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Alles hat keine Zeit LV

Tagesmail vom 16.12.2020

Alles hat keine Zeit LV,

„Es waren schöne glänzende Zeiten, als Deutschland ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reiches. Die anderen Welttheile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden. Die Christenheit muss lebendig und wirksam werden, sie muss das alte Füllhorn des Segens wieder über die Völker ausgießen. Nur Geduld, sie muss kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird.“ (Novalis, zeitgemäß interpretiert)

In der vor uns liegenden Gefängniszeit – mit streng geregelten Freigängerexkursionen – ist es tröstlich, die Nation als einheitliches Volk von Geschwistern zu erleben. Gläubige Abgeordnete von links bis rechts stehen unter dem Segen des gemeinsamen Vaters.

Corona ist ein Gottesgeschenk. In Zeiten des Kontrollverlusts wächst das Bedürfnis nach einer Sichtbaren Hand, die die Heimgesuchten von ihren Leiden erlösen wird. An diesem Punkt erliegt Novalis einer heilsgeschichtlichen Verschwörungstheorie. Jerusalem soll Mittelpunkt der letzten Neuen Epoche werden, die den Auserwählten die Weltherrschaft bringen wird.

Doch was denkt die Jugend, deren Zukunft zertrümmert wird – während die ganze Republik der Regentin Beifall klatscht, weil sie kleines Leid kuriert, um das Große Verderben in Kauf zu nehmen? Volk und Regierung schützen sich vor dem Kleinen, um der Vernichtung des Großen den roten Teppich zu bereiten.

Die Frage nach der Jugend wird nirgendwo gestellt, so wichtig ist der Nachwuchs nun auch wieder nicht. Wichtiger ist es, die Kleinen dem Glauben zuzuführen, damit sie der Gnadengabe der Resilienz teilhaftig werden. Resilienz? Überflüssiges Fremdwort aus der Reihe vieler neuer Begriffe, die eingeführt werden, um neue Erkenntnisse vorzutäuschen. Neuer Begriff, neue Einsicht. Die alten Begriffe wandern auf die Müllberge der Vergangenheit – die den Himalaya schon um ein Vielfaches überragen.

„Für den gläubigen Menschen ist Religion in der Tat ein Resilienzfaktor. Natürlich gibt es auch krank machende Religion, doch ein gesundes Gottvertrauen kann Kinder im Leben stärken. Auch überlieferte Rituale der Religionen oder Gebete können Heranwachsende in unserer extrem komplexen Welt entlasten. Sie sollten auf jeden Fall ehrlich sein und sagen: Ich wünsche mir für dich, dass du glauben kannst, auch wenn ich selbst dir das nicht vorleben kann. Wenn sie merken, dass ihr Kind auf der Suche nach religiösen Antworten ist, die sie ihm nicht geben können, ist es ein Akt elterlicher Fürsorge, es auf seinem Weg zu begleiten. Eltern könnten dabei andere Bezugspersonen einbinden, beispielsweise die Großeltern. Oder sie könnten dem Kind helfen, eine Jugendgruppe oder eine Religionsgemeinschaft zu finden, in der es gut aufgehoben ist.“ (SPIEGEL.de)

Es gibt nicht nur negative Verschwörungstheorien, es gibt auch positive. Negative bemühen verruchte und geheime Kräfte, positive glauben an Götter und Erlöser, die den Menschen zu Hilfe eilen – wenn sie sich vor ihnen niederwerfen. Wenn Menschen in Bedrängnis geraten und sich nach Hilfe umsehen, weil sie sich ohnmächtig fühlen – schauen sie nach Oben, woher ihnen Hilfe kommen soll – wie ihre Priester schon im Kindergottesdienst die ersten Verschwörungstheorien predigen. Ihr mangelhaftes Wissen über die Ursachen ihres Elends ersetzen sie durch Glauben. Glauben ist ein wütender und verzweifelter Ersatz über die irreparable Ignoranz des Menschen. Die kognitive Dissonanz des Menschen verführt ihn zur Scheingewissheit über Dinge, die wir nun mal nicht wissen können.

Ein Religionspädagoge ist, das versteht sich von selbst, der richtige Fachmann, um Kinder auf den rechten Weg zum Glauben zu bringen. Er setzt ein bei den Urfragen der Kinder:

„Woher kommt das alles? Wer hat es gemacht? Wohin geht jemand, wenn er gestorben ist? Das sind existenzielle Grundfragen, die auch in Religionen verhandelt werden – und Kinder brauchen Erwachsene, die sie mit ihnen erörtern, um einen Standpunkt zu entwickeln und menschlich reifen zu können.“

Sind diese Fragen zu beantworten? Ist der Mensch fähig, alles zu wissen und in Erfahrung zu bringen, was er wissen will – um „reifen zu können“?

Ist Reifen nicht die Fähigkeit, das Mögliche vom Unmöglichen zu scheiden? Was, wenn die Urfragen des Menschen nicht zu beantworten wären? Jedenfalls nicht so, dass alle Menschen den Antworten zustimmen könnten? Wann aber könnten – und sollten – alle Menschen zustimmen, wann nicht?

Da gab es eine große Wegscheide in der Entwicklung des Menschen, als er die Rätsel des Daseins in der Natur so scharf fassen konnte, dass der Drang, sie zu beantworten, immer dringlicher wurde. An der Wegscheide trennten sich die Geister. Auf der einen Seite standen die Weisen, die auf theoretische Allwissenheit verzichteten und alles Problemlösen von sich selbst verlangten; auf der anderen standen die Unmündigen, die ihre Autonomie an fabelhafte Götter delegierten.  Es traten Weise auf, deren Weisheit darin bestand, das Nichtwissen zu akzeptieren, um sich auf die wesentliche Frage zu konzentrieren: Wie muss der Mensch leben, damit er ein erfülltes Leben führen kann?

Nehmen wir Buddha. Er entfloh seinem luxuriösen Leben, um in Einsamkeit die aufbrechenden Fragen nach dem Sinn des Lebens zu beantworten.

Die erste Wahrheit betraf das Leiden oder den Schmerz.

Die zweite Wahrheit erkannte den Ursprung des Leidens in der Begierde, dem Verlangen oder dem Durst, der ständig nach neuen Wonnen giert.

Die dritte Wahrheit verkündete, die Erlösung vom Schmerz bestehe in der Zerstörung des Verlangens, sie entsprach dem Nirvana.

Die vierte Wahrheit schließlich offenbarte die Wege, die zum Aufhören des Leidens führen.

Verführten diese Fragen den suchenden Buddha zu Göttern und überirdischen Wesen?

„Es ist offensichtlich, dass für den Buddha die Welt weder von einem Gott noch von einem Demiurgen geschaffen, dass sie hingegen durch die guten oder schlechten Taten der Menschen weiterexistiert, das heißt, fortlaufend geschaffen wird. Tatsächlich verkürzt sich, wenn Unwissenheit und Sünden zunehmen, nicht nur das menschliche Leben, sondern das Universum selbst geht unter.“ (Eliade, Geschichte der religiösen Ideen)

Der Mensch ist selbst verantwortlich für sein Leben und die Erhaltung der Natur. Gewaltige Worte zur Lösung der ersten Menschheits- und Naturkrise.

In der Achsenzeit der Menschheit, etwa 600 vdZ, muss die Verwüstung der Welt ein derartiges Maß angenommen haben, dass überall die ersten universalen Sinndeuter auftraten, um Antworten zur Rettung von Mensch und Natur zu geben.

Die heutige Klimakatastrophe ist nicht die erste existentielle Krise der Menschheit. Weshalb hätten fast gleichzeitig auf der damals bekannten Welt so viele Philosophen und Religionsgründer auftreten können, wenn nicht ein globales Erwachen, Fragen, Entsetzen und Suchen nach Antworten stattgefunden hätte?

Buddha gehörte zu den Philosophen, nicht zu den Religionsgründern. Zu einem Gott und Erlöser wurde er erst in späteren Jahrhunderten gemacht, also verfälscht. Buddhas Antworten bestanden aus acht Regeln des „Wegs“ zur Selbstbesinnung. Seine Lehre ist „1. Ethisches Verhalten, 2. Mentale Disziplin und 3. Weisheit. Das ethische Verhalten, das sich auf allgemeine Liebe und Mitleid gegenüber allen Lebewesen gründet, besteht in der Beachtung der drei Regeln des achtgliedrigen Wegs.“ (ebenda)

Nehmen wir Konfuzius. Über das allgemeine Elend und Leiden war er so betroffen, dass er sein ganzes Leben der Frage widmete, was der Mensch tun könne, um der Misere zu wehren.

Die einzige Lösung sah er in einer radikalen Reform der Regierung des Landes, die von aufgeklärten Führern vollzogen und von verantwortlichen Beamten praktiziert werden müsste. Sein eigenes Leben widmete er der Erziehung. „Konfuzius war kein Religionsgründer. Seine Ideen sind philosophische Antworten.“ Zwar wollte er in Einklang kommen mit dem „Himmel“. Doch der war – nicht anders als in der Stoa – nichts als der Inbegriff der Natur.

„Der „höhere Mensch“ muss sich zunächst um die konkrete menschliche Existenz kümmern, wie sie hier und jetzt gelebt wird. Die von Konfuzius erarbeitete moralische und politische Reform stellt eine „vollkommene Erziehung“ dar, eine Methode, die fähig sein soll, ein gewöhnliches Individuum in einen „höheren Menschen“ umzuformen. Jeder kann ein „wirklicher Mensch“ werden. Dabei ist es nicht nötig, Befehle zu erteilen. Ein „Edler“ wird man durch Selbstbeherrschung, die sich als Güte, Weisheit und Mut darstellt. Es kommt nicht auf die Fähigkeit an, ständig Neues zu erfinden. „Ich habe das weitergegeben, was man mir beigebracht hat, ohne Eigenes hinzuzufügen. Ich war den Alten treu und habe sie geliebt.““ (ebenda)

Nehmen wir Lao tse. Er ist so radikal, dass er selbst auf Wohltätigkeit und Gerechtigkeit verzichtete. Denn diese moralischen Regeln müssten nachträglich reparieren, was erst gar nicht hätte beschädigt werden dürfen. Lao tse denkt prophylaktisch: nichts unternehmen, was die Welt erst beschädigen kann. Deshalb lehrt er Wu-wei, das „Nichtstun“ und „Nichtswirken“. „Aus diesem Grund greift der Taoist niemals in den Lauf der Dinge ein. Wären die Herren und Könige in der Lage, sich mit Nachahmung des Tao zu bescheiden, so würden die zahllosen Menschen nicht zögern, von selbst ihrem Beispiel zu folgen. Das himmlische Tao siegt ohne Kampf.“ „Das Biegsame und Schwache siegen über das Harte und Starke.“

„Schwäche ist die Funktion des Tao. Der gute Kriegsführer ist nicht kriegerisch, der gute Kämpfer nicht stürmisch. Am besten wird derjenige Herr seiner Feinde, der niemals die Offensive ergreift. Das nenne ich die Tugend der Gewaltlosigkeit. Das nenne ich dem Himmel gleich werden.“ ( ebenda)

Gibt es da keine Ähnlichkeiten mit Sätzen der christlichen Bergpredigt – die möglicherweise von den Weisheiten Asiens beeinflusst wurden?

„Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen. Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.“

Die Vordersätze klingen asiatisch, aber die Denn-Sätze zerstören alles! Sie sind das pure Gegenteil zu Buddha, Konfuzius und Lao tse. Sie erkühnen sich, das rechte Verhalten – mit Lohn und Strafe – völlig zu entwerten: mit dem Besitz des Erdreichs, mit der Schau eines jenseitigen Gottes, mit dem Prädikat, die auserwählten Kinder Gottes zu heißen. Himmlischer Lohn und höllische Strafe erniedrigen die Frommen zu außengeleiteten Objekten.

Das ist keine Ethik der Selbstbestimmung, sondern eine Degradierung der Ethik zu einem Instrument der Strafvermeidung und Lohnergatterung. Damit ging der kühne Schritt der Menschheit der Achsenzeit zur autonomen Moral verloren. Der Mensch wurde zur Wachsfigur des Jenseits und verschacherte seine Mündigkeit um überirdischer Verlockungen willen.

Welches Urvertrauen des Lao tse in die vollkommene Mutter Natur, sie selbst walten zu lassen und ihre Kreise durch menschliche Eingriffe nicht zu stören.

Lao tse war einer der Ersten, der die „toxische“ Männlichkeit durchschaute und dem Weiblichen den Vorzug gab. Das „zweite Tao“ nennt er „Mutter der Welt“. „Kenne deine Männlichkeit, gib aber der Weiblichkeit den Vorzug: du wirst die Talschlucht der Welt sein. Sei die Talschlucht der Welt und du kannst in den Kindheitszustand zurückkehren.“

Auch hier sehen wir Parallelen zum Heiland der Christen: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“. Wozu? „Denn ihrer ist das Himmelreich.“ Kind sein, vorbildlich sein, tugendhaft sein sind nur Mittel zum Zweck, jenseitige Sphären zu erobern, die eines Tages Schluss mit der sündigen Welt machen werden.

Nicht zu vergessen Sokrates und die griechische Philosophie. Die Griechen begannen mit Erstaunen über die äußere Natur, um sodann die menschliche Natur zu entdecken, die nur erhalten werden konnte durch eine Moral des Friedens mit dem gesamten Kosmos.

Auch Sokrates begann mit „kindlichen“ Urfragen, landete aber nicht bei Göttern, deren Hilfe er anflehen musste, sondern beim Menschen, der allein aus den Kalamitäten der Menschheit herausführen könne. Fragen stellen ist notwendig, nicht aber können alle Fragen beantwortet werden. Hier besteht der Reifungsprozess zu einer „Resignation“, die keine ist: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Das bezieht sich auf Erkenntnisse der Theorie, nicht der Praxis. Die sokratische Weisheit ähnelt den Weisheiten Asiens: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun.

Die Achsenzeit war der primäre Aufstand der globalen Menschheit gegen die Verwüstungen der ersten Hochkulturen, durchweg Creationen männlicher Herrschaftswut.

Wunderbare Einsichten standen neben ersten verhängnisvollen Verschwörungstheorien, der Erfindung jenseitiger Götter und Schöpfer der Welt. Ein Großteil der Menschheit ertrug die unbeantwortbaren Fragen nicht und floh in Phantasmagorien.

Eine Verschwörungstheorie ist, was Leon Festinger die „Reduktion kognitiver Dissonanz“ nennt. Wer Fragen hat und deren Unbeantwortbarkeit nicht erträgt, flüchtet in gute und böse Verschwörungstheorien. Erlöserreligionen sind Mixturen aus beidem: ein guter Gott und ein satanischer Widersacher kämpfen um die Oberhoheit der Welt. Sind beide Prinzipien gleich stark, ist das Ende des Kampfes ungewiss, auch wenn die Menschen sich auf die Seite des Guten gesellen. Ist Satan nur ein Werkzeug Gottes, ist dessen Sieg ungefährdet – dennoch verbleibt das böse Element als ewige Hölle für immer bestehen.

Es ist ein riesiger Selbstbetrug der Menschheit, dass heute erst die Menschenwelt in Gefahr sei, sich auszulöschen. Das erste schreckhafte Erwachen war die Achsenzeit. Würden moderne Zeitgenossen per Zeitreise in jene Epoche zurückreisen, wären sie erstaunt über die völlig intakt scheinende Natur. So haben wir unsere Wahrnehmungs-Kompetenz verludern lassen, dass wir nicht sehen, was sich direkt vor unseren Augen abspielt.

Die ersten Wahrnehmungen heutiger Kinder, die laufen lernen, ist Müll, Müll, Hässlichkeit, Gestank der Autos und Gullys – und Hundekacke. Doch die Erwachsenen ignorieren diese kindischen Empfindlichkeiten. Das Nächstliegende dürfen wir nicht sehen. Erst wenn die Krume verdorrt, die Gewässer versiegen, die Wälder brennen, die Pole schmelzen …müssen wir uns gewaltsam am Riemen reißen, unsere Sinnesorgane entdecken, um das Ausmaß unserer Zerstörungskräfte zu erkennen, bis wir sehen: das ist unsere Welt, die wir zerlegen.

Die Antworten, die die Weisen der Achsenzeit gaben, gelten unverbrüchlich bis heute. Doch die Moderne tritt sie mit Füßen. Sie will nichts lassen, wie es ist, sondern alles gigantisch neu erschaffen. Und für diese Veränderung müsse der Mensch des Fortschritts einen Preis bezahlen – mit Schäden, die uns heute den Boden unter den Füßen wegreißen. Die Last der Zivilisation müssten wir auf unsere Schultern nehmen. Wer gottähnlich in den Himmel will, der müsse dem Bösen seinen Tribut bezahlen. Das ist das Motto des Abendlandes von der Bergpredigt, über Scholastik, Machiavelli, Mandeville, Goethe, Kant, Hegel, Nietzsche bis zu den Genies in Silicon Valley.

In Deutschland ist das Geplärr gegen die moralische Autonomie am ordinärsten. Politik darf nicht moralisch sein, obgleich die Coronakrise das Gegenteil beweist. Die Krise wird nicht lösbar sein, wenn nicht jeder sein Scherflein dazu beiträgt.

Fast alle Politiker verachten die Moral. Politik ist für sie das Handhaben mechanischer Machtgesetze:

„Dabei ist es das Dilemma des Franz Untersteller, dass er selbst gerade nicht zu den Grünenpolitikerinnen und -politikern zählt, die moralinsauer daherkommen. Ihm gelang es bislang vielmehr, seine Vorhaben, etwa die diesjährige Novelle des baden-württembergischen Klimaschutzgesetzes, mit Konsens- und Machtpolitik durchzusetzen, ganz klassisch.“ (SPIEGEL.de)

Ein journalistischer Sympathisant der Kanzlerin glaubt, ihr ein Kompliment zu machen, wenn er ihr bescheinigt, zum ersten Mal habe sie als Mensch gesprochen. Machtpolitik ist Maschinenpolitik, in der „Stellschrauben“ bedient werden. Ethische Überlegungen – streng verboten.

Aus der Geschichte haben die Deutschen nichts gelernt. Warum? Weil aus der Geschichte nichts zu lernen sei. Wer die Erkenntnisse der Besten der Vergangenheit nicht zur Kenntnis nehmen darf, weil dadurch die eigene Genialität gefährdet sei, der bleibt ein hirnloses Produkt des Augenblicks.

Besonders ordinär das selbstmörderische Gebrüll einiger Gazetten:

„Moral ist auch eine Ablenkung vom Nichtstun. Innovation geschieht in radikaler Freiheit, während Deutschland viele Felder von Innovation durch Regulierung und auch „moralische“ Vorbehalte ausgegrenzt hat. Auch der Moral-Trumpismus, der ein „Chlorhühnchen“ dämonisiert, anstatt im freien Handel mit Demokratien eine Investition in die Freiheit zu sehen, ist gefährlich. Moral spaltet die Gesellschaft in Gut und Böse, und deswegen ist sie in einem Zeitalter großer Verschiebungen und Disruption so ein populärer Anker für diejenigen, denen der klassische Populismus zu unfein, aber die Realität zu unsauber ist. „Wer moralisiert“, erklärte Bernhard Schlink, „will radikal sein und es zugleich gemütlich haben.“ (WELT.de)

Abwegiger und desaströser geht’s nicht. Das einzige Mittel, das uns zur Verfügung steht, um das Überleben der Menschheit zu retten, wird geschleift und geschändet: die Moral der autonomen Vernunft. Buddha und Konfuzius wollten es gemütlich haben? Sokrates wollte ein Hallodrileben führen? Das Niveau deutscher „Intellektueller“ ist von allen guten Geistern verlassen.

Eine Verschwörungstheorie entsteht, wenn theoretisch unbeantwortbare Fragen mit illusionären Palliativen beantwortet werden. Die Spaltung in ein phantastisches Gutes und Böses soll den Sieg der Guten und die Niederlage der Bösen in höllischen Qualen sein.

Der Religionspädagoge behauptet ernsthaft, seine christliche Religion kenne keine Kluft zwischen Gut und Böse – im Gegensatz zu fundamentalistischen Sekten, die die Welt grundsätzlich spalten würden:

„Zu den Kennzeichen von Fundamentalismus gehört etwa ein dualistisches Weltbild: Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt – entweder du gehörst zu uns oder zu den anderen.“

Das ist die Verkommenheit der gegenwärtigen Religion, die nach Belieben das universelle Gedankengut der Hellenen plündert – und ihre Beute aus dem Revier der Vernunft dreist Religion nennt.

Die Krönung der deutschen Illusionsspiele ist die Attacke der Kanzlerin gegen Verschwörungstheoretiker:

„“Seit der Aufklärung ist Europa den Weg gegangen, sich auf der Basis von Fakten sozusagen ein Weltbild zu verschaffen. Und wenn ein Weltbild plötzlich losgelöst oder antifaktisch ist, dann ist das natürlich mit unserer ganzen Art zu leben sehr schwer vereinbar“, sagte die Kanzlerin. „Das übliche Argumentieren, das hilft da nicht, deshalb ist das für uns schon eine besondere Herausforderung. Das wird vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein“, fügte sie hinzu. Forschung zur Frage sei nötig: „Wie verabschiedet man sich eigentlich aus der Welt der Fakten und gerät in eine Welt, die sozusagen eine andere Sprache spricht und die wir mit unserer faktenbasierten Sprache gar nicht erreichen können?“ Es gebe bei Anhängern solcher Denkmuster „eine richtige Diskussionsverweigerung“.“  (Extremnews.com)

Die mächtigste Frau der Welt, von einer Woge der Zustimmung getragen, Anhängerin einer christlichen Verschwörungstheorie, Verweigerin aller strengen Debatten, eine Physikerin, die Gesetze und Fakten der Natur nicht unterscheiden kann von Imperativen menschlicher Vernunft, welche erst realisiert werden müssen, um inhumane Fakten der Menschenwelt ins Humane zu verändern: diese Frau wirft anderen in pharisäischer Weise vor, Verschwörungstheoretiker zu sein und naturwissenschaftliche Fakten zu verleugnen.

Nebenbei verrät sie die gestaltungs- und moralfreie Politik ihres drögen Durchwurstelns. Mit Gottes Geschichte, die sie für unveränderbar hält, läuft sie gehorsam mit. Selbständiges Denken ist bei ihr nicht zu entdecken.

Die meisten Kritiker der Verschwörungstheoretiker sind selber welche: die Thesen ihrer Gegner halten sie für unhaltbar – par ordre de mufti, ohne Argumente und Beweise. Wer J. F. Kennedy ermordet hat, weiß man laut Wiki bis heute nicht genau. Viele Akten sind noch immer unter Verschluss. Sie aber wissen genau, dass keine geheimen Mächte im Spiel sein können. Wer Behauptungen anderer ohne Gründe und Argumente vom Tisch fegt, ist selbst Verschwörungstheoretiker.

Alle Behauptungen soll man, laut Popper, durch probeweises Falsifizieren prüfen. Unbegründete Gegenthesen sind Haschen nach Wind.

Die Kanzlerin will eine faktenbasierte Politikerin sein, obgleich sie eine bekennende Lutheranerin ist. Fast nichts von ihrem Glaubensbekenntnis ist faktisch gesichert. Ihr Glauben ist eine der verhängnisvollsten religiösen Verschwörungstheorien der Weltgeschichte.

Die Welt kommt ins Trudeln – Religionen wittern ihre Chancen und beginnen, ein weltweites Triumphgeheul anzustimmen.

„Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?“

Fortsetzung folgt.