde vor hundert Jahren von Walter Lippmann geprägt, einem der bemerkenswertesten Journalisten Amerikas. Objektivität heißt nicht, neutral zu sein oder immer beide Seiten wiederzugeben. Sie berücksichtigt, dass wir alle vorgefasste Meinungen haben und versuchen sollten, diese so weit wie möglich beiseitezulassen, wenn wir an unsere Berichterstattung gehen. Gute Berichterstattung heißt, dass wir den Leuten erklären, was wir herausgefunden haben – und dass wir dies direkt, ehrlich und unbeirrt tun. Wir reden nicht um den heißen Brei herum. Wir tun nicht so, als könnten wir nichts Definitives sagen. Ich halte einen solchen Objektivitätsbegriff für ein gutes Prinzip, das wir befolgen sollten. Wir sollten für nichts anderes eintreten als für die Fakten und die Wahrheit.“ (SPIEGEL.de)

Muss ein Scherz sein, dass der Begriff Objektivität aus der Moderne stammen soll. Objektiv sein, hieß für die Griechen, Wahrheit suchen, Wahrheit erkennen, Wahrheit standhaft vertreten. Subjektiv hingegen bedeutete Abschiednehmen von aller objektiven Wahrheit.

Mit Nietzsches Worten, der die sophistische Subjektivität aktualisierte: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.“

Als die Griechen sich von der „objektiven Wahrheit“ ihrer Religion verabschiedeten, mussten sie neue Kriterien finden. Es war unausweichlich, dass an die Stelle der Götter der Mensch treten musste. Hier formulierte der Wanderlehrer Protagoras seinen berühmten homo-mensura-Satz: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Der wurde später zum Fundament der sophistischen Subjektivität, dem Gegenteil der objektiven Vernunftwahrheit aller sokratischen Schulen.

Doch Vorsicht, der Satz ist zweideutig. Einerseits meint er richtigerweise, weder Götter, noch der Kosmos der Naturphilosophen könnten die Wahrheit des Menschen bestimmen, sondern ausschließlich er selbst. Zwar ist Vernunft in der Natur verankert, doch diese nötigt ihn nicht zu ferngesteuerten Dogmen. Der Mensch muss seine Wahrheiten selber suchen und finden. Die Naturphilosophen mögen Wahrheiten des Kosmos entdeckt haben, doch dieser kann den Menschen keine Wahrheiten vorschreiben. Der Mensch muss seine eigene Wahrheit ausfindig machen. Niemand nimmt ihm diese Aufgabe ab. Suchend bestimmt der Mensch das Maß seiner Dinge.

Hier trennen sich die Geister. Welcher Mensch? Wenn es doch so viele Menschen auf der Welt gibt, die alle ihre verschiedenen Meinungen haben? Für Sokrates war Vernunft die universelle Wahrheitsinstanz aller Menschen. Irren war der Fehler einer subjektiven Vernunft, die sich mit allen anderen Menschen auseinandersetzen muss, um die objektive Wahrheit zu finden.

Die Sophisten verwarfen diese allgemeine Vernunft des Menschen. Für sie war jeder Mensch ein unvergleichliches Wesen, das keine Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen hatte. Subjektivität wurde zur Fähigkeit jedes Einzelnen, seine und nur seine eigene Wahrheit festzulegen. Gemeinsame Wahrheiten zu suchen, wäre Humbug für sie gewesen. Nietzsches Satz hätten sie mit vollem Herzen zugestimmt.

Die Folgen dieses griechischen Autismus für die Demokratie lagen auf der Hand: Streitgespräche, um den Gegner zu überzeugen und zur schiedlichen Einigung zu kommen, waren abwegig.

Es ergab sich eine doppelte Bedeutung von Kompromiss in der Volksversammlung, der durch Mehrheitsentscheidung gefunden wurde. Für Objektivisten war Kompromiss eine pragmatisch notwendige, aber nur vorläufige Einigung, die eines zukünftigen Tages durch Nachdenken doch noch gefunden werden könnte. Für „Subjektivisten“ blieb diese Hoffnung auf vernünftige Einigung sinnlos. Was blieb?

„Mit dem Homo-Mensura-Satz kippt die Demokratisierung um in die Lehre vom Recht des Stärkeren.“ (Demandt)

Oder in das Naturrecht der Starken, wie Nestle formuliert hätte. Die moderne Übernahme des antiken Subjektivismus begründete die Linie Hobbes über Darwin bis Nietzsche: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Das anpassungsfähigste, stärkste Tier wird seine schwachen Konkurrenten beiseiteschieben. Der Übermensch, jenseits von Gut und Böse, erringt mit überlegener Gewalt das Regiment über die Völker.

Welche entscheidende Frage wurde vom SPIEGEL nicht gestellt? Zuerst behauptet Baron, Objektivität bedeute nicht, neutral zu sein oder beide Seiten wiederzugeben. Dennoch sollten wir versuchen, unsere „vorgefassten Meinungen“ beiseitezulassen. Das widerspricht den folgenden Sätzen, dass wir unbeirrt für Fakten und Wahrheit eintreten sollten. Just das aber wäre Eintreten für objektive Wahrheit. Wenn wir glauben, unsere vorgefasste Meinung sei identisch mit der Wahrheit, warum sollten wir sie beiseitelassen? Ein klaffender Widerspruch.

Zudem: wer für die Wahrheit eintritt, sollte stets „beide Seiten“ wiedergeben. Denn überzeugende Wahrheit ergib sich nur durch den Streit aller Seiten.

Wenn der Journalismus die verschiedenen Seiten der Medaille wiedergibt, danach seine eigene Meinung als Ergebnis dialogischen Suchens hinzufügt: was wäre dagegen einzuwenden? Jeder Leser könnte die verschiedenen Aspekte des Problems mit dem eigenen Kopf durchdenken und zu seinem eigenen Ergebnis kommen. Das wäre vorbildlich philosophisch, somit vorbildlich demokratisch.

Ergebnis: es gibt keinen sinnvollen Grund für die Medien, ihre Meinungen zu verstecken. Um ihre Neutralität zu rechtfertigen, erklären die Edelschreiber, sie wollten ihr Publikum nicht unfair beeinflussen.  Das erweckt den Eindruck, journalistische Brillanz könnte törichte Leser nach Belieben ihres Weges führen. Das ist narzisstische Anmaßung.

Margarete Stokowski wehrt sich zu Recht gegen den Vorwurf, Journalisten dürften keine Aktivisten sein. Wenn sie die Pflicht haben, die Wahrheit zu vertreten, müssten sie auch dafür sorgen, diese in politische Realität zu verwandeln.

Rein- theoretische Wahrheiten gibt es in der Politik nicht. Zudem wäre es selbstmörderisch, sich in jetzigen Zeiten der Menschheitsgefährdung nicht aktiv für seine Wahrheiten einzusetzen.

Ihrer Interpretation des H. J. Friedrich-Satzes: als Journalist solle man sich »nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten«, ist hingegen zu widersprechen:

„Im Falle von Journalist*innen, die politische Meinungen äußern, wird von Kritiker*innen oft das Zitat von Hanns Joachim Friedrichs herangezogen, man solle sich als Journalist »nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten«. Nur ist inzwischen schon oft genug dargelegt worden, dass dieses Zitat nie so gemeint war, dass Journalist*innen keine politischen Meinungen vertreten sollen. Die Worte von Friedrichs stammen aus einem SPIEGEL-Interview, in dem ihm gegen Ende seines Lebens die Frage gestellt wurde, ob es ihn in seiner Arbeit gestört habe, »dass man als Nachrichtenmoderator ständig den Tod präsentieren muss«. Nein, sagte er, davon dürfe man sich nicht stören lassen: »Das hab ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.«“ (SPIEGEL.de)

Das klingt wie Hermeneutik der Theologen, die aus jedem Satz der Schrift beliebige Folgerungen ziehen können. Niemand muss wissen, wie Friedrichs im Hintergrund seinen Satz interpretiert haben wollte.

Über den Sinn eines Satzes entscheidet der pure Satz. Wenn Friedrichs seinen Satz so verstanden haben will, dass er dem puren Sinn widerspricht, dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder korrigiert er den Satz, dass er möglichst klar und unmissverständlich wird – oder er muss sich die Kritik gefallen lassen, dass er, was er meint, nicht eindeutig formulieren kann.

Der Satz, wie er wortwörtlich da steht, ist ein Verhängnis. Er bedeutet gottähnliche Überlegenheit jenseits von Gut und Böse. Journalisten hätten es nicht nötig, sich in den Streit der Meinungen einzumischen und sich für das einzusetzen, was sie für wahr halten. In der Tat ist das die tägliche Praxis der deutschen Medien. Anders wäre ihre „inzestuöse“ Verführbarkeit durch Macht nicht erklärbar.

Der Verfall der Gesellschaft wäre ohne parallelen Verfall der medialen Wahrheitspflicht undenkbar gewesen. Leider verendet auch Schwennickes löbliche Selbstkritik in der Falle der Friedrichs-Doktrin:

„Unser Beruf geht mit Privilegien einher, die im Grundgesetz verankert und vom Bundesverfassungsgericht bekräftigt worden sind. Aber diesen Privilegien steht eine Verpflichtung gegenüber. Eine Pflicht, sich jederzeit der Rolle bewusst zu sein, die Äquidistanz jederzeit zu wahren. Sich weder als Aktivist noch als Politiker zu begreifen. Sondern als unabhängiger Journalist, der viel Stärke und Rückgrat zeigen muss, dafür aber einen der nach wie vor faszinierendsten Berufe der Welt ausüben darf.“

Merkwürdig, wie immer wieder die “Faszination“ des journalistischen Jobs  die Ungereimtheiten dieses Berufs kompensieren muss. Wer der Wahrheit verpflichtet ist, sucht keine Äquidistanz zu Aktivisten und Politikern. Beide Gruppen sind weder identisch mit der Wahrheit noch mit dem Gegenteil: der gleiche Abstand zu ihnen garantiert keine Wahrheit.

Wahrheit hat ihr Kriterium in der logischen Folgerichtigkeit des Denkens und der Humanität praktischer Erfahrung. Wär‘s anders, könnte mit Argumenten nicht über Wahrheit entschieden werden. Das Metermaß würde genügen, um den Abstand von der Wahrheit quantitativ zu bestimmen. Erneut wird Denken durch Messen ersetzt.

Unfreiwillig offenbart Schwennicke, von welch unbewussten Berufungsvorstellungen die Tagesbeobachter geprägt sind: Journalisten wollen Vermittler zwischen Oben und Unten sein. Den Mächtigen wollen sie mitteilen, dass ihre Untertanen nicht so töricht sind, wie es oft scheint, den Untertanen, dass ihre Obrigkeiten wohlwollender und verständiger seien, als es oft den Anschein hat.

Es ist der Beruf des Priesters, der Himmel und Erde miteinander versöhnen will. Die Ära Merkel schien die Welt-Priester in ihrer Mission zu bestärken: Deutschland wurde zur Synthese aus gütiger Mutter und willigen, wenn auch ungebärdigen Sprösslingen. Jetzt, in der Coronazeit droht die Synthese zu zerbrechen. Wenn nicht, wird es die Klimagefahr sein, die das nationale Wohlgefühl zerbrechen wird.  

Die Journalisten sitzen in der Falle Hegels, ihres unbekannten Vorbilds. Sie wollen eine wahrheitslose Versöhnung, die ihre religiösen Illusionen nicht verlieren will.

Echte Versöhnung hingegen wäre Wahrheit und nichts als die Wahrheit – der irdischen Vernunft.

Fortsetzung folgt.