Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit LXIV

Tagesmail vom 11.01.2021

Alles hat keine Zeit LXIV,

In welchem Zustand befindet sich die westliche Demokratie? Sie ist vergleichbar der Herrschaft jener Neros und Caligulas, die vor diabolischen Verbrechen nicht zurückscheuten – der Devise folgend: mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten.

In einem Punkt aber übersteigt die Moderne an Gefährlichkeit jedes bekannte Maß: ein einziger Mann ist von seiner Nation mit der Macht ausgestattet worden, mit einem einzigen Knopfdruck die Welt in Schutt und Asche zu legen. Unfasslicheres gab es nie.

In vier Jahren seiner Herrschaft hat sich dieser Weltgigant zum unberechenbaren psychiatrischen Fall entwickelt, dem man kurz vor seinem Machtende noch zutraut, das Unfassbare in Wirklichkeit zu verwandeln.

Der point of no return des Fortschritts zeigt immer deutlicher seine drei Varianten:

a)  die Möglichkeit der atomaren Selbstzerstörung
b)  die Möglichkeit der klimabedingten Menschheitsvernichtung
c)  die Möglichkeit, durch Flucht in den Weltraum die Erde für immer aufzugeben

Die Erlöserreligion, Urheberin des technischen Fortschritts in Gestalt einer wunderhaften Heilsgeschichte, fasst alle drei Varianten in dem griechischen Begriff für „Enthüllung oder Offenbarung“ zusammen: Apokalypse.

„Die Apokalyptik erwartet die Wende vom Unheil zum Heil nicht mehr als ein Eingreifen Gottes in den Lauf der Weltgeschichte, sondern als sein Kommen zu deren Abbruch. Insofern herrscht hier gegenüber der älteren Prophetie eine geschichtspessimistische Grundstimmung: Die ganze Menschheits- bzw. Weltgeschichte wird als Unheilsgeschichte gesehen, die einem schrecklichen Ende zutreibt. An Gottes Herrsein in Bezug auf seine Vorsätze wird nicht gerüttelt: Gott selbst habe den plötzlichen, katastrophalen Abbruch der von ihm bis dahin geduldeten Weltgeschichte im Voraus festgelegt (Gedanke der Vorsehung Gottes – lateinisch Providentia Dei oder theologischer Determinismus). Das endgültige, von Gott allein gesetzte Ende wird oft als Endkampf Gottes gegen den Satan und seinen dämonischen und menschlichen Anhang (vgl. Höllensturz) verstanden, der zur von Gott vorbestimmten Zeit beginnt. In der biblisch-jüdischen Apokalyptik wird an der Einheit der an sich guten Schöpfung festgehalten: Die Welt wird gemäß dem Willen Gottes von Grund auf verwandelt. Das Endgericht steht zu Beginn der Herrschaft Gottes und beendet die Herrschaft widergöttlicher Mächte, die Gott bis dahin geduldet hatte. Die Verwandlung der Welt ist allein Gottes Werk. Nur er kann die endgültige Gerechtigkeit bringen und weltweit durchsetzen. Sein Sieg steht seit undenklichen Zeiten her fest.“

Klaffende Widersprüche: die Welt an sich ist gut, dennoch so schlecht, dass sie vollständig zerstört werden muss. Gott, der Gute, toleriert das Böse, um beides zu vernichten und ganz Neues zu schaffen. Das Neue, von der Moderne wie ein Heiliges verehrt, ist eine alles vernichtende Kraft, um nach der Zerstörung ins Nichts eine zweite Kreation aus Nichts zu schaffen. Das Nichts – ein ander Wort für das Böse – ist Ursprung von allem:

„Das reine Sein und das reine Nicht ist also dasselbe. Es gibt nirgend im Himmel und auf Erden etwas, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte. Nichts oder Sein bestehen nicht für sich, sondern sind nur im Werden.“ (Hegel)

Die Moderne will genial und kreativ sein. Wo nichts ist, soll etwas werden. Kreativität kommt von creare ex nihilo. Ohne Schaffung des Nichts keine Kreativität.

Kreieren aus Nichts als Werden ins Nichts ist die Formel des Fortschritts. Fortschritt ist nur scheinbar eine Akkumulation des Guten mit geringfügigen negativen Nebenwirkungen. Alle Verbesserungen dienen allein dem Zweck, die Erde in einem gewaltigen Akt ins Nichts zu bringen, um Platz zu schaffen für eine neue aus Nichts.

Die Menschheit steht am Endpunkt einer dreifach möglichen Selbstzerstörung: durch atomaren und klimabedingten Suizid – oder durch Verlassen des Planeten mit wenigen Auserwählten, um die Erde als Friedhof der Milliarden sich selbst zu überlassen.

Bislang haben die Verbesserungen des Fortschritts ihre Nachteile übertroffen. Atomar wird schon nichts passieren, selbst im Kalten Krieg fiel keine einzige Bombe. Noch liefert die Natur reichlich, um die Menschheit zu ernähren. Ihre riesigen Wunden sind weit entfernt von den Metropolen. Wer nicht genau hinschaut, kann sich in der Illusion wiegen, als sei alles intakt. Elon Musks Raketen wirken wie weit entfernte Bubenspiele, die man mit gemischten Gefühlen ignorieren will.

Mittlerweilen sind Vor- und Nachteile zum Patt gekommen. Die Vorteile schwinden, die Nachteile werden brandgefährlich. Fast alle Machteliten versagen, die Völker besetzen die Straßen und Plätze. Die Reichen und Mächtigen zeigen sich wenig lernfähig. Sie verlangen wachsenden Profit. Was der politische Zustand der Welt für Natur und Gesellschaft bedeutet, berührt sie nicht.

Die Wirtschaft schaut teilnahmslos zu. Seit Jahrzehnten organisiert sie Raubzüge gegen die Natur und übersieht demonstrativ ihre selbst fabrizierten Schäden. Was für die Ökologie gilt, gilt für die Gefahren der Politik. Trump konnte vier Jahre lang die Demokratie zerlegen: die Kapitalisten schauten weg und konzentrierten sich auf ihren Profit. Wie sie nicht wollen, dass Politik sich in die Wirtschaft einmischt, so mischt Wirtschaft sich nicht in die Belange der Politik – auch wenn ihre eigenen Beutezüge bedroht sein mögen:

„Die Wirtschaft hat vier Jahre lang geschwiegen, während US-Präsident Donald Trump die politische Kultur zerstört hat. Jetzt fordern manche Unternehmensvertreter gar seine Absetzung. Kommt der Widerstand nicht ein bisschen spät?“ (SPIEGEL.de)

Solange der Staat funktioniert, halten sie ihn klein. Droht er zu kollabieren, ignorieren sie die Gefahren, die sie selbst bedrohen.

Mit stolz geschwellter Brust behauptet der Industrievertreter:

„Wir Deutsche haben vor dem Hintergrund unserer Geschichte vielleicht ein geschärftes Bewusstsein dafür, wie schnell eine Demokratie abgleiten kann. Es gab da schon erschreckende Parallelen.“

Und siehe da, niemand protestiert gegen die Analogien der Gegenwart mit einer ruchlosen Vergangenheit. Darf man denn Vergleiche zwischen unvergleichlichen Geschichtsepochen ziehen?

„Wegen Auschwitz“ will Außenminister Maas in die Politik gegangen sein. Ist das kein Sophie-Scholl-Effekt – der merkwürdigerweise von niemandem gerügt wird?

Haben die Deutschen aus ihrer unrühmlichen Vergangenheit gelernt? Sind das nicht indirekte Vergleiche mit den Heroen des deutschen Widerstands? Oder dürfen Amerikaner die Geschehnisse der Gegenwart mit den Schrecken der deutschen Vergangenheit vergleichen?

„US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden hat Amtsinhaber Donald Trump vorgeworfen, wie Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels zu lügen. „Er ist so in etwa wie Goebbels. Man erzählt eine Lüge lange genug, wiederholt sie, wiederholt sie, wiederholt sie – und sie gilt als Allgemeinwissen“, sagte Biden.“ (WELT.de)

Schwarzenegger hat die Erstürmung des US-Kapitols durch randalierende Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump mit der Reichspogromnacht von 1938 verglichen. „Mittwoch war der Tag des zerbrochenen Glases hier in den USA“, sagte Schwarzenegger in einer am Sonntag über den Onlinedienst Twitter verbreiteten Videobotschaft. „Nacht des zerbrochenen Glases“ ist eine im angelsächsischen Sprachraum geläufige Bezeichnung für die Geschehnisse in Nazi-Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Damals gab es im ganzen Land Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Durch den ausbleibenden Protest der Gesellschaft fühlten sich die Nationalsozialisten in ihrem Vorhaben bestärkt, Pläne zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas voranzutreiben.“ (BILD.de)

Die Amerikaner rühmen sich, den faschistischen Bedrohungen durch Trump widerstanden zu haben – und keine deutsche Gazette beginnt aufzuschreien?

Die Deutschen sind dabei, ihre Vergangenheit zu planieren und zuzuschütten. Gedenket nicht des Vergangenen: biblische Grundsätze bestimmen aus dem Untergrund das Hier und Jetzt. Historiker haben die Vergangenheit schon skelettiert und jedem Vergleich mit der Gegenwart entzogen. Keine Epoche ist einer anderen vergleichbar. Lernen aus der Geschichte ist Unfug. Jede Gegenwart ist vom Himmel gefallen und kennt keine Wurzeln in der Vergangenheit. Der Mensch ist kein geschichtliches Wesen mehr, sondern vernichtet jeden verflossenen Tag. Gibt es eine Genese des Jetzt aus dem Gestern, Verstehen des jetzigen Augenblicks aus dem Werden aller verflossenen Augenblicke?

Geschichte ist kein Erkenntnismedium der jetzigen Menschheit. Regungslos schaut sie nach vorne und schreibt sich prophetische Kompetenzen zu. Humane Utopien lehnt sie ab, technische Phantastereien aber dürfen als seriöse Zukunftsbeschreibungen propagiert werden. Im kritiklosen Ausmalen der Zukunft gibt es keine Grenzen zwischen Realismus und magischer Phantasie. Doch deutsche Esoteriker auf der Straße werden von staatstragenden Medien für den Untergang des Abendlandes verantwortlich gemacht, KI-Propheten aus Silicon Valley hingegen in den Himmel gehoben.

Die zunehmende Wirrnis der Geister ist ein Zeichen der anschwellenden endzeitlichen Geisteszerrüttung. Betrachtet man Corona als vorlaufende Probebühne der finalen Katastrophe, kann man sich über subkutane Parallelen zwischen neutestamentlichen Prophetien und gegenwärtigen Ereignissen nicht mehr wundern.

Wo immer man versagen kann, hat die deutsche Regierung beim Bewältigen der Epidemie versagt. Da sie sich aber so herrlich in Demut bemüht, ununterbrochen warnt und den Ernst der Lage beschwört, sind die Deutschen mit ihr zufrieden. Derweilen wird die Bilanz der Regierung immer verheerender:

„Der renommierten Johns-Hopkins-Universität zufolge verzeichnete Deutschland zuletzt zehn Corona-Tote pro eine Millionen Einwohner. WENIGER als Großbritannien (zwölf), aber MEHR als die USA (neun), Italien (7,8), Frankreich (5,9) oder Spanien (3,2). „Für die hohen Sterbezahlen ausschließlich bei Älteren und Hochbetagten, dafür trägt die Politik die Verantwortung.“Die Regierung habe sich „gegen fachkundige Beratung dazu entschlossen, nur auf Lockdowns zu setzen und auf gezielte Schutzmaßnahmen für Ältere zu verzichten“, so Schrappe. Diese Strategie sei „krachend gescheitert“, die Folgen „katastrophal“. Im Dezember kamen 86 Prozent aller Corona-Toten in Hessen aus Pflegeheimen. In Hamburg waren es 73 Prozent, in Bremen 71 Prozent, in NRW 55 Prozent.“ (BILD.de)

Wie im normal funktionierenden Kapitalismus die Armen, Schwachen, Kinder und Alten an den Rand geschoben werden, so erst recht in Notzeiten, wo tüchtige Kapitalisten gehätschelt werden müssen, weil sie systemrelevant sind. Sie sind unersetzlich, um den Notbetrieb aufrecht zu erhalten.

Wurden die Alten schon in Normalzeiten ins Abseits geschoben, um den Werktätigen nicht lästig zu fallen, so erst recht in Zeiten der Not – wo sie der umtriebigen Gesellschaft nur noch lästig fallen. Wozu hat der Erlöser die Familie zerstört, wenn nicht, um den Seligkeits-Wettbewerb der Einzelnen nicht durch sentimentale Gemeinschaftsgefühle zu erschweren?

Wie Erwachsene sich von ihren lästigen Kindern lösen müssen, um frei zu sein für Abenteuer des Erfolgs, so müssen sie sich auch von den Alten lösen, um ihren karrieristischen Wert beim Geldmachen zu erfahren.

Man vergleiche folgende Kritik am Corona-Management der Regierung mit eschatologischen Warnungen des Matthäus:

„Wenn ihr nun sehen werdet den Gräuel der Verwüstung stehen an der heiligen Stätte, wovon gesagt ist durch den Propheten Daniel (Daniel 9,27; 11,31) – wer das liest, der merke auf! –, alsdann fliehe auf die Berge, wer in Judäa ist; und wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinunter, etwas aus seinem Hause zu holen; und wer auf dem Feld ist, der kehre nicht zurück, seinen Mantel zu holen. Weh aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen!“

„Hinzu kommt, dass die neue Regelung in den Bundesländern, die bislang keine Ausnahmen für kleine Kinder vorsehen, ja auch für Säuglinge gilt. Eine stillende Mutter wird faktisch keine Verwandten und Freunde mehr besuchen können, weil sie naturgemäß nicht längere Zeit alleine unterwegs sein kann. Problematisch sind die Regelungen auch deshalb, weil wir immer noch nicht sicher wissen, welche Rolle Kinder bei der Infektionsverbreitung spielen. Für derart massive Grundrechtseingriffe bräuchte man fundierte wissenschaftliche Studien, die besagen, dass auch Säuglinge und kleine Kinder einen relevanten Beitrag zur Infektionsverbreitung leisten können.“ (WELT.de)

Ist die Hektik des konkurrierenden Wettlaufs durch Kinder, Säuglinge und Alte gefährdet, müssen diese rigoros aus dem Weg geräumt werden. Wer braucht noch Kinder, wenn überintelligente Roboter weitaus leistungsfähiger sind als die evolutionär veraltete Menschenbrut?

Was sie falsch machen kann, hat die Regierung falsch gemacht. Sie wählte Virologen als Berater ihrer Geheimberatungen, nicht wissend, dass Experten ihr Fach beherrschen mögen, aber politische Elfenbeinturmbewohner sind. Engagierte Demokraten, Kinderpsychologen, alleinstehende Mütter und Gerontologen sind für solche exklusiven Runden ungeeignet.

Merke: die Psyche ist ein schwankendes Rohr, nichts für sachliche und nüchterne Physiker und laborerfahrene Mediziner. Die Verfassungsrechtlerin:

„Es ist immer problematisch, wenn nur bestimmte Expertengruppen gehört werden. Es fehlt dann eine gute Basis an Erkenntnissen, auf deren Grundlage durchdachte Entscheidungen getroffen werden. Was mich mindestens ebenso beunruhigt: Wiederum wurde der Bundestag nicht einbezogen, bevor die Maßnahmen, die ja massiv in unsere Grundrechte eingreifen, beschlossen wurden. Damit gefährdet man die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung, man beschädigt die etablierten Mechanismen des demokratischen Rechtsstaats und liefert damit radikalen Kräften wie der AfD einen billigen Vorwand, sich als Wahrer der Grundrechte aufzuschwingen. Ich halte die verschärften Kontaktbeschränkungen mit Blick auf das Grundgesetz für sehr problematisch. Die Ausgangssperren tragen in keiner Weise dazu bei, die Ziele zu erreichen, um die es gehen muss: den Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung und den Schutz der Risikogruppen. Ganz im Gegenteil: Es ist nicht ersichtlich, wie Ausgangssperren helfen sollten, besonders gefährdete Gruppen wie etwa Menschen in Altenheimen zu schützen. Sie führen stattdessen zu vielfältigen Folgeproblemen, etwa zur Vereinsamung von Menschen, zu Depressionen, zu häuslicher Gewalt.“

Im Zweifelsfall kann die lästige Psyche vernachlässigt werden. Zwischenfrage: wie viele der verantwortlichen Damen und Herren im Kabinett haben Kinder? Nein, nicht haben, um sie am Wochenende zu sehen. Sondern Kinder, deren Heranwachsen sie in allen Phasen begleiten? Pardon, sie haben sich ja schon längst vorbildlich gelöst, um deren Entwicklung nicht lästig zu fallen.

Ach diese Kinder: überbehütet, verzärtelt, verwöhnt und verweichlicht. Zeit, sie mal wieder ranzunehmen. Erleben sie doch heute nichts anderes als die Zerstörung ihrer Zukunft. Das bisschen werden sie ja wohl noch in den Griff kriegen:

„Die meisten Kinder sind heute verweichlicht, überbehütet und überkontrolliert. Sie bekommen ja fast schon als Fußgänger einen Sturzhelm aufgesetzt. Mädchen und Jungen haben deshalb ein echtes Problem: Wo bitte sollen sie heute noch Abenteuer finden? Wie die Herausforderungen und Gefahren, die sie meistern müssen, damit sich in ihnen auch Charakterstärke entwickelt? Wir haben als Kinder ständig Abenteuer gesucht; sind in verlassene Häuser eingestiegen, sind durch die Kanalisation gelaufen und haben auch gefährlichen Mist angestellt: Messerwerfen (Bitte auf gar keinen Fall nachmachen / Anm. d. Red.), ein Feuer anzünden. Und unsere Eltern wussten derweil gar nicht, wo wir waren.“ (BILD.de)

Selbst BILD wurde das zu viel. So viel Freiheit, sich und andere zu gefährden, kann sie nicht verantworten. Was ganz anderes ist es, wenn die Eltern dieser Kinder deren Überleben auf Erden gefährden. Da kommt das geliebte Risiko beim Loslösen von allen Bindungen erst voll auf seine Kosten. Das Kabinett wird doch nicht kinderfeindlich sein? Schaut, wie sie sich liebevoll zu den Kleinen herniederbeugen, wenn sie huldvoll einen Kindergarten einweihen dürfen.

Wenn es in Deutschland um Vergangenheit geht, wird sie von intellektuellen Putzkolonnen porentief gereinigt. Selbst Kaiser Willems Tschindarassabum wird demokratisiert, dass einem die Tränen kommen:

„Modern, im Aufbruch begriffen und demokratischer als angenommen: Das Deutsche Kaiserreich sonnt sich seit einiger Zeit in einem neuen, milden Glanz – eine Neubewertung, die manchen längst überfällig scheint und die nicht nur in den restaurierten preußischen Kulissen in Berlin und Potsdam ihren Ausdruck findet. Auch Historiker haben an ihr mitgewirkt, so unterschiedlich ihre Motive sind. Manche, wie Frank-Lothar Kroll oder Benjamin Hasselhorn, verfolgen eine neonationalistische Agenda, wenn sie das Kaiserreich nicht nur als „normale“ Nation, sondern sogar als freiheitlich verfassten Nationalstaat bezeichnen, um das Deutschland der Gegenwart in dessen Kontinuität zu stellen. Andere wollen im Reich von 1871 vorrangig eine reformbegeisterte, Demokratie praktizierende Zivilgesellschaft erkennen, wie die Historikerin Hedwig Richter in ihren Arbeiten der vergangenen Jahre. Eine Revolution, nicht von oben, sondern von unten, fegte Monarchie und Monarchen hinweg. Am 19. Januar 1919, fast auf den Tag genau 48 Jahre nach der Kaiserproklamation von Versailles, wählten die Deutschen – Frauen und Männer – das erste Parlament einer demokratischen Republik. Sie währte 14 Jahre. Zu den Ursachen ihres Scheiterns gehörte das Erbe des Kaiserreichs. Auch das übersieht, wer es 150 Jahre nach seiner Gründung in ein allzu rosiges Licht taucht.“ (ZEIT.de)

Wer wird denn am Chauvinismus der Weltkrieger kritteln, wenn von Hegel bis Nietzsche alle Genies der NS-Wegbereiter längst salonfähig geworden sind?

Wie ist der Zustand der westlichen Demokratie? Thomas Assheuer hat – welch rühmliche Ausnahme – eine anamnestische Spur der gegenwärtigen Demokratie- und Humanitätsverdrossenheit aufgespürt:

„Alles entscheidend ist Antons Bemerkung, in Amerika sei das Wissen aus drei Jahrtausenden Abendland verloren gegangen. Die Liberalen, und hier offenbart er sich als Intensivleser der Werke von Leo Strauss, Allan Bloom und Harry V. Jaffa, okkupieren den geistigen Raum des Staates und geben die Orientierung an der menschlichen Natur preis. Der Liberalismus, erst recht der linke, „ist mit der menschlichen Natur unvereinbar“. Er untergräbt die Gesellschaft. Für sie ist die Moderne von Anfang an falsch abgebogen und hat schon zur Zeit von Hobbes und Spinoza das antike Naturrechtsdenken an den Relativismus verraten. Seit diesem Sündenfall irren selbstsüchtige Bürger in wütender Einsamkeit durchs gottlose Babylon des Liberalismus. Sagen wir es so: Intellektuelle wie Anton haben einfach zu viel Plato gelesen. Sie wünschen sich einen strengen Tugendstaat, der die Menschen zu einer sittlich verbindlichen Lebensform erzieht und in dem weise (und weiße?) Philosophen – wie in Platons Nomoi – dem Machthaber höhere Anweisungen zur geistigen Instandhaltung des niederen Volkes erteilen. Der Staat soll das tun, was der Liberalismus von Anfang an versäumt hat: Er soll nicht bloß die Körper, er soll die Seelen der Bürger regieren und schon im Vorfeld jede liberale Aufweichung erkennen.“ (ZEIT.de)

Es geht noch deutlicher. Neocons waren Schüler des einflussreichen Carl-Schmitt-Schülers Leo Strauss. Zwar befürworteten sie Dabbeljus Kriegszug gegen den Irak – doch nur um der Demokratisierung des Landes willen.

Im Gegensatz zu den „Claremonts“: ebenfalls Schüler von Leo Strauss, aber vom radikalen Willen beseelt, den humanen Irrsinn des Westens zu beseitigen. Weg mit dem UN-Völkerparlament, weg mit dem Menschenrechtsgesäusel: der Mensch ist eine Bestie, seine Vernunft taugt nichts, er muss von einer religiösen Instanz an die Kette gelegt werden. Trump – ob es ihm bewusst ist oder nicht – ist ein Geschöpf theokratischer Strauss-Schüler:

„Während George W. Bush im Irak „nur“ einen regime change exekutierte, stellt Donald Trump die gesamte Weltordnung auf den Kopf. Geht es nach dem Willen des Präsidenten, dann beruht die künftige Ordnung nicht mehr auf der „Schwäche“ des Rechts, sondern auf der Stärke der Macht. Sie beruht auf nationaler Souveränität und militärischer Konsequenz, auf hard power statt soft law. Und siehe da, es funktioniere heute schon: Diktator Kim Jong Un, triumphiert Trump, habe die Sprache der Macht verstanden. „The rocket man“ kapituliert und kriecht vor Amerika zu Kreuze. Man hätte das alles längst wissen können, sein Programm war ausformuliert und stammt in seinen Grundzügen aus einer kalifornischen Kaderschmiede, einem philosophischen Institut in der Kleinstadt Claremont. Dessen Mitglieder haben sich mit Haut und Haaren dem Denken des in die USA emigrierten deutschen Philosophen Leo Strauss (1899 bis 1973) verschrieben, und nicht einmal die zurückhaltende New York Review of Books lässt Zweifel daran, dass in Claremont „Trumps Hirne“ versammelt sind.“ (ZEIT.de)

Strauss verurteilt die Grundprinzipien der westlichen Demokratie, ihren Willen zur Selbstbestimmung, ihre Vernarrtheit in die Vernunft, ihre moralische Hypertrophie. Die deutschen Amoralisten der Gegenwart sind – ob bewusst oder nicht – Schüler des Leo Strauss, der den Hochmut der Aufklärung an der Wurzel ausgraben und durch demütige Unterordnung unter Gottes Lohn- und Straf-Ethik ersetzen will.

„Die Natur des Menschen sei nicht zur bloßen Freiheit geschaffen; sie brauche Ordnung, Herrschaft und Gesetz. Eliten dürften den Menschen vorschreiben, wie sie zu leben hätten, sie dürften sie nach Strauss auch belügen; man denke an die „edle Lüge“, die sogar dem Philosophenstand in Platons Politeia erlaubt sei – bekanntermaßen der Entwurf einer Utopie als „bester Verfassung“.“ (Wiki)

Kurz: Strauss will das demokratische Naturrecht der Schwachen durch das Naturrecht der Starken in platonischer Zwangsbeglückung ersetzen.

Strauss ist der Antipode zu Popper. Dieser warnte vor dem platonischen Urfaschismus, jener hält ihn für das einzige Heilmittel des Westens – um die Macht über den Globus zu erringen. Aufklärung und demokratische Gleichheit, universelle Humanität und Wahrhaftigkeit werden abserviert, an ihre Stelle tritt machiavellistische Elitenherrschaft. Der Mensch ist ein moralischer Versager, zu seinem Glück muss er gezwungen werden.

Noch nie war die westliche Demokratie so gefährdet wie heute. Es scheint, als würde Strauss seinen Kontrahenten Popper auf die Matte legen.

Fortsetzung folgt.