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Alles hat keine Zeit LXIII

Tagesmail vom 08.01.2021

Alles hat keine Zeit LXIII,

„Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique „regieren“ zu lassen. Ist es nicht so, daß sich jeder ehrliche Deutsche heute seiner Regierung schämt. Wenn das deutsche Volk schon so in seinem tiefsten Wesen korrumpiert und zerfallen ist, daß es, ohne eine Hand zu regen, im leichtsinnigen Vertrauen auf eine fragwürdige Gesetzmäßigkeit der Geschichte das Höchste, das ein Mensch besitzt und das ihn über jede andere Kreatur erhöht, nämlich den freien Willen, preisgibt, die Freiheit des Menschen preisgibt, selbst mit einzugreifen in das Rad der Geschichte und es seiner vernünftigen Entscheidung unterzuordnen – wenn die Deutschen, so jeder Individualität bar, schon so sehr zur geistlosen und feigen Masse geworden sind, dann, ja dann verdienen sie den Untergang.“

„Ich habe den Krieg verhindern wollen. Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten.“

Welch unerträgliche Moralisten: diese Sophie Scholl, dieser Georg Elser. Selbstbezogen, wie diese Maulhelden waren, wollten sie nur als moralische Heroen ins Buch der Geschichte eingehen. Zeit, sie vom Sockel zu holen:

„Wenn die dann aber mit der Moralkeule kommen und versuchen, andere davon zu überzeugen, dann geht das häufig nach hinten los und läuft selber Gefahr, unmoralisch zu werden. Also ich glaube, dass es hauptsächlich vier Arten des Moralismus gibt. Das eine sind pauschale, einseitige Urteile und Übertreibung, wo bestimmte wichtige Faktoren nicht berücksichtigt werden. Das Zweite ist eine Art von Selbstbezogenheit. Das, was man moralisch äußert, das macht man gar nicht, um die Welt besser zu machen, sondern um selber gut dazustehen. Dann gibt es so etwas wie Deplaziertheit und natürlich eine vierte Form des Moralismus, nämlich dass man gar nicht zuständig ist. Das ist glaube ich auch etwas, was man online und auch insgesamt sehr häufig findet. Man mischt sich in Dinge ein, die einen aus verschiedenen Gründen nichts angehen, weil sie zu persönlich, zu privat sind, weil man sich selber nicht genug auskennt.“ (br.de)

Sie ignorierten die Fakten, kamen mit der Moralkeule: übertrieben maßlos. Die Welt wollten sie nicht besser machen, sondern nur selbst am besten dastehen. Vor allem mischten sie sich in Dinge ein, die sie nichts angingen: in Dinge der Obrigkeit, der man als Gläubige bedingungslos zu gehorchen hatte. Vom Sohn der Vorsehung, von einem 1000-jährigen Reich als Krönung der Heilsgeschichte hatten die Aufschneider keine Ahnung.

„Macht man jede Alltagsentscheidung zu einer moralischen Grundfrage, wird man vor lauter Skrupeln schnell handlungsunfähig und beraubt sich aller Lebensfreuden. Wer kennt nicht Menschen, die den Abend im Freundeskreis zielsicher mit der Frage verderben, ob der Genuss des Weines angesichts der weltweiten Armut nicht ein unvertretbarer Luxus sei; die ihre KollegInnen nach Reisen aller Art mit der Frage zu konfrontieren pflegen, wie das denn angesichts des Klimawandels zu rechtfertigen sei. Manchmal scheint Moralismus in einer Art unangemessener Komplexitätsreduktion zu bestehen: Jemand vereinfacht eine komplexe Situation auf grobe Weise mit einem pauschalen Moralurteil oder über starke moralische Kritik, obwohl die zugrunde liegenden deskriptiven oder moralischen Überzeugungen sehr unsicher sind. Dieses Verhalten (das anderen oft zu viel abverlangt) beschreibt man manchmal als Prinzipienreiterei, Rigorismus oder auch als Fetischisierung eines moralischen Grundsatzes.“ (Neuhäuser, Seidel, „Kritik des Moralismus“).

In der Weltpolitik hat moralische Besserwisserei überhaupt nichts zu suchen.

„So wird in der Theorie internationaler Beziehungen zwischen den Staaten seitens des sogenannten Neorealismus gern darauf hingewiesen, dass internationale Politik eine Sache der Staatsraison und nicht der Moral sei. Aus Sicht dieser Position ist Moral in der internationalen Politik immer fehl am Platz und ein Verweis auf moralische Erwägungen entsprechend moralistisch.“ (ebenda)

Das ist deutsche Gelehrtenart: sich auf Theorien ihrer Kollegen zu beziehen, die in der Öffentlichkeit keine Rolle spielen. Unklar bleibt, ob die Autoren diese Theorie selbst vertreten oder sie nur zitieren – damit sie nicht dingfest gemacht werden können.

Neorealismus ist eine Theorie, die geprägt ist von der „Dominanz von Sicherheitsinteressen der Staaten, deren Selbsterhaltungstrieb von der Verweigerung von Kooperation geprägt ist. Da es keine übergeordnete Instanz gibt, wie etwa eine Weltregierung, die für alle Staaten gültige Regeln und Normen setzt, besteht eine ständige Unsicherheit über die Intentionen der Nachbarn, weshalb die Staaten stets auf den schlimmsten Konfliktfall (Krieg) vorbereitet sein müssen.“ (Wiki)

Die UNO wird gar nicht erwähnt. Es muss schon eine Weltregierung sein, deren utopische Nichtexistenz so sicher ist, dass man sie elegant benutzen kann, um den stets drohenden Krieg aller gegen alle als einzige Realität festzuschreiben.

Die Theorie ist so alt wie das Dogma des erbsündigen Menschen. Der Mensch ist schlecht, seine Mitmenschen muss er massakrieren, damit er sich im Lebenskampf behaupten kann.

Die Erwähnung des Begriffes „Staatsraison“ hätte genügen müssen, um den Menschen dem ewigen Krieg auszuliefern. Es sind altgediente Historiker der Gegenwart wie Michael Stürmer, die ununterbrochen querulieren, die Bundeswehr aufzurüsten, damit Deutschland seinem bellizistischen Auftrag gerecht werde. Schließlich habe man sich von dem stets unzuverlässiger werdenden Amerika zu distanzieren. An Trump erkenne man doch, wo Amerikas Auserwähltheitsglaube enden wird: Amerika zuerst – bis zuletzt.

Begriffe zu definieren, ist unter der Würde deutscher Intellektueller. Wie kann man den Begriff Staatsraison so nebenbei erwähnen, ohne auf das verdienstvolle Buch Meineckes über die „Idee der Staatsraison“ hinzuweisen? Meinecke rekonstruiert die Idee von seiner Entstehung bei Machiavelli bis in die Gegenwart der Weimarer Republik. Die beginnende NS-Bewegung hat Meineckes moralische Bedenken gegen Staatsraison zertrümmert.

„Zum Wesen und Geiste der Staatsraison aber gehört es, dass sie sich immer wieder beschmutzen muss durch Verletzungen von Sitte und Recht, ja allein schon durch das ihr unentbehrlich scheinende Mittel des Krieges. Der Staat muss, so scheint es, sündigen. Wohl lehnt sich die sittliche Empfindung gegen diese Anomalie wieder und wieder auf – aber ohne geschichtlichen Erfolg. Das ist die furchtbarste und erschütterndste Tatsache der Weltgeschichte, dass es nicht gelingen will, gerade diejenige menschliche Gemeinschaft radikal zu versittlichen, die alle übrigen Gemeinschaften schützend und fördernd umschließt.“  (Meinecke)

Dennoch kann sich Meinecke nicht zur Eindeutigkeit entschließen:

„Die Historie kann der Kultur nicht dienen, dass sie selber positive Normen und Ideale des Handelns aufstellt. Sie folgt nur dem Ideal der reinen Kontemplation, dem Wert der Wahrheit. Sie würde ihn gefährden, wenn sie sich zum Diener des Guten und Schönen machen wollte.“

Diener des Guten und Schönen: wie schrecklich, schrecklicher als Diener des Bösen und Hässlichen.

Bei Friedrich dem Großen, der als junger Mann einen Antimachiavell schrieb, wurde Machiavelli zum Leitstern deutscher Realpolitik. Nach dem kleinen Intermezzo der Aufklärung wurde er bei Hegel endgültig zum Patron deutscher Realpolitik. Bei eben jenem Hegel, der heute zum Friedensideologen verfälscht wird.

„Was in der Welt seit Adam geschehen ist, ist durch gute Gründe gerechtfertigt.“

Die retrospektive Säuberung der deutschen Geschichte zur Kammerdiener-Geschichte (obgleich sie Moral hassen wie die Pest) gehört heute zur vaterländischen Pflicht aller Historiker. Kants anstößiger Rigorismus wird entschärft, Nietzsches faschistischer Willen zur Macht zum Grummeln des grimmigen Onkels, der es im Grunde nur gut meint. Deutschlands Biografie muss sauber bleiben – das nennt sich Bewältigung der Vergangenheit.

„Kant hat schon eine sehr strenge Moral. Interessanterweise ist das bei Kant so, dass er in Bezug auf die Vorwürfe, die man anderen machen sollte, sehr zurückhaltend war. Bei ihm ist es ganz wichtig, dass Menschen aus Freiheit handeln und aus Freiheit, aus ihrer eigenen Einsicht moralisch handeln – und nicht, weil ihnen andere Vorwürfe machen. Das war kein Grund zu sagen, lieber Vorsicht mit Vorwürfen. Auch bei Nietzsche ist das so. Naja, er hat sehr gerne provoziert. Aber der ist nicht der Brummbär, der Elefant im Porzellanladen, der alles gerne zerschlägt. Er wollte darauf hinweisen, dass Moraltheorien, Moralsysteme als solche, zu moralistisch werden können, wenn sie keinen Platz mehr für andere Belange des guten Lebens lassen.“

Kant werden die rigiden Moralkrallen beschnitten, Nietzsches Willen zur Macht wird zur paradoxen Intervention eines Wohlfühl-Therapeuten. Im Garten des Herrn wohnen keine Extremisten, weder der guten noch bösen Art.

Bei Max Weber, dem einzigen Vorzeigedeutschen, auf den Nachkriegsdeutschland sich permanent berief, klingt die Weise: Spiel mir das Lied vom Tod, keinen Deut anders:

„… Ethik ist nicht das Einzige, was auf der Welt gilt, neben ihr gibt es andere Wertsphären, deren Werte unter Umständen nur der realisieren kann, welcher „ethische“ Schuld auf sich nimmt. Dahin gehört speziell die Sphäre politischen Handelns. Es wäre m.E. schwächlich, die Spannungen gegen das Ethische, welche gerade sie enthält, leugnen zu wollen.“ (Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften)

Das ließen sich die Deutschen nicht zweimal sagen und nahmen sich die Freiheit, ethische Schuld auf sich zu laden. Heißa, welche Freiheitsgefühle sich einstellten, als sie nicht mehr am Gängelband der Moral laufen mussten. Die Lizenz zum Verwerflichen, solange es nur Profit bringt, ist Zentrum des Neoliberalismus. Das Gute ist endloses Erzeugen von Reichtum, danach kommt Moral als Almosengeben für zufällige Opfer im Straßengraben.

Im berühmten Werturteilsstreit geht es um die Kompetenz von Wissenschaftlern, Moralurteile im Namen objektiver Kompetenz zu äußern. Nein, diese Kompetenz haben sie nicht. Denn es gibt keine Objektivität in moralibus.

„Die ethischen Maximen liegen untereinander in ewigem Zwist, der mit den Mitteln einer rein in sich selbst beruhenden Ethik schlechthin unaustragbar sind. Es handelt sich zwischen den Werten nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen „Gott und Teufel“. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Das Verflachende des Alltags besteht ja gerade darin, dass der Mensch sich dieser Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewusst wird; dass er sich der Wahl zwischen Gott und Teufel entzieht.“

Weber wusste noch von der Gott-Teufel-Polarität des christlichen Abendlandes. Wer heute an den Teufel erinnert, wird in die erste Garnitur der Demokratiefeinde eingereiht.

„Beim Sturm auf das Kapitol spielten QAnon-Anhänger eine zentrale Rolle. Ihre Weltsicht beruht auf dem Glauben, dass eine Gruppe von Pädophilen und Teufelsanbetern das Land heimlich kontrolliert.“ (SPIEGEL.de)

Seit Augustin wird der weltliche Staat vom Teufel kontrolliert, die Christen müssen ihn walten lassen – bis der Herr wiederkommen und ihn ersetzen wird (die Zentralbotschaft der Merkel‘schen Politik) . Wenn Dummköpfe auf den Teufel verweisen, werden sie zu Demokratiefeinden erklärt.

Laut Weber gibt es in moralischen Zentralfragen keine Verständigungsmöglichkeit, Kompromisse schon gar nicht. Der ethische Zwist ist „schlechthin unaustragbar“.

Weber war kein Anhänger der universellen Vernunft, er war christlicher Dualist in säkularer Ausführung. Die christliche Gesinnungsethik wollte er überwinden, da er sie für verantwortungslos hielt: „Der Christ handelt recht und stellt den Erfolg Gott anheim?“ Auf keinen Fall. Der Mensch sollte die Verantwortung übernehmen. Das war nur möglich, wenn er bereit war, auch „böse“ Konsequenzen zu riskieren.

Christliche Gesinnungsethik fühlt sich von Gott durchschaut: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott sieht das Herz an.“
Denn jede Gesinnung, und mag sie noch so friedensstiftend sein, wird von Gott verdammt, wenn sie sich einbildet, Gottes Gnade verdient zu haben. Gnade kann nie verdient werden. Sie entspringt dem unberechenbaren und unergründlichen Willen eines launenhaften Gottes.

Webers ethische Überlegungen sind irrational. Sie können nicht begründet werden. Zudem spricht er nur für „objektive“ Wissenschaftler. Demokraten kennt er keine, der Pöbel ist uninteressant. Dass Wissenschaftler in Demokratien nicht nur Wissenschaftler, sondern auch demokratische Bürger sind: das war eine für ihn unzugängliche Welt.

Weber sprach für eine Elite, die sich im Namen der Wissenschaft der Pflicht entzog, rationale Werturteile zu fällen. Seine Verantwortungsethik war verantwortungslos, denn wie hätte er Verantwortung übernehmen können in einer Welt, in der die Grundwerte im ewigen Clinch lagen – wie Gott und der Teufel?

„Der Professor sollte nicht den Anspruch erheben, als Professor den Marschallstab des Staatsmanns im Tornister zu tragen, wie er tut, wenn er die Sturmfreiheit des Katheders für staatsmännische Sentiments benutzt.“

Das klingt schon nach Verurteilung moralischer Besserwisserei. Wer moralisch urteilt, ist überheblich und demütigt die anderen, die nicht wissen, was das Richtige in der jeweiligen Situation sein mag. Oder Moralisierung der Politik ohnehin für unsachlich halten, denn Politik sei ein Wettbewerb der Interessen, keine eitle Konkurrenz moralischer Wichtigtuer. Machtkämpfe finden außerhalb moralischer Besserwisserei statt.

Machiavelli bezieht sich auf den griechischen Historiker Thukydides, der kein Freund der Demokratie, geschweige der philosophischen Aufklärung war. Seine Antimoral war das Naturrecht der Starken: Recht hat, wer die Macht hat.

Fälschlicherweise wird Machiavellis Bezug auf Thukydides als Bruch mit der christlichen Tradition gewertet. Das Christentum enthält zwei Botschaften, die unverträglich sind. Christen sollen ihre Mitmenschen lieben. Doch zu dieser Liebe gehört auch, dass man Ungläubige und Frevler foltern und töten darf. Das ist die antinomische Ambivalenz des Erlösers, der nur seine eigenen Schafe rettet und den Rest in die Hölle verflucht.

An diese Bigotterie konnte Machiavelli anknüpfen. Sein Buch wirkte befreiend, weil er das Gespinst der Nächstenliebe zerriss und die Doppelmoral des abendländischen Ethos schonungslos offenlegte.

Besonders die Deutschen waren empfänglich für die List und Brutalität des Italieners, ihre politische Zurückgebliebenheit glaubten sie nicht anders überwinden zu können, als mit unverfrorener Gewalt.

Seit Jahrhunderten waren sie keine Nation mit moralischer Selbstbestimmung. Entweder waren sie dem Kaiser oder dem Papst – oder beiden – untertan. Moralisch autonom hätten sie nur werden können, wenn sie ihre Aufklärungszeit verinnerlicht hätten. Davon kann keine Rede sein. Die Zeit der Aufklärung war zu kurz, die Schriften der Denker zu schwierig und unverständlich. Und schon rüsteten sich die Talarträger, das verlorene Terrain zurückzuerobern. Die demokratische Vernunft konnte nicht ausreifen: die Romantik mit sentimentaler Sehnsucht nach der blauen Blume – einer Metapher für das Vollkommene – stand vor der Tür. Innerhalb kürzester Zeit waren Kant und Lessing Schnee von gestern.

Danach der Wettlauf um die führende Macht in Europa unter dem Motto der wahren auserwählten Nation Gottes. Die Juden als erstes Volk Gottes konnten bei dieser hektischen Aufholjagd nur stören. Je stärker und herrischer die Deutschen wurden, je weniger waren sie auf die „deutsch-jüdische Symbiose“ angewiesen.

Zum Kampf gegen den Moralismus gehört die zunehmende Allergie führender Kreise gegen die „Nazi-Analogie“.

„Man kann sich aber auch fragen, woher dieser Zwang zur Nazi-Analogie kommt, schließlich kann man in Corona-Zeiten den Eindruck von kollektiver nationalsozialistischer Koprolalie gewinnen. Da wird auf „Querdenker“-Demos behauptet, im Dritten Reich seien „die Bürgerrechte nicht so stark eingeschränkt gewesen wie in der Merkel-Diktatur“. Medien werden eh regelmäßig mit dem Stürmer verglichen, Impfmaßnahmen entweder, siehe Streeruwitz, mit den Rassengesetzen gleichgesetzt – sonstige Corona-Maßnahmen auch mit dem Ermächtigungsgesetz – oder aber gleich mit dem Holocaust („Impfen macht frei“ in Anlehnung an „Arbeit macht frei“). Im Umkehrschluss sehen sich viele Corona-Kritiker als verfolgte Opfer im Widerstand gegen das von ihnen heraufbeschworene totalitäre Regime, etwa die junge Frau, die auf einer „Querdenker“-Demo in Hannover sagte: „Ich fühle mich wie Sophie Scholl.““ (Sueddeutsche.de)

Sich mit moralischen Heroen des Widerstands zu vergleichen, die Degeneration der Gegenwart mit Entwicklungen im Dritten Reich zu parallelisieren: das erscheint wie hybride Versündigung. Schon der Vergleich soll eine Entheiligung oder ein über-alarmistisches Ineinssetzen unserer Gegenwart mit der bösen Vergangenheit sein.

Doch wie kann man rituell an die Vorbildlichkeit der Hitlergegner erinnern – und gleichzeitig den Versuch des Nachahmens jener Vorbilder zynisch verurteilen? Doppelmoral wird immer mehr zur offiziellen Staatsbigotterie. Die Erinnerung an die Vergangenheit wird zur esoterischen Anbetung einer weltlichen Religion.

Ja, es kann zu Übertreibungen und Überidentifikationen kommen. Doch das können keine Gründe sein, die Widerstands-Nachahmungen zu unterlassen. In welchem Maß ist unsere Gesellschaft bereits auf dem Weg der Weimarer Republik ins Verderben? Das Verderben muss keine kompakte Wiederholung der damaligen Katastrophe sein. Und dennoch ist jede Beschädigung unserer Demokratie mit jedweder Beschädigung einer anderen Demokratie vergleichbar. Vergleichen heißt nicht, Identitäten zu unterstellen.

Wie steht es mit den Slogans, die im Kontext der Vergangenheitsaufarbeitung fast offiziell benutzt werden: Wehret den Anfängen? Nie wieder Ausschwitz? Wie soll man Anfängen wehren, wenn man sie nicht definieren kann? Wie soll man Ausschwitz verhindern, wenn man keine Vergleiche anstellen darf? Joschka Fischer muss ein maßloser Moralist gewesen sein, als er für den Einsatz der Bundeswehr im Kampf gegen Milosevic plädierte – unter dem Slogan: Nie wieder Auschwitz.

Vergleiche können oberflächlich, ignorant oder überidentisch sein. Darüber müsste gestritten werden. Ohne Vergleiche aber geht es nicht. Freud sprach vom Wiederholungszwang des Unbewältigten. Also müssen wir uns erinnern. Erinnern heißt Vergleichen, um selbstkritisch wahrzunehmen, in welchem Maße wir der Wiederholungsgefahr bereits erlegen sind. Ohne Vergleiche wissen wir nicht, wo wir stehen.

Aus Angst vor Übertreibungen übersehen die Vergleichsgegner, dass die entgegengesetzten Gefahren des Untertreibens, Durchwurstelns und mangelnden Engagements beim Lösen unserer Probleme viel gefährlicher sind. Ist Gefahr in Verzug, kann der Schrei nach Hilfe und Veränderung gar nicht durchdringend genug sein. Dass man niemanden aus seiner Dumpfheit aufrütteln dürfe (wie die amoralischen Philosophen meinen), weil er seine gute Laune verlieren könnte: das ist Wahnsinn. Besser die Laune verlieren als das Leben. Ein gelähmtes Fortsetzen des Verhängnisses wäre Suizid in opiater Selbstbetäubung.

Der Versuch der Politiker und Medien, das Volk in allen Dingen zu entmündigen, zeigt die Feindschaft der Eliten gegen die unteren Stände. Das Volk ist weder unterkomplex noch von angeborener Dummheit. Ohne Versuch und Irrtum geht es nicht. Um darüber zu streiten, hat die Polis den öffentlichen Disput erfunden.

Täglich werden die Listen der Sündenböcke veröffentlicht, die das ganze Elend verursacht haben sollen. Merkwürdig, dass die wirklich Verantwortlichen aus der Mitte der Gesellschaft selten, die machtlosen Randläufer hingegen ständig genannt werden.

„Der Hass wird auch hier gesät, jeden Tag im Bundestag, von der größten Oppositionspartei. Jeden Tag in den Landtagen, in denen die AfD zum Teil mehr als ein Fünftel der Sitze hat. Hass und Hetze stoßen auf fruchtbaren Boden bei selbst ernannten Querdenkern, bei Verschwörungsideologen und Merkel-Hassern.“

Muss Merkel geliebt werden, damit man nicht zu den Bösen der Gesellschaft gehört? Der Begriff Querdenker, einst eine Auszeichnung, wird hemmungslos zertrümmert.

Deutschland ist dabei, seine letzte moralische Substanz unter dem Verdammungsurteil der Eliten zu deformieren. Dabei gibt es keine andere Chance, zu überleben als mit der Anstrengung aller, sich wie Münchhausen am eigenen moralischen Schopf aus dem Schlamassel zu ziehen.

Die Moralhasser scheinen nicht zu wissen, welch mächtigen Verbündeten sie an ihrer Seite haben: Donald Trump. Seine Anhänger gewann er mit unermüdlichen, an Frechheit und Dreistigkeit nicht mehr zu überbietenden Attacken gegen „politische Korrektheit“ – ein polemischer Begriff für moralische Integrität und wehrhafte Humanität.

„Trumps Auftritt hat viele Politiker auf der ganzen Welt zwar schockiert. Wirklich überraschend war er nicht: Trump hat es bei vielen Gewaltaktionen wie bei den rassistischen Gewalttaten von Charlottesville stets vermieden, sich gegen die Rechtsextremen zu positionieren. Seine ständigen Angriffe gegen die vermeintliche „politische Korrektheit“ sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Das zeigte sich auch beim Sturm auf das Kapitol.“ (Berliner-Zeitung.de)

Fortsetzung folgt.