Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit LXVI

Tagesmail vom 15.01.2021

Alles hat keine Zeit LXVI,

Zeit des Abschieds, Zeit des Neubeginns.

Was wäre zu tun? Müssen wir neue Wege beschreiten? Müssen wir um-denken?

Um-denken? Haben wir denn bisher falsch gedacht? Was war falsch? Müssten wir nicht mit uns ins Gericht gehen, (nein, nicht ins Jüngste), und mit scharfer Selbstkritik beginnen, um die Frage zu beantworten: Wer bin ich? Wer sind wir?

Mit der Aufforderung: erkenne dich selbst, begann die epochale Wende der europäischen Geschichte: die Tradition wurde auf den Kopf gestellt, das Selberdenken und -fühlen zur Grundlage des bewussten, selbstgewissen Ichs. Die autonome Persönlichkeit wurde zum Fundament der neuen politischen Entwicklung – die in der Demokratie ihre Verfassung fand: der Einzelne fand in der Gesellschaft Gleichgesinnter seine Erfüllung.

Das Individuum vereinzelte sich, um als zoon politicon zu sich zu kommen. Ein Widerspruch? Nur für moderne Selbstdarsteller, die ihre Freiheit im Unbegrenzten, Enthausten und Gemeinschaftslosen sehen. Wahre Freiheit findet das mündige Ich allein in der Gemeinschaft anderer Ichs.

Das Ich erlebte seine Geburt in der Poesie – einer Frau:

„Es ist kein Zufall, dass die eigentliche Lyrik der Hellenen mit einer Frau beginnt. Diese Frau musste eine Sappho sein. Während der homerische Mensch noch im Äußern aufgeht und sein Innenleben als bloße Reaktion auf äußeres Geschehen auffasst, sind sich die neuen Poeten der Vorgänge ihrer Seele bewusst, beobachten sie und stellen erstaunt fest, dass diese der Urboden sind, aus dem alles äußere Tun stammt. Sie werden sich bewusst, dass sie individuelle Persönlichkeiten sind, was aber nicht bedeutet, dass sie sich aus der Gemeinschaft lösen.“ (Max Pohlenz, Der hellenische Mensch)

Ist es Zufall, dass es die Frau war, die die Natur entdeckte und ihr Ich als Teil der Natur?

„So ist Sappho für uns die erste, die den Stimmungsgehalt von Natur und Landschaft empfindet und wiedergeben will. Das Menschenleben ist für sie verwoben in die Natur.“ (ebenda)

Es ist ein Märchen des christlichen Abendlands, dass Frauen bei den Hellenen keine Rolle gespielt hätten. Athen war, verglichen mit den griechischen Städten in Jonien (der heutigen Türkei), eine rückständige Stadt, die erst nach dem Sieg über die persische Weltmacht sich explosionsartig zur ersten Demokratie der Weltgeschichte entwickelte.

Die Entdeckung der Menschenrechte wurde zur Entdeckung der gleichberechtigten Frau. Schon in den Zeiten des Perikles gab es bedeutende Frauen, die von Männern bewundert wurden. Aspasia, die Gefährtin des Perikles, könnte das Vorbild von Diotima, der Lehrerin des Sokrates, gewesen sein.

„Die Wanderlehrer hatten eine Art Frauenbewegung ausgelöst, die die Teilnahme an der neuen Bildung und Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frau erstrebte. Jetzt sammelt Aspasia, Gattin des Perikles, einen Kreis geistreicher Männer um sich. Von der Komödie verspottet, errang sie sich dennoch einen ehrenvollen Platz in der Literatur der Sokratiker.“ (Nestle)

Inbegriff der Tradition war die Religion, deren Macht zuerst gebrochen werden musste. Xenophanes wurde zum scharfen „Widerleger des Homertrugs“. Wie sind Menschen zu falschen Göttervorstellungen gekommen? Antwort: „Sie haben sie nach sich selbst gebildet. Nicht die Menschen sind die Schöpfung der Götter, die Götter sind die Schöpfung der Menschen.“

„Hätten die Rinder und Rosse und Löwen Hände wie Menschen, könnten sie malen wie diese und Werke der Kunst sich erschaffen, alsdann malten die Rosse gleich Rossen, gleich Rindern die Rinder auch die Bilder der Götter und je nach dem eigenen Ausseh’n würden die leibliche Form sie ihrer Götter gestalten.“

Xenophanes war es auch, der den unermüdlichen, nie abgeschlossenen Erkenntnisdrang des Menschen formulierte, auf den Popper sich immer berief:

„Nicht gleich anfangs zeigten die Götter den Sterblichen alles,
Sondern sie finden das Bessere suchend im Laufe der Zeiten.“

Dann die ungeheure Umwertung aller Werte: Körperstärke und Waffengewalt sind nicht die entscheidenden Kräfte des Menschen, sondern die neue Weisheit.

„Denn unsere Weisheit ist edler als die Stärke von Mann und Ross. Nein, es ist kein Sinn im Brauch: leibliche Kraft über die Weisheit zu stellen.“

Diese Kraft der alles überragenden Erkenntnis will Xenophanes, von Stadt zu Stadt ziehend, in die Welt hinaustragen. Aus dem Wandersänger wird ein Wanderlehrer, Bildung und Aufklärung verbreitend. Er wollte „nicht im Winkel flüstern“. Welch unfassbare Kraft bestimmte die Verkündigung des neuen Denkens bei Xenophanes. In ihm wendet sich „das philosophische Denken gegen die Ganzheit des homerischen Weltbilds.“

Aber die Überwindung dieses Weltbildes war nicht nur Zerstörung, sondern zugleich Aufbau. „Die Tätigkeit der älteren Philosophie geht auf die Reinigung der Welt im großen.“ Nicht durch Gewalt wie in der Missionierung der späteren Erlöser, sondern durch die bloße Macht der Argumente. Ein Malheur von Popper, dass er übersah: seine Lieblingsphilosophen Xenophanes und Sokrates lehnten Gewaltmethoden ab, um ihre Lehre vom Selberdenken in die Welt zu tragen. Eine humane Utopie ist kein totalitäres System.

Poppers Utopiefeindschaft beruhte zudem auf einer falschen Vorstellung von Glück. Kein Staat ist fähig, seine Untertanen auf direktem Weg glücklich zu machen. Er kann nur die Ursachen des Leidens vermindern oder abschaffen. Die Abwesenheit von äußerlichem Mangel und Leid – diese Aufgabe ist auch nach Popper die Pflicht des Staates – war noch lange kein innerliches Glück. Zu besichtigen bei allen Reichen der Geschichte, die im Überfluss schwammen und dennoch seelisch am Krückstock gingen.

Glück war das Produkt des eigenständigen Denkens und Erkennens, das die Eintracht des Individuums mit Mensch und Natur herstellte. Eine bessere Möglichkeit des Glücklichwerdens hat noch keine superintelligente Maschine erfunden. Wenn Elon Musk auf den Mars abzischt, wird er das Unglück seines Gottähnlichkeitszwanges nicht mit dem Start seiner Rakete abschütteln, sondern in allen Abgründen seines Wahns mittransportieren.

Geht heute etwas schief, schreiben die Medien von Dystopien – misslungenen Utopien. Was bedeuten würde, die Politik wäre von utopischen Zielen beseelt, die als gescheiterte ins Gegenteil umschlugen. Falscher geht es nicht. Die schreckliche Unfähigkeit der Machteliten, die anschwellenden Probleme der Menschheit anzugehen, beweist: sie denken nicht und schon gar nicht daran, die menschengemachten Probleme mit menschengemachten Mitteln aus dem Weg zu räumen.

Nicht nur die Macht der tot geglaubten Religion ist mittlerweilen zurückgekehrt: fast der gesamte Westen, einschließlich der technischen und politischen Eliten, hat sein Tun allmächtigen Geschichtsmächten unterworfen. Hayek betet die Kräfte eines unerkennbaren Marktes an, die er als Evolution bezeichnet, der Marxismus ist eine ordinäre Heilsgeschichte, deren Gott die Materie ist. Ansonsten ist alles wie bei Mütterchen in der Dorfkirche: hoffet und betet, bis die materiellen Verhältnisse das unersetzliche Unheil so lange haben gewähren lassen, bis das Glück am Ende der Zeiten den ganzen Spuk der Geschichte vertilgen wird. Wie in den Erlöserreligionen gibt es Auserwählte und Verworfene.

Der Marxismus ist die materiell kostümierte Religion des christlichen Mütterchens, die mit Naturgesetzen paradiert, welche keine sind, sondern der Machtphantasie der Menschen entspringen.

Früher waren die Völker den intellektuellen Fähigkeiten ihrer Eliten unterlegen. Heute sind sie dabei, die verrotteten Theorien ihrer BER-Matadore mit einem Schrei nach Demokratie vom Tisch zu wischen. Das ist das Positive der Gegenwart: die Grundelemente der Demokratie sind so tief in die Seele der Völker eingedrungen, dass diese das suizidale Tun ihrer „Führer“ nicht mehr ertragen. Ein Kampf zwischen Oben und Unten, von medialen Elitewächtern als Verschwörungstheorie oder Humbug abgetan, wird unvermeidlich sein – wenn die „Starken und Erfolgreichen“ nicht zur Einsicht kommen sollten.

Die Chancen sind gering. Denn dazu müssten sie ins Denken kommen. Doch sie rechnen nur noch, Denken halten sie für einen physiologischen Vorgang. Alles, was dem Geist entspringt, haben sie degradiert zu körperlichen oder materiellen Vorgängen.

Hasst einer die Menschheit, ist er toxisch. Steht er unter Strom, bestimmt ihn Adrenalin. Verliebt er sich, kamen seine Hormone in Wallung. Zentrum der Demokratie ist ein Maschinenraum.

Und was ist mit dem Denken? Es ist ein skurriles Abfallprodukt des aktiven Körpers:

„Wie sehr Sport die Leistungsfähigkeit des Gehirns fördert, lässt sich nicht nur an seiner Größenzunahme ablesen. Kanadische Forscher vom Montreal Heart Institute etwa ließen unsportliche Erwachsene zweimal wöchentlich ein intensives Intervalltraining machen. Nach vier Monaten hatte sich nicht nur ihre Kondition deutlich verbessert – sie erzielten auch in Tests ihrer geistigen Leistungsfähigkeit deutlich bessere Ergebnisse. Einen Teil dieser gestiegenen Leistung können Wissenschaftler durch die kurzfristige Wirkung von Sport erklären: Das Gehirn wird nachweislich besser mit Sauerstoff versorgt. Was auch immer der Grund ist, fest steht: Sport fördert nicht nur unsere körperliche Leistungsfähigkeit, sondern auch unsere geistige. Lauf dich schlauer – es funktioniert.“ (SPIEGEL.de)

In einem gesunden Körper ist ein gesunder Geist? Die alten Philosophen legten Wert auf die Gesundheit ihres Leibes, doch die Bedingungen dieser psycho-physischen Ausgeglichenheit beruhten auf eigenen Erkenntnissen. Denken hatte die Bedingungen des leib-seelischen Wohlbefindens zu erforschen, mit anderen Entwürfen zu vergleichen, zu durchstreiten und in Erfahrungen zu verwandeln.

Zu den gesunden Bedingungen des Leibes gehörten auch die politischen Verhältnisse, die Solidarität der Polis, das schlichte und enthaltsame Leben, die selbstbestimmte Arbeit, das politische Engagement, das unabhängige unbezahlte Denken, das heute mit gesellschaftlicher Verachtung bestraft werden würde, die Unabhängigkeit von fremden Arbeitgebern, die Ablehnung kapitalistischer Ungerechtigkeiten, Verachtung des Überflusses und der Überheblichkeit der ökonomisch Starken, die sich bis zum heutigen Tag als Führer der Menschheit aufspielen.

In einer gesund-gerechten, gesund-friedlichen, gesund-autonomen und gesund-naturnahen Gesellschaft können gesunde Geister leben.

Wie steht es heute mit den Mächtigen der Welt?

„Eines muss man der Kanzlerin allerdings lassen: Bisher hat die Frau, die sich vermutlich 300 Nachkommastellen der Zahl Pi merken kann, noch immer Recht behalten mit ihren düsteren Corona-Prognosen.“ (SPIEGEL.de)

Was sind die bewundernswerten Fähigkeiten der Kanzlerin? Die Fähigkeit, eine sinnlose Zahl zu rekapitulieren. Mit Bildung, gar politischer Weisheit, hat das so viel zu tun wie das atomisierte Faktenwissen der Quizchampions mit politischer Urteilskraft. Das Ideal der Gesellschaft ist karrieristische Rücksichtslosigkeit und Reichtumserwerbswissen. Bildung wäre das exakte Gegenteil. Schulen und Universitäten sind durchseucht von diesem Bildungsersatz.

Wäre die mechanische Reproduktion beliebiger Daten die Voraussetzung guter Politiker, müsste man die TV-Helden von Wer weiß denn sowas? sofort ins Kabinett schleusen.

Kinder erleiden keine Bildungsdefizite fürs Leben, wenn sie den Drillerfahrungen der kapitalistischen Pädagogik nicht permanent ausgesetzt sind. Die klügsten Kulturen der Welt kannten keine Pflichtschulen. Gerade die Freiwilligkeit des Lernens und Denkens sorgte für das unvergleichliche Niveau der damaligen Künste und Philosophien.

Bringt man Kindern kritisches Denken bei, um selbstbewusste Demokraten zu werden und die Mächtigen zu durchschauen? Kein Thema in der Schule! Doch Prüfungen müssen sein. Was man ihnen – unter Lohn und Strafe – nicht einbläuen konnte, das muss penibel nachgewiesen werden.

Was gehört zu den bewundernswerten Fähigkeiten der Kanzlerin? Dass sie prophetische Fähigkeiten besitzen muss. Je bedrohlicher die Prophetien, je mehr spricht das für die Widerstandskraft der von Gott erwählten Führungskraft.

Streng genommen ist sie keine Prophetin. Denn jene von Gott berufenen Warner seines Volkes hatten eine Vision: die Vision eines zweiten Gartens Eden. Die Kanzlerin schüttelt sich von Grauen bei dem Wort Vision. Sie übernahm alles, wie es lief und hat bis heute nichts daran geändert.

„Ich wünsche mir, dass ein Team gewählt wird, das die Geschicke unserer stolzen Volkspartei in die Hand nimmt und dann gemeinsam mit allen Mitgliedern die richtigen Antworten für die Aufgaben der Zukunft findet.“ (Sueddeutsche.de)

Merkel verschmäht Theorien, versteht nichts vom Abendland, nennt gedankenloses Herumtappen „Pragmatismus“. Ein Pragmatismus ohne leitende Ideen ist Irrsinn. Ihre Nachfolger sollen Probleme der Zukunft bewältigen, als ob die Klimakatastrophe nicht schon seit Dezennien bekannt wäre. Merkels Gottvertrauen ist eine totale Weltblindheit. Weisheit der Welt ist für sie noch immer Torheit vor Gott.

Als sie an die Macht kam, lief der Zug der Geschichte in Volldampf. Während ihrer ganzen Amtszeit zerfiel das Ganze an allen Ecken und Enden. Die Kanzlerin zehrte von ihren Anfangslorbeeren, die sie nie verdient hatte. Der ganze Verfall der Geschichte wird nicht ihr zugeschrieben, sondern einem anonymen Zeitgeist. Im Zweifelsfall jenen Sündenböcken, die regelmäßig zur Fahndung ausgeschrieben werden: den Populisten; Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern, Homöopathen, Coronaleugnern und sonstigen kuriosen Außenseitern. Die Eliten, unter ihnen die Medien selbst, bleiben stets ungeschoren.

Längst wurde der Kanzlerin von ihren medialen Schutzkolonnen Immunität zugesprochen. Was auch immer geschieht: nie ist sie an negativen Ereignissen schuld, die positiven aber hat sie mit Beharrlichkeit, Bescheidenheit und Zuversicht im Buch der Geschichte verewigt.

Ganz anders die Zensurmethoden, mit denen ihre Gegner traktiert werden. Wenn SPD-Scholz es wagt, den Gesundheitsminister wegen mangelnder Impfdosen zu tadeln, sind sich alle Medien einig: Tadel idiotisch, dient lediglich dem beginnenden Wahlkampf. Die sachliche Richtigkeit der Kritik wird keines Blickes gewürdigt.

Die guten Absichten der Merkelgegner sind nichts als trickreiche Rationalisierungen. Umgekehrt bei Merkel: ihre schrecklichsten Fehlleistungen sind stets die Früchte der Umstände, für die die Kanzlerin keine Schuld trägt. Sie bringt immer den ganzen Einsatz, für negative Ergebnisse ist sie nicht zuständig. Wie sie sich sorgt, ununterbrochen warnt, mit dem Volk demonstrativ mitleidet: das ist vorbildlich. Wie Scholz, ihr Herausforderer, sich in Szene setzt, ist nichts als Eitelkeit, nur ein Versuch, ihr zu schaden und seiner Partei Punkte zu verschaffen.

Das ist eine bigotte Interpretationsmethode: den Reinen ist alles rein, die Unreinen können sich drehen und wenden, wie sie wollen: sie werden begraben.

CDU-Historiker Rödder hat sich auch Gedanken gemacht über seine Kanzlerin:

„Merkel hat über vier Legislaturperioden die Regierung geführt – das allein ist ein einzigartiger Erfolg, zumal im 21. Jahrhundert. Der Preis, den die CDU dafür zahlt, ist der Verlust an inhaltlicher Substanz, weil Merkels Machtrezept in der Anpassung an den rot-grünen Mainstream lag. Die Frage, wofür die CDU heute inhaltlich steht und wofür sie kämpfen würde, lässt sich immer schwerer beantworten.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Was ist ihr Erfolg? Dass sie vier Legislaturperioden lang die Regierung geführt hat? Der pure äußere Erfolg ihrer Machtspiele soll ein Erfolg ihrer Politik sein, die an allen Ecken und Enden versagt hat?

Welche Politik hat sie gemacht? Kann sie gelöste Probleme vorweisen? Hat sie die Zukunft ihres Volkes gesichert? Ist das Leben unter ihrer gottergebenen Demut besser geworden? Sind Menschen zuversichtlicher geworden? Ist die Jugend überzeugt von ihrer Verweigerungspolitik: Dies ist nicht die Stunde … für Mäkeleien und hämische Kritik?

Rödder räumt ein, dass Merkels Politik ein stetiger Substanzverlust war. „Der Preis, den die CDU dafür zahlt, ist der Verlust an inhaltlicher Substanz, weil Merkels Machtrezept in der Anpassung an den rot-grünen Mainstream lag. Die Frage, wofür die CDU heute inhaltlich steht und wofür sie kämpfen würde, lässt sich immer schwerer beantworten.“

Trotz Substanzverlustes muss ihre Ära als erfolgreich dargestellt werden? Ist das Lernen von der Opposition, mit der sie viele Jahre quasi verheiratet war, automatisch ein Substanzverlust? Könnte es nicht ein Zugewinn gewesen sein, da die Inhalte der C-Parteien nichts mehr taugten? Heute wird Merz als möglicher Kanzlerkandidat mit der Begründung disqualifiziert, er sei ein Mann von gestern. Ja, was denn nun? Wenn die Vergangenheit der CDU nur substanzlos war, kann das Lernen vom Groko-Partner nur zum Vorteil gereicht haben.

Was, bitte, hätte Merkel tun sollen?

„Die CDU muss sich weiterentwickeln und modernisieren, aber aus eigenem Antrieb, mit eigenem Kompass und eigenem Profil. Die entscheidende Stärke der CDU als Volkspartei hat immer in der Breite ihrer politischen Überzeugungen gelegen. Was für die CDU nötig ist, ist nicht, dass sie „rechter“ wird, sondern dass sie sich wieder breiter aufstellt.“

Inhaltslose Sätze, deren Gültigkeit zum Verfall der Gesellschaft beitrugen. Weiter-entwickeln? Wohin? Weiter ist nur notwendig, wenn das Bisherige schlecht war. Was aber war schlecht am alten Programm der Partei?

Die Phrase der Moderne: wer sich nicht ändert, bleibt sich nicht treu, ist eine Vergötzung der linearen Zeit als Medium des Fortschritts, selbst wenn dieser der Gesellschaft den Ruin bringt.

Die Partei muss sich modernisieren? Ein leerer Begriff. Wer sich modernisiert, wirft das Alte weg. Gründe? Keine. Weder wird begründet, warum das Alte schlecht, noch, das Neue besser sein soll. Völlig gedankenlose Phrasen. Politische Überzeugungen haben den Wahrheitsvorstellungen der Partei zu entsprechen und können sich keineswegs danach richten, ob sie den Überzeugungen der Mehrheiten entsprechen.

Politiker haben zu sagen, was sie für richtig halten. Punkt. Die Gesellschaft wird ihnen Rückmeldung geben, ob ihre Wahrheit den Wahrheitsvorstellungen der Mehrheit entspricht. Parteien haben Angebote zu machen, die Bevölkerung hat die Chance, jene „Angebote“ mit ihrer „Nachfrage“ zu konfrontieren. Wer sich machtversessen an den Vorstellungen der „breiten Gesellschaft“ orientiert, hat seine demokratische Lauterkeit und Glaubwürdigkeit verraten. Er hat sich zum Marktschreier degradiert.

Rödder ist Unterstützer von Merz. Entsprechend rückwärtsgewandt ist sein Vokabular aus der Erhard-Zeit: Ordnungspolitik, Subsidiaritätsprinzip. Wie bitte? Katholische Vokabeln, die wie religiöse Dogmen auftreten. „Und er kann das Subsidiaritätsprinzip zur Geltung bringen. Das klingt furchtbar unsexy, ist in Wirklichkeit aber die DNA christdemokratischen Denkens.“

„Das Subsidiaritätsprinzip ist ein wichtiges Prinzip unter anderem in der Sozialen Marktwirtschaft und in der EU: staatliche Hilfe soll nämlich nur in jenen Fällen erfolgen, in denen die Kräfte eines Individuums nicht ausreichen. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Hartz-IV-Zahlungen, welche dann gewährt werden, wenn eine Person nicht alleine in der Lage ist, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.“

Wann ist eine Person unfähig, sich selbst über Wasser zu halten – und wer erkühnt sich, darüber zu urteilen? Beamte sollen fähig sein, Menschen in Not zu beurteilen? Ob sie simulieren oder wirklich arbeitsunfähig sind?

Das Menschenbild der Beamten ist biblisch: der Mensch ist böse, faul und will nichts anderes als seinen Mitmenschen auf der Tasche liegen. Das ist die wahre Böckenförde-Doktrin: der heidnische Vernunft-Glaube an den lernfähigen und selbstbestimmten Menschen soll an den Schwächsten der Gesellschaft gekreuzigt werden. Pflicht der gottgegebenen Obrigkeit ist die Entlarvung der Schwachen als Heuchler und Betrüger. Die Verteilung des Profits an die alleinigen Herren über das ungerechte Verteilungsprogramm muss gewahrt werden: den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Seit dem Frühkapitalismus ist es zum Credo des Westens geworden, dass jede siegende Gesellschaft Arme und Verlierer als Sündenböcke benötigt, um sie stellvertretend für alle Übel der Gesellschaft an die Schandmauer zu stellen.

Einen leib-seelisch-gesunden Menschen erkannt man daran, dass er sein Leben selbst gestalten kann. Wer dazu nicht mehr in der Lage ist, ist noch lange kein Parasit der Gesellschaft, sondern ein Hilfsbedürftiger, den man zu unterstützen hat – wenn man noch einen Funken Menschlichkeit in sich spürt.

Alles andere hält sich an das Motto von Carl Schmitt: Wer die Macht hat, hat das Recht. Diese faschistische Idee ist zum Verteilungsschlüssel des gesellschaftlich verdienten Reichtums geworden.

Merkels substanzlose Politik führt orientierungslos in den Abgrund. Die deutschen Medien haben einen Kordon um sie herum errichtet. Öffentlich mit der Gesellschaft debattieren – das ist schon seit Jahren nicht geschehen. Wie Bismarck agiert Merkel in Geheimdiplomatie – mit dem kleinen Unterschied, dass ihre Paladine an den Schlüssellöchern lauern dürfen und in privilegierten Runden mit dem Charisma der begnadeten Frau beglückt werden.

Die Deutschen leben in post-pietistischer Glaubens-Symbiose mit ihrer Kanzlerin. Vor 200 Jahren bereits besang der evangelische Pfarrer Eduard Mörike die Prinzipien der heutigen Merkelpolitik:

„Herr! Schicke, was du willst,
Ein Liebes oder ein Leides;
Ich bin vergnügt, dass beides
Aus deinen Händen quillt.“

Fortsetzung folgt.