Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit L

Tagesmail vom 04.02.2020  

Alles hat keine Zeit L,

Corona, mach dich aus dem Staub, wir haben Besseres zu tun! Wir müssen uns der Frage widmen: Wie konnte die Weihnachtsgeschichte die ganze Welt bezwingen?

„Der Schriftsteller Martin Walser hat mal gesagt, die Weihnachtsgeschichte sei die schönste literarische Geschichte der Welt. Walser neigt ja dazu, sich zu ereifern, aber so falsch liegt er in diesem Fall nicht. Weihnachten ist längst das wichtigste Fest der Welt, beliebt nicht nur bei Christen. Selbst in China gibt es ein Wort für Heiligabend. Eine beispiellose Karriere. Für die Menschen scheint es keine Rolle zu spielen, ob die Geschichte stimmt. Denn es ist vollkommen klar, dass sie historisch nicht stimmt. Die Evangelisten, die sie erzählen, Lukas und Matthäus, widersprechen sich schon bei der Datierung. Entscheidend ist offenbar nicht, ob die Geschichte wahr ist, sondern ob sie gut ist. Und sie ist gut. Die Geburt im Stall, die Krippe, die Hirten auf den Feldern – das ist wunderschön. Die Ästhetik von Weihnachten ist einfach unschlagbar. Die Botschaft von Frieden und Liebe sowieso.“ (SPIEGEL.de)

Wie kann man Christen, die keine sein wollen – also Deutschen – das Fest der Feste unter die Weste jubeln? Man nehme einen weltlichen Experten, hier einen Germanisten, der sich beiläufig als Organist zu erkennen gibt, und lasse ihn streng wissenschaftlich das Fascinosum ohne Tremendum rühmen.

Denn siehe, das Heilige hat alles Furchterregende verloren. Das war das Werk der Aufklärung. Aber am Zentrum der Botschaft mussten die Gottlosen scheitern: die Krippe blieb. So entstand ein unnachahmlich- typisches Produkt made in Germany, halb Glauben, halb Unglauben. Einmal im Jahr muss der deutsche Mensch in die Kirche.

„Entscheidend ist offenbar nicht, ob die Geschichte wahr ist, sondern ob sie gut ist. Und sie ist gut. Die Geburt im Stall, die Krippe, die Hirten auf den Feldern – das ist wunderschön. Die Ästhetik von Weihnachten ist einfach unschlagbar. Die Botschaft von Frieden und Liebe sowieso.“

Auf Wahrheit haben wir schon verzichtet. Die hat keinen Glanz im Lande Luthers. Das Wahre, Gute und Schöne: lass fahren dahin. Wie aber kann das Unwahre Frieden und Liebe verkündigen? Und schon sind wir in der Ästhetik, der Lehre vom schönen Schein. Schein als Sinnlichkeit oder als Lug und Trug?

In Deutschland wiederholt sich die Geschichte nicht. Das steht schon irgendwie im Grundgesetz. Das muss sein, denn das Verbot ist ein Bollwerk gegen alle Wiederholungen schrecklicher Verbrechen. Damit wollen die Deutschen die Welt (die noch immer Angst vor ihnen hat) besänftigen: fürchtet euch nicht, wir haben uns neu erfunden. Was gestern war, hat keine Macht über uns.

In Deutschland wiederholt sich keine Geschichte – außer der Weihnachtsgeschichte. Doch die hat eine verfassungsgemäße Ausnahmegenehmigung. Marc Pitzke lebt schon solange in Amerika, dass er merkwürdigerweise schreiben kann:

„Geschichte wiederholt sich, wenigstens das stimmt noch.“ Erbarmungslos wiederholt sich die deutsche Geschichte, indem sie sich vom Wahren verabschiedet und – zur Ästhetik überwechselt.

Das war der verhängnisvolle Sprung der Klassiker ins Ästhetische als Flucht vor der Wahrheit und Notwendigkeit freier Politik. Die Abwendung vom Terror der Guillotine kann man noch verstehen, nicht aber die Weigerung, aus Fehlern klug zu werden, es besser zu machen und die Parole Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit in gewaltfreie Demokratie zu übersetzen.

Der orgelspielende Germanist kokettiert mit logischen Rösselsprüngen:

„Der theologische Kern des Festes taucht dieses Jahr aus dem Unterbewusstsein wieder auf. Es ist der Erlösungsgedanke. In der heutigen Welt spielt er eigentlich kaum noch eine Rolle, es gibt wohl nur wenige Menschen, die sich danach sehnen, von Sünden erlöst zu werden. Aber Erlösung von diesem Virus: Die wünschen wir uns schon! Die Weihnachtsgeschichte ist eine Heilsgeschichte. Jesus Christus ist eine Retterfigur.“

Ist die Welt nun erlösungsbedürftig oder nicht?

Gibt es einen Erlösungsgedanken aus dem Unbewussten? Da wäre Freud ausgerastet. In dessen Unbewusstem lauerten ödipale und anale Natterngezüchte – komplettiert vom Todestrieb. Da muss es heute im dunklen Bereich des Begehrens einen gewaltigen Fortschritt gegeben haben. Pünktlich am Weihnachtsfest erwacht das Erlösungsbedürfnis, damit die von Gott gesandte Virusfrage ihre Erlösung findet.

Einerseits gebe es nur wenige Menschen, die erlöst werden wollten, andererseits aber „wünschen wiruns alle Erlösung von Corona.“ Womit indirekt bestätigt wird, dass die Pandemie eine göttliche Strafe sein muss. Denn ohne Strafe von Oben kein Erlösungsbedürfnis! Warum? Weil irdische Probleme nur mit irdischen Mitteln gelöst werden können. Nur im Bereich des Überirdischen benötigen wir Hilfe von Oben.

Kann eine Heilsgeschichte ohne Wahrheit wirksam sein? Auch Märchen sind wunderschöne Geschichten, was nicht bedeutet, dass sie real sein müssen.

Welch grandiose Entwicklung: der Erlösergott wird zu einem Märchen der ganzen Familie mit Stall, Hirten, Krippe, Felder: die ungestillte Sehnsucht der Moderne nach dem Schlichten, Einfachen und Bäuerlichen wird hier befriedigt – für zwei Tage. Kinder können nur geboren werden, wenn Ochs und Esel die Familie beschützen. Zurück in den Stall ist Rousseaus Ruf: retour à la nature.

Was hat das Märchen von der Geburt des Göttersohnes in Eintracht mit der Natur mit einem allgewaltigen Schöpfer zu tun? Göttersöhne kannte man in der Antike zuhauf. Sie waren das Zeugungsprodukt irdischer Frauen und Götter, die der Versuchung irdischen Fleisches nicht widerstehen konnten. Wo selbst Götter nicht widerstehen können, erkennen wir den Grund, warum Frauen zu Mägden gebeugt werden müssen: sie sind zu verführerisch. Im Gegensatz zu heidnischen Frauenbeglückern darf der Erlösergott Maria nicht fleischlich beglücken. Zuviel der Ehre für sündige Wesen.

Die fromme Geschichte ist eine Mischung aus heidnischen Götterlegenden, kynischer Einfachheitsphilosophie – und transzendentem Erlösermythos.

In der Schöpfungsgeschichte war der mächtige Gott vor und über der Natur – die er aus Nichts erschaffen musste.

In der Weihnachtsgeschichte wird Gott als hilfloses Kind geboren, muss viel Ablehnung und Widerstand erleben, leiden und gekreuzigt werden, bis er ins Leben zurückkehren kann, um ins Jenseits aufzusteigen. Das war die Widerlegung kindlicher Hilflosigkeit.

Die Krippe entspricht der Tonne des Diogenes, der mit seinen Freunden wie Hunde auf der Straße lebte und alle zivilisatorischen Errungenschaften, Bequemlichkeiten und Luxusbedürfnisse ablehnte. So alt ist die erste Ökologiebewegung in Europa.

„Kyniker lebten das sittliche Ideal der Autarkie des Sokrates und dessen grundsätzliche Bedürfnislosigkeit der Lebensführung. Der Kynismus bewahrte inmitten einer überfeinerten Kultur seine Freiheit von allen künstlichen Bedürfnissen und seine Anziehungskraft bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert. Ein bescheidenes und tugendsames Leben ist der einzige Weg zu bleibender Zufriedenheit; Reichtum zerstört den Seelenfrieden, Neid frisst wie Rost an der Seele. Sklaverei ist Ungerechtigkeit. Tugend ist ihre eigene Belohnung und hängt nicht von Göttern ab. Selbst dem Tode gegenüber sollte man unabhängig sein und sich selbst Ort und Zeit des Sterbens aussuchen. Selbsttötung ist zulässig.“

Und wie sich die Geschichte wiederholt. Wiederholung und Vergleich sind keine Gleichsetzungen. Rousseau war Wiedergänger der Kyniker wie Voltaire undenkbar gewesen wäre ohne sokratisches Vorbild.

Als die Römer Athen erobert hatten, war der Kynismus nicht ohne Erfolg. Doch je kapitalistischer roma aeterna wurde, umso mehr verschwand er in der Versenkung. Im Gegensatz zur Stoa, die, neben einem missverstandenen, vergnügungssüchtigen Epikuräismus, zur Philosophie der Eliten aufstieg.

Wie war das möglich, dass eine Philosophie der Unabhängigkeit von Erfolg und Reichtum zur Ideologie der Reichsten und Mächtigsten werden konnte?

Durch Verlust ihrer politischen Wirksamkeit als Flucht in die Innerlichkeit. Anders hätte Seneca, einer der reichsten Römer, nie Stoiker sein können oder ein Kaiser wie Mark Aurel, der viele Kriege an den Grenzen des Reichs führen musste. Hier traf sich die verinnerlichte Stoa mit der Innerlichkeit des aufkommenden Urchristentums – dessen apolitische Leidensbereitschaft aber nur Methode war, um die teuflischen Mächte der Erde zu besiegen und sie dem Schöpfer untertan zu machen.

Innere Freiheit wurde das Motto der Deutschen, als sie beim Gestalten der Demokratie versagten und in das ätherische Reich tatenloser Gedanken flüchteten.

Noch heute ist ein Deutscher kein homo politicus wie der Franzose, Engländer oder Amerikaner. Er muss sich stets am Portepee fassen und Mut zusprechen, um auf der Straße seine Meinung in die Welt zu plärren. Das mag die Unsicherheit gewesen sein, weshalb eine Jana aus Kassel sich mit Sophie Scholl verglich, anstatt sie als ihr Maßstab zu bezeichnen.

Die Reaktion der Medien war unfasslich. Ein Gespräch hätte genügt, um den rationalen Kern des Vergleichs vom Überschwang zu trennen. Warum sprechen die Medien nicht mit denen, die Kritik an der herrschenden Politik anmelden? Wer nicht dem Mainstream folgt, hat keine Chance, in eine Talkshow zu gelangen. Plasberg & Co spricht nur mit seinesgleichen.

Was immer Randläufer zu bieten haben: wenn die Medien sie ablehnen, so lehnen sie sie ab – und wenn sich jene auf den Kopf stellen:

„Sahra Wagenknecht wiederum kann man wahrscheinlich tief in der Nacht aufwecken und sie wird umstandslos einen Vortrag darüber halten, dass die Wut der Bürger über die sozial ungerechte Politik berechtigt ist und dass sie nur zu den Rechten gehen, weil die Linke sich zu fein für die kleinen Leute geworden ist. Das tat sie auch hier mehrmals und es war wie immer natürlich nicht komplett falsch, aber eben auch nicht komplett richtig. Es ist halt das, was Sahra Wagenknecht sagt. Der Erkenntnisgewinn ist überschaubar.“ (SPIEGEL.de)

Wenn die Randläufer nichts Neues bringen, bieten sie keinen Erkenntnisgewinn, bringen sie was Neues, sind sie originalitätssüchtig. Freilich, wenn die geliebte Kanzlerin den immer gleichen Refrain psalmodiert, gilt sie als berechenbar und zuverlässig. Wenn zwei dasselbe tun …

Das Vergleichsverbot wird allmählich zur kollektiven Paranoia. Sich mit jemandem vergleichen, bedeutet nichts anderes als: sich jemanden als Vorbild und Maßstab zu nehmen, an dem man sich messen kann, um zu sehen, wie weit man von seinem Ideal entfernt ist. Knaben sollen werden wie berühmte Fußballer, Mädchen wie Heidi Klum, Kinder wie Mama und Papa: im täglichen Leben gibt’s keine Probleme, seine HeldInnen zu nennen und sich mit ihnen zu vergleichen. (Der sokratische Marktplatz müsste wegen großmäuligen Vergleichs mit seinem Vorbild geächtet werden.)

Sollen Lutheraner nicht werden wie ihr mutiger Reformator, Christen nicht wie ihr Heiland und Erlöser? Wenn es nach den Medien ginge, dürfte ihre Kanzlerin sich nicht mehr Lutheranerin, das christliche Abendland sich nicht mehr christlich nennen.

In biblischer Sprache heißt vergleichen: dem Herrn nachfolgen, seinem Vorbild nachjagen:

„Sie verließen alles und folgten ihm nach. Wer mir dienen will, der folge mir nach. Folget nicht dem Bösen. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget ihm nach, ist seiner nicht wert. Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel.“

Wie kommt es zu dieser maßstabs- und vorbildlosen Hirnrissigkeit? Durch Ich-Vergötzung zum unvergleichlichen Genie, das von anderen nichts lernen kann. Das Ich ist so gewaltig, dass es nur in solistischer Unvergleichlichkeit auftritt. Philosophiehistoriker sprechen von Solipsismus.

Max Stirner gilt als strengster Vertreter des Solipsismus:

„Mir geht nichts über Mich“ oder „Ich bin nicht ein Ich neben anderen Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig“. Er wendet sich gegen eine Begründung der Ethik aus Allgemeinbegriffen wie dem der Menschheit. Die Orientierung am Ich in seiner „Einzigkeit“ schlägt er vor als Überwindung eines Bestimmtseins durch äußere Kräfte oder von abstrakten Ideen („Idealismus“), kurz, jedem Willen, etwas anderes zu sein als das eigene Selbst.“

Von anderen lernen hieße demnach, sich zum Papagei des Anderen zu machen. In der Postmoderne, in der jeder Einzelne sein solistischer Maßstab ist, darf niemand einem gewählten Meister folgen. Unter Lernen versteht man nur noch mechanisches Aneignen technischer und ökonomischer Fähigkeiten. Da die gesamte Konsumgesellschaft durch Werbung konditioniert, von außen gelenkt und unterschwellig beeinflusst wird, ist bewusstes und kritisches Wahrnehmen nicht mehr vorgesehen. Auch im Bereich politischer Ziele und philosophischer Gedanken wird nicht die offene Debatte bevorzugt, sondern das „Framing und Nudging“.

Auch Hegel war bereits unterwegs zum Solipsisten, nicht minder sein Schüler Marx. Wer einer automatischen Heilsgeschichte anhängt, die er allein durchschaut, kann nicht anders als prophetischer Solipsist sein:

„Lernen ist hiernach diese Bewegung, dass nicht ein Fremdes in ihn hineinkommt. Sondern dass nur sein eigenes Wesen für ihn wird oder dass er zum Bewusstsein desselben kommt.“

In der europäischen Kultur sind zwei unverträgliche Muster des Lernens in jahrtausendealter Kompromisskunst aneinander gefesselt: das griechische Lernen von und mit anderen – und das passive Empfangen höherer Botschaften.

Die erste Methode heißt Philosophie, in der jeder Lernende sich mit Lehrern und Gefährten auseinandersetzen muss. Die zweite könnte man esoterische Erleuchtung nennen, die alles von Oben empfängt, ohne widersprechen zu dürfen. Justament die Vertreter dieser esoterischen Ich-losigkeit fühlen sich berechtigt, Andersdenkende als Esoteriker zu beschimpfen.

Im Revier der Offenbarung gilt die Unvergleichlichkeit, ja die Unaussprechbarkeit des Wahren, identisch mit dem Göttlichen. Am Anfang dieser Unfehlbarkeit steht das Bilderverbot:

„Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.“

Gott ist ein eifersüchtiger Liebhaber, der niemanden duldet, mit dem er verglichen werden könnte. Sollte der Begriff Narzissmus jemals zutreffend gewesen sein, dann hier. Wie schnell ist man im Westen zur Hand mit der Diagnose Narzissmus. Das geht von Trump, dem Destruktor der amerikanischen Demokratie bis zu irgendeinem windigen Gigolo.

Die Diagnose selbst gehorcht dem Bilderverbot. Narzissmus darf nicht auf einen Gott zurückgeführt werden, sondern muss einem arglosen griechischen Jüngling in die Schuhe geschoben werden.

Für Sigmund Freud war das Bilderverbot von überragender Bedeutung für die abendländische Entwicklung, ja, für die Entwicklung der Menschheit:

„Wir vermuten, daß Moses in diesem Punkt die Strenge der Atonreligion überboten hat … sein Gott hatte dann weder einen Namen noch ein Angesicht, vielleicht war es eine neue Vorkehrung gegen magische Mißbräuche. Aber wenn man dieses Verbot annahm, mußte es eine tiefgreifende Wirkung ausüben. Denn es bedeutete eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, strenggenommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen. […] Es war gewiß eine der wichtigsten Etappen auf dem Wege der Menschwerdung.“ („Der Mann Moses und die monotheistische Religion“)

Hier zeigt sich das puritanische und politikferne Unbewusste Freuds. Sinnlicher Triebverzicht kann Lustfeindlichkeit bedeuten, verträgt sich aber bestens mit Gewalt- und Machttrieben. Hitler war kein erotischer Lüstling, aber fanatisch süchtig nach Beherrschung der Massen.

Magie war die Vorform technischer Macht über die Natur – mit Beschwörungen und geheimnisvollen Ritualen. Später wurde Magie zur Naturwissenschaft, die magisches Abrakadabra in technisch-mathematisches Herrschaftswissen überführte. Genau diese „Magie“ durch Rechnen und Experimentieren wurde zur europäischen Überwältigungsmethode über Mensch und Natur. Genau diese Wissenschaftsreligion wurde durch das Bilderverbot nicht verhindert, sondern mit aller Macht gefördert: macht euch die Erde untertan.

Was bedeutete das Bilderverbot?

„Das zweite Gebot erhöhte den nationalen Begriff Gottes auf Kosten der Kunst, durften doch von Jahwe keine Bildnisse hergestellt werden. Dadurch unterband das Priestertum Aberglaube und Anthropozentrismus und versuchte, trotz allzu menschlicher Eigenschaften, die man Gott zuschrieb, Jahwe als jenseits von Form und Bild zu erfassen. Wissenschaft und Kunst fanden daher in der jüdischen Gesellschaft keinen Nährboden.“ (Will Durant)

Im Griechentum waren Schönheit und Wahrheit der Natur sinnlich in Kunst, gedanklich in Philosophie zu erfassen. Das Wahre, Schöne und Gute war dem Menschen nicht verschlossen. Durch Erkennen der Natur, im Dialog mit seinen Mitmenschen konnte er lernen und Erkenntnisse gewinnen.

In der Religion gibt es kein autonomes Lernen. Alles muss heteronom vom Himmel und seinen priesterlichen Sendboten bestimmt werden. Wie kann man über jemanden nachdenken, der keinen Namen und keine Eigenschaften besitzt? Er will heilig bleiben, spricht als Unbekannter und Anonymer. Mit Ihm darf nicht gerechtet werden. Vom Menschen will er nicht verstanden werden, denn wer den anderen versteht, bestimmt über ihn.

Und nun die ungeheure Wendung. Dieser unbekannte, unsichtbare Gott wird Mensch. Diesen Sohn schickt er in sichtbarer Gestalt in die sündige Welt.

Das ist das exakte Gegenteil allen Bilder- und Denkverbots. Wie präsentiert sich dieses fleischgewordene Wort?

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.“

Ungewöhnlich viele bekannte römische Namen werden in der Weihnachtsgeschichte genannt. Es ist die Ankündigung eines unscheinbaren kleinen Wesens, dermaleinst als Messias die Herrschaft über die Welt zu übernehmen. Seine Anhänger werden Rom besiegen, diesen satanischen Staat, der in der kurz bevorstehenden Apokalypse sein schmähliches Ende finden wird.

Diogenes hatte zu Alexander gesagt: Geh mir aus der Sonne. Du störst, ich brauche deine Macht nicht. Es gab keinen Konflikt zwischen Denken und Macht. Philosophie prägte die Politik, erfand die Menschenrechte, widersetzte sich später der Macht der Kirche und brachte Licht ins dunkle Europa.

Jesu Geburtsgeschichte warnt den römischen Kaiser: noch kennst du mich nicht. Eines Tages aber werde ich dich vom Thron holen – selbst wenn ich zuvor sterben und auferstehen muss. Rom, Kloake der Welt, nimm dich in acht.

Und also geschah das Wunder. Das heilige Kind wurde zum Großen Vorbild aller Christen, das sich mit folgenlosem Glauben nicht begnügte, sondern mit Feuer und Schwert die Welt eroberte.

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“

Die Natur werden wir nicht retten, wenn wir den Sieg des Glaubens über die Welt nicht verhindern. Denn der Glaube wird den Kosmos vernichten: Welt ging verloren, Christ ward geboren.

Fortsetzung folgt.