Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit LIV

Tagesmail vom 14.12.2020

Alles hat keine Zeit LIV,

„Schweigen ermutigt den Folterknecht, niemals den Gefolterten“. (Elie Wiesel)

Als Jürgen Habermas im Dezember 2012 in Israel die erste jährliche Martin-Buber-Vorlesung hielt, wurde er von der Tageszeitung HAARETZ nach seiner Meinung zur israelischen Politik befragt.

„Die gegenwärtige Lage und die Grundsätze der israelischen Regierung erforderten eine politische Bewertung, diese aber sei nicht die Sache eines privaten deutschen Bürgers meiner Generation“ – so die Antwort des ersten Aufklärers der Nation. (zit. in Omri Boehm, Israel – eine Utopie)

Müssten nicht gerade die Alten, die noch am meisten die Giftgase des Dritten Reiches eingesogen haben, ihr neu erarbeitetes demokratisches Bewusstsein vorweisen?

„Ganz offensichtlich steht Habermas‘ Schweigen für das zahlloser anderer deutscher Intellektueller, darunter auch Angehörige jüngerer Generationen?“ (ebenda)

Die Frage Boehms ist noch zurückhaltend formuliert. Den Vorwurf müsste man noch schärfer der Mehrheit der deutschen Gazetten machen, die entweder gar nichts kommentieren (man darf sich auch mit der guten Sache nicht gemein machen) oder laue Interviews führen, hinter denen sie sich verstecken.

Das Schweigen betrifft nicht nur diese oder jene, es ist zur psychischen Pandemie der ganzen Nation geworden, vor allem der politischen Führungsspitze – deren Sprechblockaden in Fleisch und Blut übergegangen sind:

„Doch hat sich, ein wenig überraschend, noch jemand aufs Podium geschlichen. Es ist ein Frosch im Hals der Kanzlerin. Man kann ihn natürlich nicht sehen, aber hören kann man ihn zum Leidwesen Merkels umso besser. Der Frosch hat sich in ihrem Hals so komfortabel eingerichtet, dass es Merkel weder mit wiederholtem Räuspern noch mit einem Schluck Wasser gelingt, sich seiner zu entledigen.“ (Sueddeutsche.de)

Nico Fried, der vorbildlichsten einer unter den älteren Brüdern, die sorgsam auf Muttern aufpassen, dass ihr die Rasselbande nicht übern Kopf wächst, musste der Öffentlichkeit bekümmert die Beschwernisse der Patronin mitteilen. Der Frosch im Hals ist nur ein Indiz für die Blockade in Kopf und Gemüt:

„Schweigen ist hier selbst eine Sprechart, und zwar ein höchst öffentlicher.“ (ebenda)

Verstummen wurde zum Gütesiegel einer Kanzlerin, die sich immer mehr weigert, sich im Dialog mit ihrem Volk zu erklären. PhysikerInnen verstehen die ewigen Gesetze der Natur, die bejammernswerten Gesetze der Menschen wollen sie nicht verstehen. Dass ihre medialen Garden sie rühmen, nüchtern und sachlich zu sein, weil sie Physikerin ist, beweist ihre Ignoranz in Einfühlen und Verstehen.

Um noch einmal Habermas zu bemühen, der keinen Hehl aus seiner Sprechunwilligkeit machte:

„Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Günter Grass kein Antisemit ist, aber es gibt Dinge, die Deutsche unserer Generation nicht sagen sollten.“

Einen schlagenderen Beweis für die misslungene Vergangenheitsbewältigung der Deutschen kann es nicht geben. Hätten sie verstanden, würden sie ihre Meinung sagen, ohne sich einschüchtern zu lassen. Wie bei Freunden bestünde die Meinung aus wohlgesonnener Akzeptanz – und dem notwendigen Anteil an Kritik. Kritik ist weder Hass noch Ablehnung, sondern Wachsamkeit als Grundlage ehrlicher Auseinandersetzungen.

Physiker müssen sich nur vor ihren KollegInnen rechtfertigen, nicht vor dem Pöbel. Je älter die Menschen werden, je mehr sind sie in der Gefahr, in die Kalamitäten ihrer unbearbeiteten Jugend zurückzufallen. Bei der Kanzlerin wären es die Sprechverbote eines autoritären Sozialismus, der nicht daran dachte, seinen Menschen Denk- und Meinungsfreiheit zu gewähren.

Das zeigt sich an Merkels Unfähigkeit, ihre Fehler wahrzunehmen und einzugestehen. Fragen nach den Fehlleistungen der Vergangenheit beantwortet sie zumeist in demütig abgefederter Gereiztheit:

„Es sei dies „wirklich nicht der Tag, zurückzublicken oder irgendwie zu fragen: Was wäre gewesen, wenn?“. Stattdessen sei nun „das Notwendige zu tun“.

Hier wird nur noch kommandiert, hier ist kein Hauch mehr von demokratischer Kultur zu spüren. Hier fühlt sich jemand ermächtigt, in der Stunde der Not alle Grundregeln der Gewaltenteilung sausen zu lassen. Lasst mich in Ruhe mit eurem Palaver, ich muss handeln.

Typische Fehlleistungen zeugen von den Rückfällen der Deutschen in ihre düstere Vergangenheit. Intellektuelle, die eigentlich die Vorhut des sapere aude sein sollten, ahmen ihre Kanzlerin nach, wie sie die Stummheit der Schreiber als Bestätigung ihrer eigenen Sprachlosigkeit auffasst.

Der Lärmpegel ist ein alarmierendes Zeichen für die verstummende kopflose Nation, die nicht mal mehr weiß, wie man Kant buchstabiert – ihre philosophie-blinde Hordenführerin mit eingeschlossen.

Ein Deutscher, der sich weigert, israelische Politik zu kritisieren, wo sie kritikwürdig ist, „weigert sich buchstäblich, den Standpunkt der Aufklärung einzunehmen. Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken.“ (Boehm)

Ronen Steinke hält es für eine unzulässige Ohnmachtspose, wenn jemand sich blockiert fühlt, den Staat der Juden zu kritisieren:

„Nein, niemand in Deutschland wird mundtot gemacht. Auch wenn einige in Kultur und Wissenschaft das behaupten. Was soll diese Ohnmachtspose? Tatsächlich verbietet niemand, eine wissenschaftliche Tagung auszurichten, zu der Kritiker, auch radikale Kritiker der israelischen Politik eingeladen werden. Niemand verbietet auch, die Fürsprecher eines Boykotts gegen die gesamte israelische Gesellschaft einzuladen.“ (Sueddeutsche.de)

Dem Buchstaben des Gesetzes nach nicht. Atmosphärisch sehr wohl.

„Doch kann die Parrhesia (Freimütigkeit im Reden) sogar noch beunruhigender und gefährlicher werden, wenn man sich in die Lage eines deutschen Intellektuellen versetzt, der die jüdische Politik kritisiert. Manch einer befürchtet, geächtet und zensiert zu werden oder sogar seine Stelle zu verlieren – das Schicksal des zurückgetretenen Direktors des Jüdischen Museums Berlin ist noch nicht vergessen.“

Die Antisemitismus-Debatte ist keine Debatte, sondern eine Denkverbots-Kampagne mit Hilfe einer Antisemitismus-Bedrohung – die nicht nur der Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland dient, sondern der blinden Rechtfertigung der immer theokratischer werdenden Netanjahu-Regierung. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern die Mitteilung eines israelischen Ministers, der stolz war auf seinen propagandistischen Erfolg, mit Hilfe der Antisemitismus-Drohung Kritik von der Regierung in Jerusalem abzuwehren.

Die Deutschen empfinden durchaus Reue- und Schuldgefühle wegen der Sünden ihrer Väter. Doch verstanden haben sie die Völkerverbrechen fast nicht. Das sollen sie auch nicht.

Denn:

a) Verstehen wird eliminiert, indem man Vergangenheit, die Zeit des Werdens aller Dinge, für nichtexistent erklärt.

b) An die Stelle der Vergangenheit und Gegenwart ist Zukunft getreten, die vage auf kurze Distanz prognostiziert, aber niemals prophezeit werden kann. Propheten sind Wundermänner im Dienste Gottes, die in rationaler Politik nichts zu suchen haben.

c) Zukunft kann man schon deshalb nicht erkennen, weil sie jeden Augenblick neu erfunden wird. So wird sie zur permanenten creatio ex nihilo.

d) In der Zeit der herrschenden Postmoderne gab es keine objektiven Wahrheiten, auch keine klare Definition des Antisemitismus. Wie kann man etwas bekämpfen, das man nicht sorgfältig definieren kann?

Der Antisemitismus-Beauftragte Berlins, Samuel Salzborn, kennt keine strenge Definition:

„Was soll der echte Antisemitismus sein? Wir wissen aus der Forschung, dass es verschiedene Formen des Antisemitismus gibt. Da ist der rechtsextreme Antisemitismus, der Antisemitismus, der aus einem islamischen Kontext kommt – und eben auch ein linker Antisemitismus und ein Antisemitismus der Mitte. Es gibt Judenhass in allen Teilen der Bevölkerung, und ich kann nur davor warnen, mit dem Finger auf andere zu zeigen und ihn immer bei denen zu verorten. Der gegen Israel gewendete Antisemitismus ist zu einer globalen Integrationsideologie geworden, die politische Milieus miteinander verbindet.“ (SPIEGEL.de)

Es gibt keine verschiedenen Formen des Antisemitismus, es gibt nur viele gefährliche Wucherungen am ursprünglichen Christenhass auf die Mörder ihres Messias – der diesen Tod benötigte als Voraussetzung seiner Höllenfahrt und Wiederauferstehung zum Herrscher des Universums.

Es ist wie bei Judas, dem Verräter, der nur tat, was Gott ihm befahl. Der Hass gegen die Christusmörder wurde in der europäischen Geschichte zur unerbittlichen Konkurrenz, welches Volk das auserwählte sei. Das schlug sich nieder in scheinwissenschaftlichen Rassismustheorien oder ähnlichen Überlegenheitsthesen.

Deutsche Attacken auf jüdische Kapitalisten, die hinter den Kulissen durch Reichtum die Welt beherrschen würden, sind Teil dieses Kampfes um den Spitzenplatz beim Herrn der Geschichte. Immer wenn Deutsche sich unterlegen fühlten, suchten sie die Schuld bei ihren Erzfeinden, die alles unternehmen würden, um sie in den Abgrund zu stoßen. Ging es ihnen gut, sahen sie selbstgefällig auf ihre lahmen Konkurrenten herab.

Salzborn erweitert das antisemitische Feindbild auf ganz Deutschland, es gebe niemanden mehr im Lande, der frei von Schuld wäre:

„Es gibt Judenhass in allen Teilen der Bevölkerung, und ich kann nur davor warnen, mit dem Finger auf andere zu zeigen und ihn immer bei denen zu verorten. Der gegen Israel gewendete Antisemitismus ist zu einer globalen Integrationsideologie geworden, die politische Milieus miteinander verbindet.“

Die Suche nach Antisemitismus ist keine Suche mehr: Salzborn hat gefunden. Es sind nicht nur Deutsche, die zu Feindbildern gekürt werden, im globalen Zeitalter ist die ganze Welt antisemitismus-verdächtig. Beweise: keine.

„Der gegen Israel gewendete Antisemitismus ist zu einer globalen Integrationsideologie geworden, die politische Milieus miteinander verbindet.“

Eine uralte jüdische Endzeit-Vision kann wahr werden: die Kinder Gottes stehen der gesamten Versammlung aller Gojim gegenüber. Der Hass der Völker ist der Beweis, dass Gott sein Volk auserwählt hat. Wen Gott liebt, den züchtigt er, hier durch die Heiden, die das Volk der Erwählten mit allen Mitteln aus dem Weg räumen, ja, vernichten wollen:

„Der HERR ist König, darum zittern die Völker; er sitzt über den Cherubim, darum bebt die Welt. Der HERR ist groß in Zion und erhaben über alle Völker. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.“

Warum wird Geheimprotokollen der Weisen von Zion noch bis zum Zweiten Weltkrieg geglaubt? Weil die Christen aller Welt in ihrer Heiligen Schrift lesen, dass Gott sein Volk am Ende der Welt auf den Thron setzen wird und alle seine Feinde sich ihm beugen müssen.

Salzborn scheint das urchristliche Original des Antisemitismus nicht zu kennen. Ultraorthodoxe Juden und christliche Kirchen haben sich längst taktisch verbunden, um Antisemitismus auf den Islam und andere Mächte zu begrenzen. Salzborn hat vergessen, dass die islamischen Reiche in früheren Jahrhunderten – dank der Aufnahme griechischer Philosophie – wesentlich toleranter waren zu den „jüdischen und christlichen Buchreligionen“ als das Abendland je fähig war. Erst als die politische Macht der Sultane abwärts ging, übernahmen die Fundamentalisten das Regiment und formten den heutigen Islam, der nicht minder totalitär ist als die unfehlbaren Priester der Katholiken, Lutheraner und Rabbinen.

Alle drei Erlöserreligionen träumen vom Endsieg ihrer Religionen und von der Unterwerfung oder Vernichtung ihrer Konkurrenten.

Salzborn: „Es ist sehr einfach, die Linie zwischen der Kritik am Staat Israel und seiner Politik zu ziehen – und Antisemitismus. Ersteres gibt es überall in Deutschland, in jeder Zeitung wird die Politik Israels kommentiert, wie die vieler anderer Staaten auch. Antisemitisch wird sie in dem Augenblick, wo der jüdische Staat als solcher infrage gestellt wird. Wenn doppelte Standards angelegt werden.“

Einfach ist es, wenn Kritiker Israels die Existenz des Staates in Frage stellen. Geschieht dies nicht, kann die Kritik tatsächlich eine Melange mit einem hintergründigen Antisemitismus eingehen. Wäre die Melange ein Akt des Bewusstseins, müssten wir von strategischer Heuchelei sprechen. Wäre sie dagegen unbewusst, könnte man zwar von außen Verdacht schöpfen. Mehr aber nicht – es sei denn, es gäbe klare Hinweise durch Selbstverrat. Gibt es keine objektiven Beweise, wäre der Verdacht unzulässig. Verdacht ist Möglichkeit, keine Wirklichkeit.

Israel wird nicht kritisiert, wenn man seine Existenzberechtigung in Frage stellt. Diese „Kritik“ wäre ein klarer Vernichtungswunsch und keine loyale Kritik. Der Begriff Kritik wird in der Debatte zunehmend zum Äquivalent von tödlichem Hass. Das sind militante Gegenprojektionen derer, die keinerlei Kritik zulassen wollen.

Allerdings gibt es tatsächliche eine Art der besonderen Kritik, wenn Israel für denselben Sachverhalt schärfer kritisiert wird als andere Länder, die für Deutschland weniger bedeuten als das Volk, an dem es schuldig geworden und mit dem es freundschaftlich verbunden sein will. Näherstehende sieht man immer schärfer als Fernstehende, von denen man ohnehin nicht viel erwartet.

Dass die Palästinenser dem heiligen Land die Existenzberechtigung absprechen, ist keinem ursprünglichen Antisemitismus geschuldet, sondern dem Hass auf ihre Unterdrücker. Der antisemitische Terror der in Europa lebenden Mohammedaner ist ein Produkt der gegenwärtigen Konfliktlage, keine „angeborene Feindschaft“ gegen die Juden. Schon gar nicht einer Religion, die den Tod verherrlicht gegen eine Religion des Lebens.

Anetta Kahane will endlich Taten sehen im Kampf gegen den Antisemitismus:

„Der Prozess von Halle hat vor allem gezeigt, dass es Zeit ist, Antisemitismus endlich wirklich anzupacken. Antisemitismus muss bekämpft werden, das wollen so viele, und es sagt sich so einfach. Doch wenn es konkret wird, wenn genauer hingesehen werden soll, dann kommt die Abwehr. Sie besteht aus Gleichgültigkeit, Kälte, Ignoranz und oft aus sorgfältig verborgener Wut. Wenn der Prozess von Halle eines gezeigt hat, dann dass es Zeit ist, Antisemitismus endlich wirklich anzupacken.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Kahane hat Recht, der Kampf gegen Antisemitismus müsste wirklich und nicht nur phrasenhaft beginnen. Doch jetzt wird‘s ernst: wie soll der Antisemitismus „wirklich angepackt werden“? Dazu kein einzig verwertbares Wörtchen. Stattdessen der gewohnte Rundum-Verdacht.

„Diese Israelboykottbewegung soll nun salonfähig gemacht werden. Die Kulturinstitutionen sehen darin einen Garanten für Weltoffenheit. Doch zeigt sich in diesem Brief lediglich, dass die Kunstwelt ein Garant für Antisemitismusoffenheit bleiben will, anstatt wirklich über Antisemitismus zu diskutieren, der sich in Deutschland gerade gefährlich verdichtet.“

Wenn es irgendjemand wagt, diesem Rundum-Verdacht nicht zu folgen und Antisemitismus von legitimer Israelkritik trennen will, der steht sogleich am Pranger und gilt als der Verdächtigste der ganz schlauen Art.

In jeder Zeitung werde Israel ohnehin kritisiert, wie Salzborn meint:

„In jeder Zeitung wird die Politik Israels kommentiert, wie die vieler anderer Staaten auch.“

Kommentieren, so viel Zeit muss sein, ist nicht kritisieren. Die meisten Medien scheuen sich, Israel mit denselben Maßstäben zu messen wie etwa Putin, Erdogan oder andere Despoten. Sie messen tatsächlich mit zweierlei Maß – doch fast immer zugunsten Israels.

Dafür steht exemplarisch BILD, die gegen alle Bösewichter der Welt schäumt, Israel hingegen stets einen heiligen Persilschein ausstellt. BILD bietet ein Beispiel, wie ein ursprünglich eindeutiger Affekt sich im Laufe der Zeiten in sein Gegenteil verkehren kann.

BILD will vorbildlich philosemitisch sein und sich in allen Dingen ritterlich vor Israel stellen – indem sie jegliche Kritik am Land als Antisemitismus dämonisiert. In Wirklichkeit nimmt BILD den von innen kommenden ultraorthodoxen Verfall des jungen Staates, die damit verbundenen Ängste vor allem der jüngeren Generationen, mit keinem Deut wahr. Diese absolute Kälte und fehlende Empathie münzen sie um in Philosemitismus, dem die Befindlichkeit des Landes gleichgültig ist.

Als ein antisemitismus-kritischer deutscher Herausgeber darauf hingewiesen wurde, dass er die Situation in Israel falsch sehe, antwortete er, „Israel interessiere ihn gar nicht; es gehe ihm einzig um Deutschland“ – berichtet Moshe Zuckermann in seinem Buch „Der allgegenwärtige Antisemitismus“, das in Deutschland ignoriert wird.

Zuckermanns Fazit: „Philosemitismus, Antisemitismuskritik und Israelsolidarität sind nichts als (anti-) deutscher Befindlichkeitsdiskurs.“

Zuckermanns Sicht auf seine Heimat wäre für deutsche Antisemitismuskritiker ein Paradebeispiel für jüdischen Selbsthass:

„… ich sehe dieses Land äußerst kritisch, weil es sich zu etwas entwickelt hat, das nicht nur zu meinen Vorstellungen der Jugendzeit in einem krassen Gegensatz zu jedweder humanen aufgeklärten und friedlich ausgerichteten Gesellschaft steht.“

Hier kommen wir ins Zentrum der Debatte, die von blinden Israelverteidigern mit keinem Wörtchen erwähnt wird. Warum gibt es so viel Kritik an Israel? Weil es gegen universelle Menschen- und Völkergesetze verstößt.

Auch die eindrücklichen Worte der jüdischen Philosophin Neiman werden ohne jeden Beweis als jüdischer Selbsthass verleumdet:

„Ich spreche hier als Jüdin, als Philosophin, als gebürtige Amerikanerin, gewordene Israelin, nach Trump auch als deutsche Staatsbürgerin“, sagte Neiman und erinnerte insbesondere an die Geschichte des Namensgebers der Akademie der Wissenschaften Albert Einstein. Einstein wurde überzeugt, dass das jüdische Volk eine Heimat brauchte. Dennoch warnte er früh, dass der noch nicht gegründete jüdische Staat die Rechte der Araber schützen muss. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kritisierte er das Massaker an arabischen Bürgern im Dorf Deir Yassin in einem Brief an die New York Times als ‚faschistisch‘ und Menachem Begin als ‚Terrorist‘. Die deutschen Israel-Diskussionen sollten endlich die Vielfalt jüdischer Diskussionen und deren Kritik reflektieren, nicht nur die Meinungen konservativer, deutsch-jüdischer Organisationen. Nach deren Logik dürften deutsche Institutionen, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, weder Albert Einstein noch Hannah Arendt, die Einsteins Brief damals mitunterzeichnete, zu einem Vortrag einladen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Kaum nachzuvollziehen, wie der Antisemitismus-Beauftrage Klein in einer Debatte mit Neiman auf den Namen Hannah Arendt reagiert:

„Immerhin, so Neiman, hatten sowohl Einstein als auch Arendt, auch wenn sie den im Werden begriffenen jüdischen Staat damals intensiv unterstützen, in einem Brief an die New York Times 1948 für das Vorgehen israelischer Truppen gleich viermal das Wort „faschistisch“ verwendet. Klein meinte Neiman daraufhin peinlicherweise belehren zu müssen: Derartige Vergleiche seien „nicht zulässig“, sagte er. Nur, um selbst einen atemberaubenden Vergleich anzustellen: Neimans Frage, so Klein, ähnele den Relativierungen rechter Corona-Leugner, Stichwort: Anne Frank. Kennen Sie den Moment, wenn man beim Radiohören aufschreit: „What?!“ Das war so ein Moment. „Antisemitismus wurde in den letzten Jahren immer mehr umdefiniert und auf bestimmte Teile der Gesellschaft abgeladen, wie Muslime oder Migranten. Heute sind viele Deutsche überzeugt, dass auch linke Juden Antisemiten sein können, weil grundlegende Kritik an Israel dafür schon reicht. Ich denke, sie bekämpfen diese alternativen Stimmen aus Israel-Palästina, weil sie eine mühsam aufgebaute deutsche Selbstgewissheit gefährden. Diese Bekämpfung ist aber wirklich fanatisch und identisch mit Positionen von Trump und Orban, ich empfinde das als bedrohlich.“

Wenn Arendt eine Faschistin sein soll, müssen Trump & Co die vorbildlichsten Demokraten der Welt sein. Diese absurden Diskriminierungen entlarven ungewollt den verborgenen weltpolitischen Sinn der blinden Verteidigung israelischer Unrechtstaten: die universellen Maximen der UN-Charta sollen weltweit gestürzt werden. Die Zukunft soll dem uralten Motto folgen: der Mensch ist dem Menschen ein Raubtier.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist notwendig. Streng genommen gibt es ihn in Deutschland nicht. Äußere Gewalttaten müssen von Polizei und Justiz konsequent nach dem Gesetz verfolgt werden.

Doch der wirkliche Antisemitismus ist eine geistige Ideologie und muss mit Geist bekämpft werden: mit historischem Verstehen und glasklaren Argumenten. Diesen Kampf findet man weder in Schulen, an den Unis, schon gar nicht in der Politik und so gut wie nicht in den Medien. Die deutsche Regierung übt sich in verhängnisvollem Heuchelschweigen – immer voran die Kanzlerin, die Formeln berechnen kann, aber nichts versteht von Religionskritik, Luthers Antisemitismus mit einer Handbewegung verharmlost und von Geschichte und Seelenkunde nicht die geringste Ahnung hat.

„Nicht alle Juden sind Zionisten, nicht alle Israelis sind Juden. Judentum, Zionismus und Israel sind voneinander zu unterscheidende Kategorien. Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik sind voneinander zu unterscheidende Kategorien. Man kann antisemitisch sein, ohne antizionistisch oder israelkritisch zu sein. Man kann israelkritisch sein, ohne antizionistisch oder antisemitisch zu sein. Wer als jüdischer Israeli Israelkritik zwangsläufig für antisemitisch erachtet, ist von der staatsoffiziellen israelischen Propaganda geprägt. Wer als jüdischer Israeli Israelkritik für antisemitisch erachtet, ist kollektiv-narzisstisch gekränkt. Wer als Deutscher Israelkritik zwangsläufig für antisemitisch erachtet und israelisch-jüdische Israelkritiker des Antisemitismus‘ zeiht, hat ein Problem mit dem Juden als solchem, das er nicht anders in den Griff zu kriegen weiß als durch Besudelung des Juden. Er ist von einem unbewussten antisemitischen Ressentiment angetrieben. Generell: wer als Deutscher, dem Juden seit Auschwitz tabu sind, gerade Juden des Antisemitismus bezichtigt, ist selbst ein latenter Antisemit. Nicht immer latent.“ (Zuckermann)

Die deutsche Regierung versagt nicht nur in der Coronapolitik. Ihr Versagen gegenüber Israel ist eine Katastrophe.

Fortsetzung folgt.