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Alles hat keine Zeit LXXIV

Tagesmail vom 03.02.2021

Alles hat keine Zeit LXXIV,

Christen sollten sich an der Verwaltung des römischen Reiches nicht beteiligen – forderte Augustin in seinem „Gottesstaat“.

„Diese Doktrin veranlasste die Geistlichen zurzeit des Niedergangs des weströmischen Reiches, weltliche Katastrophen untätig mit anzusehen. Spuren dieser Auffassung findet man heute noch; die meisten Leute sehen in der Politik etwas „Weltliches“, das eines wirklich frommen Menschen nicht würdig ist.“ (Russell, Philosophie des Abendlandes)

Was hat Augustin mit der Gegenwart zu tun? Noch immer ist er eine Hauptquelle für das christliche Abendland, besonders für die Berliner Republik. „Untätig mit anzusehen“: das ist die Politik der Kanzlerin und aller Politiker, die sie ungerührt ins Verderben laufen lassen. Und nicht nur sie, sondern mit ihr die Nation und die EU – die in hohem Maß von deutschen Gnaden abhängig ist.

Augustins Zwei-Reiche-Lehre ist die Lehre Luthers, Luthers Lehre die von Hegel. Hegels Lehre führte zu Nietzsche und den Nationalsozialisten. In einer abgespeckten Version bestimmt sie den machiavellistischen Amoralismus der deutschen Politik der Gegenwart, vor allem der Außenpolitik.

Die Reden der Politiker triefen von sozialer Verantwortung, die eine weit entfernte Realisierung der christlichen Bergpredigt sein soll. Doch wenn das Moralische die weltlichen Interessen zu bedrängen droht, hat es zu schweigen. Das führt zu einem Prozent samaritanischer Almosenpolitik und 99 % weltlicher Bosheit, die leider, leider nicht zu vermeiden ist. Christliche Phrasen haben den Zweck, den moralfreien Interessenkern der Republik zu verbrämen, die von Böckenförde einen christlichen Hintergrund erhielt. Solange die Moral des Hintergrunds nicht nach vorne drängt, wird er von Politchristen als Dekoration akzeptiert.

Der deutsche Staat, ein kirchlich durchsäuertes irdisches Gebilde, verkörpert einerseits die civitas dei Augustins oder die unsichtbare Kirche, die sich weltmäßig aufspielt, andererseits die civitas terrena, den teuflischen Weltstaat, dem keine Bosheit verboten ist, weil er ein Werkzeug Gottes ist.

In welcher Geistesverwirrung wir uns befinden, zeigt eine neue Biografie Hegels, die seine Lehre von der Freiheit als Grundlage der modernen Demokratie preist:

„Jedes Jahr am 14. Juli soll Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein Glas Champagner auf den Beginn der Französischen Revolution getrunken haben. Diese Revolution war das sein Leben und Denken prägende Ereignis. Das Grundmotiv der Freiheit durchzieht den gesamten Denk- und Lebensweg des bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts.“

Ein Blick in Russells deutsch-kritisches Buch ist heutigen Germanogiganten nicht mehr zuzumuten.

„Hegel gebraucht das Wort „Freiheit“ in höchst sonderbarem Sinne. Freiheit bedeutet nicht, dass man etwa nicht ins Konzentrationslager kommen könnte. Sie begreift auch nicht die Demokratie, die Pressefreiheit oder sonst eine der üblichen liberalen Parolen, die Hegel verächtlich ablehnt.“ (ebenda)

Welthistorische Individuen, die den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflussen, sind für Hegel „Helden, die berechtigt sind, gewöhnlichen Moralgesetzen zuwider zu handeln.“ Er nannte Alexander, Cäsar und Napoleon. Hätte er das Dritte Reich erlebt, wären ihm noch andere Namen eingefallen.

Die unsichtbare Kirche würde, so Augustin, den weltlichen Staat überleben und direkt ins Reich Gottes münden. Bis zu diesem unbekannten Zeitpunkt aber muss er von den Gläubigen respektiert und bedient werden. Das ist der geistliche Kern der Merkel‘schen Laissez-faire-Politik: solange das Feuer schüren, bis Gott es am Ende aller Tage eigenhändig löschen wird.

Im römischen Reich wurde der Kaiser vergöttlicht. Im Mittelalter stellten Theologen die Kirche über den Staat. Das war das langsame Todesurteil über den deutschen Kaiser.

„Mit Luther, den die protestantischen Fürsten unterstützten, wurde das Gegenteil üblich. Die lutherische Kirche war im großen und ganzen erastianisch (= Staat dominiert die Kirche). Hobbes, der in politischer Beziehung Protestant war, entwickelte die Lehre vom Supremat des Staates.“

Von Hobbes zu Hegel war es nur ein Katzensprung: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – oder das Vernünftige an und für sich. Das Individuum hat Wahrheit und Sittlichkeit nur insoweit, als es Glied des Staates ist.“

Hegel beanspruchte – so Russell – für den Staat die gleiche Stellung, wie sie Augustin und seine katholischen Nachfolger für die Kirche forderten.

Staat und Kirche flossen ineinander im Reich Hitlers, der als Sohn der Vorsehung sich autorisiert fühlte, das Endreich der Heilsgeschichte auszurufen.

Diesem Endreich strebt heute der ganze christliche Westen entgegen. Wenn der Himmel das Zeichen setzt, wird die Demokratie als lästige Geburtshilfe verworfen: Gott selbst wird das Regiment über die Menschheit übernehmen.

Selig sind die Sanftmütigen: wie konnte das Unglaubliche geschehen, dass die angeblich friedliche Religion des Nazaräers zur Herrscherin eines Weltreiches wurde? War es gar das Christentum, das zum Totengräber von roma aeterna wurde – was Voltaire und der englische Historiker Gibbon behaupteten?

Hing es mit der Fortsetzung der Seligpreisung zusammen: „… denn sie werden das Erdreich besitzen“?

Dann wäre die Frage beantwortet. Die Urchristen betonten solange ihre Friedfertigkeit, bis das Weltreich mürbe geworden war. Dann schlugen sie, im Glauben an die weltpolitische Verheißung, unerbittlich zu.

Es war nicht die ungebildete Gemeinde der Schwachen, die den Wechsel zur Macht vollzog:

„Die Macht der Bischöfe in den großen Städten wuchs durch den Brauch, Almosen zu spenden. Die Opfergaben der Gläubigen wurden vom Bischof verwaltet, der den Armen die milden Gaben zuteilen oder vorenthalten konnte. So kam es, dass ein aus Armen und Hilflosen bestehender Pöbel bereit war, sich jedem Willen des Bischofs zu fügen. Als der Staat christlich wurde, übertrug man den Bischöfen richterliche und administrative Funktionen.“ (ebenda)

Dennoch bleibt die Frage: wie konnte es, schon vor der antinomischen Selbstentlarvung des Christentums, zur Überlegenheit der Sanftmut über die heidnische Moral der Macht kommen?

Ursprünglich schien die weltabgewandte Botschaft der Christen der verrotteten Moral der Heiden um Längen überlegen.

„Meiner Ansicht nach schreibt Gibbon mit Recht diesem hohen moralischen Niveau als einem der Gründe für die Ausbreitung des Christentums große Bedeutung zu. Er schreibt von der „Einigkeit und Disziplin der christlichen Republik.“ Vor Konstantin waren die Christen in der Ethik zweifellos den durchschnittlichen Heiden weit überlegen.“ (ebenda)

Welche Moral herrschte bei den Römern? Als sie zur Weltmacht aufstiegen, übernahmen sie begierig die überlegenen Weisheiten der Griechen. Sodass später der Spruch entstehen konnte: die Besiegten haben die Sieger besiegt. Besonders die Stoa wurde zur Philosophie der Eliten. Das ging bis zu Seneca und dem Kaiser Marc Aurel:

„Ich will Dir ein Liebesmittel zeigen ohne einen Trank, ohne ein Kraut, ohne Spruch irgendeiner Zauberin: Willst Du geliebt sein, so liebe.“ (Seneca)

„Die beste Art, sich zu rächen, ist, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Glücklich sein, heißt, einen guten Charakter haben.“ (Marc Aurel)

Sind diese heidnischen Sätze der christlichen Nächstenliebe unterlegen: Liebe deine Feinde, wie dich selbst? Letztere war nicht mehr als die in allen Kulturen vorhandene triviale Weisheit, Egoismus und Altruismus in Ausgleich zu bringen.

Selbst Adam Smith, Begründer des Frühkapitalismus, wollte Eigenliebe und Fremdinteresse ins Gleichgewicht bringen:

„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem eigenen Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“ (Wohlstand der Nationen)

Smith, selbst überzeugter Stoiker, konnte sich noch naiv geben. Vom Konkurrenzprinzip, realisiert durch Angebot und Nachfrage, scheint er noch nichts gewusst zu haben. Dass ein Metzger wesentlich mehr verlangen kann, als er zu geben bereit ist, wenn er keine Konkurrenz besitzt, ist heute eine Kita-Weisheit. Seine do-ut-des-Formel, ich gebe, damit du gibst, setzt eine vollkommene Gleichberechtigung der Tauschpartner voraus. Angebot und Nachfrage müssten im Gleichgewicht sein, ein Machtgefälle zwischen beiden Handelspartnern war ausgeschlossen.

In Dörfern war diese Ursituation noch die Regel. Weshalb es überflüssig war, sie in mathematischer Strenge zu formulieren. Denn Dorfmitglieder fühlen sich alle gleich. Niemand will den Nachbarn übertrumpfen, niemand reicher werden als der andere – solange der Virus des städtischen Kapitalismus noch nicht bei ihnen eingedrungen war. Da kam‘s auf ein Pfund nicht an. Man half sich, wo man konnte.

Kaum war das Dorf zur Stadt angeschwollen, war es mit der gleichberechtigten Naivität aus. Angebot und Nachfrage strebten auseinander. Die geleistete Arbeit wurde immer weniger wichtig, entscheidend war, ob man Rares und Nachgefragtes anzubieten hatte. Leistung und Arbeit wurden zu Früchten zufälliger Machtverhältnisse.

Was Mütter in Kindererziehung und familiärer Beziehungsarbeit leisteten, wurde belanglos, im gesellschaftlichen Verbundsystem hatten sie nichts zu bieten. Ihre Lebensleistungen waren nicht tauschbar. Und wer bestimmte über die Gesetze des Tausches? Die Männer, die die Macht besaßen, ihre Arbeit als allein geldwerte Betätigung in Stein zu meißeln.

Wollen moderne Frauen sich gleichwertig fühlen, müssen sie Männerarbeit leisten. Nur das berechtigt sie, Leistung gegen Geld zu tauschen. Verweigern sie männliche Arbeit, werden sie mit lebenslanger Abhängigkeit von ihren Männern bestraft.

Männer haben den Trick erfunden, mit Hilfe der Zahl ihre spezielle Arbeit als allein quantifizierungsfähig auszuzeichnen. Quantifizierbar ist, was man in Heller und Pfennig tauschen kann. Doch dem Begriff Leistung werden sie damit nicht gerecht.

Es ist wie mit den Noten in der Schule, die auf quantitativen Vergleichen beruhen. Ergo müssen die geforderten Leistungen künstlich auf Quantitäten reduziert und damit verfälscht werden. Die eigentlichen Kennzeichen der Intelligenz: Neugierde, Staunen- und Denkenkönnen werden in atomisierte Wissensbrocken zerschmettert.

Jeder Quiz-Champion bei Pilawa könnte Einstein in den Schatten stellen. Vor allem: Intelligenz ist keine erbsenzählende Fähigkeit, Vorgesetztes zu schlucken, sondern will selbst herauskriegen, wohin die eigene Neugierde führt. Eine echte Leistung kann man nicht abzählen oder mit abgezählten Leistungen anderer vergleichen. Sie ist intrinsisch oder subjektiv.

Die scheinbare Objektivierung geistiger Leistungen dient allein dem Herrschaftsprinzip des Marktes, der die Gesellschaft als gestaffelte Armee von Leistungsträgern kontrollieren will. Das Geistige jedoch ist eine Suche nach subjektiver Wahrnehmung und autonomer Beurteilung, die ihr Gesamturteil im Streit der Gesellschaft begründet. Nicht mit Zahlen, sondern mit Argumenten. Objektive Rankings zerstören diesen freien Dialog. Der quantitative Marktwert soll die unberechenbare Qualität des Denkens eliminieren.

Für ihre unterschiedlichen Begabungen sind Menschen ohnehin nicht zuständig. Was kann ein Mozart dafür, dass er ein musikalisches Wunderkind war?

Ein humaner Grundsatz könnte lauten: Natur schafft unendliche Individuen, die allesamt unvergleichbar sind. Die Verschiedenheit der Einzelnen aber darf ihre Gleichwertigkeit nicht außer Kraft setzen. Keine Demokratie hätte entstehen können, wenn die Unvergleichlichen nicht mit der gleichen Würde ausgestattet worden wären. Diesen Grundsatz der politischen Gleichheit ungleicher Fähigkeiten hat der Kapitalismus am Boden zerstört. Die Individuen der freien Gesellschaft sollen unvergleichlich – und dennoch quantitativ miteinander vergleichbar sein?

Da Wirtschaft zu einem der wichtigsten Machtfaktoren der Gesellschaft wurde, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihr „Naturrecht der Starken“ – nämlich jener Begabungen, die ihre Leistung am besten preisen und verkaufen können – die demokratische Gleichwertigkeit vernichtet haben wird.

Immer deutlicher zeigt es sich, dass machtorientierte Gesellschaften die Grundsätze der Gleichwertigkeit als lästig empfinden und so schnell wie möglich loswerden wollen. Wie anders wäre das Schielen des Westens nach China als Norm der Zukunft erklärbar?

Solange die weibliche Arbeit nicht der männlich-abzählbaren gleichgestellt wird, kann es zur wirklichen Gleichberechtigung der Geschlechter nicht kommen. Der listige Mann hat die pythagoreische Entdeckung der Zahl genutzt, um seine Fähigkeiten in Konkurrenzspiele zu verwandeln, die den Anschein objektiver Vergleichbarkeit, somit der gerechten Überlegenheit des Mannes über die Frau, beweisen sollen.

Wie haarsträubend das Ergebnis dieser Erschleichung ist, zeigen die modernen Verhältnisse: allein die männliche Arbeit ist es wert, durch Tausch mit Geld belohnt zu werden. Die Arbeit der Frau ist so minderwertig, dass sie verhungern und verderben müsste, wenn sie vom Mann nicht gnädigerweise aus dem Staub gehoben werden würde.

Der Frau bleibt nur eine Möglichkeit, sich annäherungsweise zu emanzipieren: wenn sie sich der Männerarbeit unterordnet und im Kapitalismus Unterschlupf sucht.

Die hochmütige Abwertung ihrer familiären Bemühungen kommt einer Abwertung des Humanen gleich. Denn die „Arbeit“, Kinder zu gebären, sie ins Leben zu geleiten, die Familie in eine Gemeinschaft zu verwandeln, in der sich jeder wohl fühlen und seine Fähigkeiten entfalten kann, ist die Grundlage jeder friedlichen Gesellschaft.

Auch die Beziehungsarbeit der Urzelle besteht aus Nehmen und Geben. Wer jetzt auf die Idee käme, dieses Tauschen von Gefühlen durch Tauschen von Geld berechenbar zu machen, der sollte sich auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen. Die Reichen von heute scheinen tatsächlich zu glauben, mit Geld könnten sie menschliche Nähe kaufen. Je mehr sie enttäuscht werden, je getriebener setzen sie ihre Gier nach Geld und Macht ins Endlose fort.

Waren die stoischen Grundsätze der christlichen Agape unterlegen? Im Gegenteil, sie waren weitaus altruistischer als der mit Nächsten-Liebe dekorierte Eigennutz der Christen, die mit Tugend ihre Seligkeit erkaufen wollen.

Die heidnische Kritik an ihrer Moral witterten die Evangelisten und überboten ihre triviale Nächstenliebe mit einem frommen Nonplusultra:

„Denn wenn ihr nur liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Vollkommener als das Vollkommene kann es nichts geben. Die Heiden sollten überboten werden. Ist die Überbietung gelungen? Hängt davon ab, was man unter Moral versteht. Ist Moral eine Leistung, für die man belohnt werden will – etwa mit Gottes Seligkeit? Oder ein Verhalten, das den Menschen intrinsisch belohnt?

Die großen Ethiker der Weltgeschichte von Konfuzius über Buddha bis Sokrates waren einer Meinung: humanes Verhalten macht glücklich, es belohnt sich selbst, auch wenn es nicht immer leicht ist. Wer seine Moral selbst bestimmt, für den ist jede göttliche Fremdbelohnung eine Zumutung, eine Attacke gegen seine Autonomie. Wer sich bestimmen lässt von Lohn und Strafe eines Gottes, der bleibt ein Spielball der Mächtigen.

Die stoische Philosophie war vor allem unter den römischen Führungsschichten verbreitet. Sie war eine Sache der Bildung, die dem Volk nicht zugänglich war. Die Reichen konnten sich gebildete Griechen kaufen, die ihnen die Denkweisen der griechischen Philosophen vermittelten.

Je länger Rom bestand und je mehr es in Macht und Reichtum versank, je amoralischer wurden die Eliten. Es wiederholte sich, was sich bereits bei der Ausdehnung der athenischen Polis zur hellenischen Weltmacht gezeigt hatte. Die moralische Entwicklung der besten Demokratie muss verderben, wenn die politische und wirtschaftliche Macht sich unbegrenzt ausdehnen kann.

Private Moral kann sich nicht halten, wenn die Moral des Staates durch Machtwucherungen verloren geht.

Bevor das demokratische Athen seine wirtschaftlichen Fühler immer mehr in die Welt ausstrecken konnte, um vom neuen Gefühl des Reichwerdens überflutet zu werden, waren die griechischen Kleinstaaten arm gewesen. Der Boden in Hellas war oft karg, die Ernte nicht üppig, die ersten Naturzerstörungen wurden sichtbar. Welch eine Befriedigung muss es dann gewesen sein, als durch politischen Erfolg die ökonomischen Verhältnisse immer weiter in die Welt ausgedehnt wurden.

Die ehedem Armen wurden reicher. Der Einzelne wurde vom neuen Reichtum überwältigt. Den Verführungen des Überflusses war er hilflos ausgeliefert.

Warum werden heute gerade die Unterschichten immer dicker? Weil sie seit Generationen ihre Hungergefühle nicht stillen können. Der erste Luxus überfällt den Menschen unvorbereitet. Den unbekannten Verführungen kann er nicht widerstehen.

Ergebnis: die besten Vorsätze und klügsten moralischen Grundsätze bleiben auf der Strecke. Die Reichen erfahren ihre Überlegenheit wie einen lebenslangen Rausch, dem sie nicht entkommen.

Die römischen Unterschichten waren durch unermesslich reiche Oberschichten aus allen selbstbestimmten Verhältnissen herausgerissen worden. Die Oberschichten wiederum schäumten über ob ihrer Unvergleichlichkeit.

Mitten in diese Dekadenz hinein zielte die christliche Botschaft mit radikalen Parolen. Selig sind die Armen, man kann nicht zween Herren dienen, geh hin, verkaufe alles, was du hast, sorget euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, euer himmlischer Vater weiß ja, dass ihr all dieser Dinge bedürft, bittet, so wird euch gegeben, nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken: das alles klang für eine verelendete Menschheit wie Sphärengesang.

Wie hoffnungslos mussten sich die Schwachen gefühlt haben, dass sie alles auf die Karte illusionärer Versprechungen im Jenseits setzen mussten. Rom war zu gigantisch, um mit den Widersprüchen zwischen Macht und Moral fertig zu werden.

Die strenge Moral der griechischen Philosophen entstand in der machtgeteilten Polis, in der sich alle mit allen auseinandersetzen mussten. Als der überschaubare Stadtstaat in der hellenischen Weltmacht unterging, die von der römischen noch übertroffen wurde, überlebte die Moral nur in seltenen, geschützten Nischen. Die Macht zog der Moral davon – und konnte bis zum heutigen Tag weder eingeholt noch zivilisiert werden.

Die aufwachenden Völker auf den Straßen der Welt fordern menschliche Verhältnisse, die Reichen wollen gottähnlich werden.

Fortsetzung folgt.