Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit LXVII

Tagesmail vom 18.01.2021

Alles hat keine Zeit LXVII,

„König Augias hatte einen ungeheuren Rinderstall mit 3.000 Rindern, deren Mist seit 30 Jahren nicht ausgeräumt worden war. Der griechische Held Herkules (Sohn des Gottes Zeus) vollbrachte die Riesenreinigung an einem Tag, indem er zwei Öffnungen in die Stallmauern riss und die Flüsse Alpheus und Peneus vereinigte und hindurchleitete. Diese spülten den Unrat gründlich fort.“

Deutschland hat einen ungeheuren Saustall, dessen Mist seit Jahrzehnten nicht ausgeräumt wird. Die Deutschen fühlen sich wohl und singen:

„Uns ist ganz kannibalisch wohl,
Als wie fünfhundert Säuen!“

Unter seinen Kumpanen tut sich Altmayer (y wurde zu i) besonders hervor und prustet in jeder Talkshow:

„Wo bin ich? Welches schöne Land!“

Mephisto ist höchst zufrieden mit seinen lieben Deutschen und schnurrt prophetisch:

„Das Volk ist frei, seht an, wie wohl’s ihm geht! 
Gib nur erst acht, die Bestialität
Wird sich gar herrlich offenbaren.“

Und die Bestialität kam.

Da musste ein Fremder kommen, der den Deutschen den Spiegel vor die Nase hielt:

„Ich bin da sehr deutsch“, sagen mir manchmal Freunde und Kollegen und meinen damit, dass sie einen Hang zu Korrektheit, Disziplin und Ordnung haben. Damit sind „deutsche Tugenden“ gemeint. Als ob die Deutschen ein Monopol darauf hätten. In Wirklichkeit ist das Land weit mehr von Gesetzlosigkeit, Schlamperei, Ineffizienz und Inkompetenz geprägt, als es sein Selbstbild vermuten lässt. Das tägliche Leben ist bürokratisch, sinnlos komplex oder von veralteten Systemen und Technologien durchzogen. Die Kommunikation mit großen und kleinen Institutionen ist oft schwierig. Manche deutsche Großstädte sind ein einziges Chaos: Obdachlose, die vor Bahnhöfen herumlungern und von den Behörden alleingelassen werden. Vor jeder Bank Bettler, um die sich niemand kümmert. Zigarettenkippen, wohin man schaut. Und überall diese kaputten Mülleimer! Wann, bitte schön, werden deutsche Ingenieure es endlich schaffen, einen robusten Mülleimer zu konstruieren? Was mich außerdem noch stört: Graffiti auf allen Wänden. Verwüstete Blumenbeete. Zerstörte Bänke. Das Fehlen von öffentlichen Toiletten. Jeder sieht es als normal an, wenn ein Mensch auf dem Spielplatz in die Büsche pinkelt. Kurzum, der öffentliche Raum leidet unter massivem Vandalismus und städtischer Vernachlässigung. Die Wähler haben sich für Stillstand und Selbstgefälligkeit entschieden. Und das Ergebnis ist ein Versagen im Umgang mit den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, als da wären: Digitalisierung, Wohnungsbau, Treibhausgasemissionen, um nur einige zu nennen. Und, ja, Corona. Merkels viel gepriesene rationale Herangehensweise bei der Bekämpfung der Pandemie maskiert dabei nur den schweren Rückstand beim digitalen Umbau des Staates und der Überführung staatlicher Dienstleistungen ins 21. Jahrhundert.“ (Berliner-Zeitung.de)

Diesen brexitäischen Angriff aus dem Ausland konnten die Neugermanen unmöglich auf sich beruhen lassen und beauftragten einen erfahrenen Hofmann, die Ehre der Hohen Frouwe wieder zu rehabilitieren:

„Es ist bemerkenswert, welche Autorität und souveräne Unabhängigkeit diese Kanzlerin zu einem Zeitpunkt ausstrahlt, an dem viele ihrer Vorgänger nur noch lähmend am Amt hingen. Die politische Integrität Angela Merkels ist dabei immens. Aber auch ihre persönliche – undenkbar, dass diese Politikerin ihr Handeln einem persönlichen, gar einem materiellen Vorteil unterwerfen würde. Diese über jedem Materialismus und Egoismus stehende Integrität einer Bundeskanzlerin ist derzeit vielleicht der wichtigste Stabilisator, den wir in einer Welt besitzen, die droht, aus den Fugen zu geraten.“ (WELT.de)

Die deutsche Nation ist ein Zwittergebilde aus Großfamilie mit sorgender Mutter – und einem Staat, der, regiert von der mächtigsten Frau der Welt, mit ökonomischer Überlegenheit und waffenstarrenden Drohungen seinen führenden Platz in Europa und in der Welt behaupten will.

Dementsprechend die widersprüchliche Moral des Zwittergebildes: auf der unteren, privaten Ebene der Großfamilie herrscht die Moral der Tugend und Sittlichkeit, auf der übergeordneten des globalen Machtgerangels die machiavellistische Unbedenklichkeit, sich aller List- und Gewaltmittel bedienen zu dürfen.

Was ist Staatsraison?

„Der Vorrang der Staatsinteressen vor allen anderen Interessen. Der Grundsatz, dem zufolge oberster Maßstab staatlichen Handelns die Wahrung und Vermehrung des Nutzens des Staates ist, auch unter Inkaufnahme der Verletzung von Moral- und Rechtsvorschriften.“

Auf privater Ebene haben die Deutschen anständig zu sein. Anstand ist der leicht höfisch klingende Ersatzbegriff für den abgenutzten Begriff Moral. Auf machtstaatlicher Ebene haben sie Tugend und Anstand zu vergessen – und dem Vorrang der machiavellistischen Staatsraison zu folgen. Wie alt ist diese doppelte Buchführung der Deutschen?

„In Deutschland wurde der Begriff der Staatsräson erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in den politischen Diskurs eingeführt. Er trug der Tatsache Rechnung, dass die einzelnen deutschen Fürsten nunmehr jeweils absolutistisch in Nachahmung des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. regierten, den Kaiser nur noch formell anerkannten und auch alle religiösen und moralischen Fragen selbst entschieden. Joseph von Eichendorff schreibt, dass „die sogenannte ‚Staatsraison‘, ein diplomatisches Schachspiel verhüllter Intentionen“, damals „in der Politik an die Stelle der christlichen Moral“ getreten sei.“

Das ist richtig und falsch. Richtig ist, dass die Deutschen, dem Desaster des 30-jährigen Glaubenskriegs entkommen und nach langer Ohnmacht wieder politische Macht spürend, die amoralische Bedenkenlosigkeit des Staates mit Hilfe des italienischen Rechtsphilosophen klar formulieren konnten. Der aufgegangene Stern des Italieners wurde ihr bewundertes Leitbild seit dem späten Friedrich dem Großen. Amoral auf staatlicher Ebene im Kontrast mit privatem Anstand, wurde zum Dogma der deutschen Nationalentwicklung.

Falsch ist, dass Machiavellis Denken an die Stelle der Christenmoral getreten sei. Meinecke wusste noch, was moderne Historiker zu ignorieren pflegen. Machiavelli hatte zwei Quellen: a) das Naturrecht der Starken à la Thukydides und b) das „Naturrecht“ des christlichen Gottes, des Herrn über jedwede Moral.

„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“

Es gab keinen Abschied von der christlichen Moral, sondern ein neues Bewusstsein um die Allmachtsmoral der Schrift. Nur von daher ist der folgende Satz Meineckes zu erklären:

„Der politischen Wirklichkeit, wie sie war, der Tatsache, dass der Machiavellismus weithin geübt und mit Erfolg geübt wurde, stellte man voran den alten christlichen Trost, dass Gott die Bosheit oft zulasse als Strafe für die Sünden und sie im Jenseits strafen werde.“ (Die Idee der Staatsraison)

Nicht erst im Jenseits. Sonst hätte Hegel, der wichtigste deutsche Machiavelli-Verehrer, die Weltgeschichte nicht als Weltgericht bezeichnen können.

Und dennoch trat ein Zwiespalt zwischen Macht und Moral ein. Verantwortlich war die Epoche der Aufklärung, die sich am antiken „Naturrecht der Schwachen“ orientierte, jener autonomen Moral, aus der sich die universellen Menschenrechte entwickelten. Dummerweise werden beide konträre Moralen – die Omnipotenzmoral der Starken und die humane Moral der Schwachen – als Naturrecht bezeichnet.

Hinzu kommt, dass auch die katholische Kirche von Naturrecht spricht, sodass der Wirrnis keine Grenzen gesetzt sind.

Das Naturrecht der Vernunft, von Aristoteles übernommen, besteht für Thomas aus vier Tugenden:

„Als Kardinaltugenden werden von Thomas prudentia (Klugheit), iustitia (Gerechtigkeit), temperantia (Mäßigung) und fortitudo (Tapferkeit) bezeichnet.“

Das sind die Tugenden der irdischen Ebene. Sie werden überstrahlt von den drei himmlischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung.

Griechische Tugenden schließen ihr Gegenteil kategorisch aus, sie sind den Gesetzen der Logik unterworfen.

Glaube, Liebe, Hoffnung hingegen sind antinomische Tugenden. Aus Liebe kann das Inquisitionsgericht den Ketzer zum Tode verurteilen. Gemäß dem Motto:

„Es müssen ja Verführungen kommen; doch weh dem Menschen, der zum Bösen verführt! Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dich verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass du lahm oder verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das ewige Feuer geworfen. Und wenn dich dein Auge verführt, reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist besser für dich, dass du einäugig zum Leben eingehst, als dass du zwei Augen hast und wirst in das höllische Feuer geworfen.“

Kants kategorischer Imperativ kennt keine Ausnahme. Gottes absolutistische Imperative hingegen sind eine Sammlung beliebiger Willkürlichkeiten. Hier herrscht das Prinzip: alles geht, nichts ist ausgeschlossen. Nicht die konkreten Taten entschieden über die Moral, sondern die verborgenen Gesinnungen: was aus Glauben geschieht, ist immer gut und wenn es sich – aus der Sicht der Aufklärer – um die schlimmsten Verbrechen handelt.

„Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.“ Alles hingegen, was aus Glauben geschieht, ist ein Werk für Gott. Ergo: sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

Max Webers Ablehnung der Gesinnungsethik ist in Wahrheit die Ablehnung der christlichen Gesinnung, die alle Verantwortung für ihr Tun in Gottes Hände legt. Eine solche verantwortungslose Gesinnungsethik ist wahrhaft abzulehnen.

Ganz anders die Gesinnung der autonomen Moral, die keinen Gegensatz zwischen Motivation und daraus folgender Tat kennt. Wohl gab es Streit bei den Griechen um die Frage, ob die seelische Absicht ausreiche für die Durchführung der guten Tat.

Wer das Gute klar erkannt habe, werde es auch tun: davon war Sokrates überzeugt. Doch bei Aristoteles war der Glaube an die moralische Kompetenz der vernünftigen Erkenntnis schwächer geworden. Bei ihm mussten Gewöhnung, mühsames Training und ein energischer Willen dazukommen, um die Absicht in Taten umzuwandeln.

In der abendländischen Entwicklung wurde der Wille immer stärker, weil der Glaube an die Vernunft immer schwächer wurde. Bei Nietzsche endlich wurde der Wille zur Macht zum Ersatz für den verloren gegangenen Glauben. Oder strenger: der omnipotente Glaube säkularisierte sich zum omnipotenten Willen zur Macht. Eben dies ist der inhärente Wille des westlichen Fortschritts: durch Anhäufung des Wissens zur gottgleichen Allmacht über das Universum vorzudringen.

Die zwei Ebenen: machiavellistische Antinomie und private Moral waren im Nationalsozialismus zur Einheit verschmolzen, alles Böse wurde zum Inbegriff des Guten. Hitlers Schergen wollten durch äußerste Verbrechen der Menschheit nützen, Natur retten und ein eschatologisches Himmelreich auf Erden errichten. Hier wäre Poppers Attacke gegen jedwede Utopie berechtigt gewesen: wer ein Himmelreich auf Erden errichten will, wird eine Hölle erbauen. Tatsächlich wollte Popper den Nationalsozialismus vernichtend kritisieren – ohne ihm die Ehre der Erwähnung zu geben. Die Absicht war ehrenwert, die Mittel undurchdacht.

Nach der Niederlage Hitlers, dessen Machiavellismus alle private Moral aufgesogen hatte, hätten die Deutschen all ihre verseuchten Begriffe reinigen und von vorne beginnen müssen. Das gelang ihnen nur zum geringen Teil. Warum?

Nach typisch deutscher Untertanenart lernten sie brav die neuen demokratischen Begriffe, die sie vor allem in ihrem Über-Ich speicherten. Nun hätten sie aus dem Fundus ihres kollektiven Unbewussten, in welches sie ihre vergifteten Begriffe verdrängt hatten, den ganzen Morast der Vergangenheit wieder ins Bewusstsein zurückholen müssen, um ihn im Licht einer neuen Aufklärung und in Konfrontation mit ihren neuen Über-Ich-Begriffen von allen Seiten zu überprüfen. Was sie kaum taten. Ihre neuen demokratischen Begriffe verharrten leblos im Über-Ich, ihre toxischen Begriffe überlebten im Untergrund und wurden im Verlauf ihrer politisch-wirtschaftlichen Rehabilitierung immer giftiger.

Beispiele: Heidegger als philosophischer Mitläufer der Nazis wurde nicht rigoros enttarnt, stattdessen wärmten sich die Deutschen bis zum bitteren Ende am Weltruhm des Wanderers im Schwarzwald. Erst als seine Tagebücher veröffentlicht wurden, in denen er seine Hitlermanie offenbarte, war es um ihn geschehen.

Carl Schmitt genießt noch heute die Gunst vieler Intellektueller, weil er für manche ausländische Intellektuelle als einzig akzeptabler Gesprächspartner in Deutschland galt. Wagt es ein Student, das Genie aus Plettenberg als Nazi-Mitläufer zu verdächtigen, wird er platt gemacht.

Viele Intellektuelle wollten keine primitiven Mitläufer der Demokratie sein und wühlten sich im Kämmerlein immer mehr in die Begriffe der Deutschen Bewegung. Der rechte Rand, der heute die Straßen blockiert, wuchs nicht am rechten Rand, sondern im unbearbeiteten Erbe deutscher Begriffe in der Mitte der Gesellschaft, da, wo die Gelehrten und nicht zuletzt diverse Edelschreiber saßen. Warum gibt es nicht wenige Journalisten in der AfD?

Es kommt noch verhängnisvoller. Nicht nur wurde die deutsche Vergangenheit nicht gründlich aufgearbeitet; sie wurde nachträglich mit voller Absicht von allem Bösen bereinigt.

Die Weimarer Klassik wurde zum Hort der Humanität: edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Das faustische Prinzip als bedenkenlos antinomisches Aufsteigerprinzip wurde gar nicht ernst genommen, Mephisto zum lächerlichen Gaukler verniedlicht. Schillers Abwendung von der Politik als Flucht in die Ästhetik wurde nicht zur Kenntnis genommen, Nietzsches Willen zur Macht zur raubauzigen Erfolgsmotivation verharmlost.

Ab Herder begann die Abwendung der Dichter und Denker von der universellen Vernunft der westlichen Demokratie – hin zur unvergleichlichen Einzigartigkeit der deutschen Nation. Der Trumpismus ist nur die zeitversetzte Parallele einer besonderen Nation retour in die Erwählung ihrer puritanischen Vorväter.

Nachdem die 68er-Bewegung vieles in Wallung gebracht hatte, nach kurzer Zeit aber als grüne Bewegung den Marsch in die Gesellschaft antrat, wurde das Gefühl vorherrschend: wir wollen nur noch gut sein, wir wollen Musterschüler einer Nation werden, die ihre Vergangenheit aufgearbeitet hat. Wir wollen friedliche Beziehungen zu aller Welt, die Naturkatastrophe beenden, unsere soziale Marktwirtschaft soll die Mängel des Kapitalismus beheben. Deutschland schien mit sich ins Reine zu kommen.

Da kam wie ein Tsunami der Neoliberalismus über die Welt und flutete auch Deutschland. Und in kurzer Zeit fiel die Nation, die immer an der Spitze des Zeitgeistes mitmarschieren wollte, den Exzessen des verwilderten Kapitalismus anheim. Neoliberalismus war ein wütender Angriff gegen die bisherige, fast überall auf der ganzen Welt anerkannte Weltordnung der universellen Menschenrechte, gegen die UNO als Völkerparlament, in dem sich alle Nationen zur Lösung der Weltprobleme trafen.

Wie nach der Aufklärung die Religion die generelle Vernunft zurückdrängte, so verdrängt heute die Erlöserreligion wieder die Moral der Heiden. Im uralten Kampf des logos mit dem euangellion hat sich das Pendel der Zeit wieder der Erlösung genähert. Die Menschheit, von allen Seiten ihres selbstverschuldeten Schicksals bedroht, hat jede Zuversicht in ihre Problemlösungskraft verloren.

Nein, noch lange nicht verloren: die einst ohnmächtigen Unterschichten der Völker, zum Gehorsam gegen ihre Eliten erzogen, haben inzwischen so viel demokratischen Geist eingeatmet, dass sie sich keineswegs wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen wollen. Nach Corona wird sich zeigen, in welchem Maß die Mündigen den unfähigen Regierungen gefährlich werden können. Die Eliten, nur mit Machtspielen beschäftigt, haben fertig. Unbeweglich stecken sie in den Sümpfen ihrer Naturverwüstungen.

Für die Machteliten ist Corona nicht nur eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Übermacht, sondern die überraschende Chance, die Rebellen wieder an die Kette zu legen – mit rationalen Mitteln der Epidemiebekämpfung.

Als reuiges Land wollte Deutschland nie mehr ein machiavellistisches Machtgebilde werden, sondern mit vorbildlichen Mitteln am Frieden der Welt arbeiten. Der Neoliberalismus unterlief diese blauäugigen Absichten durch einen unerbittlichen Wettkampf der Wirtschaften.

Chinas Entwicklung zum totalitären Überwachungsstaat mit der Ambition, Amerika als Weltmacht Nummer eins abzulösen auf der einen Seite, auf der anderen der Trumpismus, der nur die eigenen Interessen gelten lässt, hat die Bedrohung der Welt ins Hochgefährliche gesteigert. Gekoppelt mit den Gefahren eines klimabedingten Suizids stürzen wir einer brandgefährlichen Globalsituation entgegen.

Wie darauf reagieren? Mit Machiavelli, Aufrüstung und bedenkenloser wirtschaftlich-technischer Überlegenheit – oder mit strikter Moral der Aufklärung?

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Handle so, dass dein Verhalten, generalisiert zum Willen aller anderen, der Welt den Frieden bringen kann.

Eigentlich wollten wir allen Völkern ein Vorbild des Guten sein: das war der Ausbruch der Philanthropie bei der Ankunft der ersten Flüchtlingskolonnen in München. Merkel hatte situativ die Seite der Moral gewählt. Doch kaum ereigneten sich die ersten Konflikte der Fremden mit den Eingeborenen, verließ sie wortlos und über Nacht das Lager der Guten und wurde Mitglied des fremdenfeindlichen Abwehr-Machiavellismus in ganz Europa. Wie der Samariter der Schrift hatte sie einmalgeholfen, alle anderen Fremden ließ sie an der Grenze im Stich. Das war christliche Antinomie in kaltblütiger Vollendung. Oder in augustinischen Begriffen; das Reich des Teufels muss so lange bedient werden, bis der Herr selbst entscheidet, wann er wiederkehren und das Reich Gottes über alle Welt ausbreiten wird.

Auch die Debatte um NATO und Bundeswehr pendelt ständig zwischen dem „utopischen“ Willen zum Weltfrieden mit nichtmilitanten Mitteln und dem Reflex, die böse Welt mit bösen Mitteln in Schach zu halten.

Merkel hat sich längst von allem moralisch-utopischem Vernunftgerede verabschiedet, lässt Flüchtlinge verrecken, den Konkurrenzkampf um die Macht der Welt ins Unerträgliche steigern, das Klima zur tödlichen Gefahr für die Welt werden. Von der Moral der Vernunft hat sie sich gelöst und sich der Amoral ihres Glaubens zugewandt. Oder: von der guten Moral der nationalen Großfamilie hat sie sich tonlos verabschiedet und sich dem Willen zur Suprematie verschrieben.

Ihr WELT-Lobredner will nicht sehen, welch verantwortungslose Politik sie betreibt, damit er sie nicht mit Kriterien messen muss, denen sie selbst folgt, sondern mit Begriffen moralischer Vorbildlichkeit:

„Die politische Integrität Angela Merkels ist dabei immens. Aber auch ihre persönliche – undenkbar, dass diese Politikerin ihr Handeln einem persönlichen, gar einem materiellen Vorteil unterwerfen würde. Diese über jedem Materialismus und Egoismus stehende Integrität einer Bundeskanzlerin ist derzeit vielleicht der wichtigste Stabilisator, den wir in einer Welt besitzen, die droht, aus den Fugen zu geraten.“

Merkels Privatverhalten mag vorbildlich sein, materielle Vorteile erstrebt sie nicht. Ihr Machtverhalten aber ist unersättlich. Wie anders hätte sie zur mächtigsten Frau der Welt werden können? Sie hat, als erste Frau im Kanzleramt, die geniale Tat vollbracht, ein eiskaltes Macht-Verhalten im härenen Gewand der Magd Gottes zu kreieren. Demütige Weltmachiavellistin: das ist die gänzlich neue Kategorie einer Frau, die all ihre männlichen Mitregenten in den Schatten stellt.

Wer wird der deutsche Herakles sein, der sein Volk von allem Morast und Unrat befreien wird? Es wird keinen geben. Denn zwei Flüsse mit Namen Alpheus und Peneus gibt es nicht, die er mitten durch die nationalen Kloaken leiten könnte. Doch, doch, so ticken deutsche Über-Ich-Gehirne.

Fortsetzung folgt.