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Abie Nathan

Hello, Freunde des Abie Nathan,

wäre es verkehrt, vom Gandhi des Mittleren Ostens zu sprechen? Hätte er nicht hundertmal eher den Friedensnobelpreis verdient, als ein Drohnenkiller im Weißen Haus, der die Welt in einen panoptischen Käfig verwandelt?

Warum kennt ihn niemand in Israel, in Deutschland schon gar nicht? Warum starb er bedeutungslos und arm in Tel Aviv? Warum wurde im Heiligen Land kein einziger Platz, keine einzige Straße, keine einzige Schule nach dem ehemaligen Piloten und Friedensstifter benannt? War er gescheitert? Oder das Volk, das er vergeblich auf den Weg der Verständigung und Eintracht mit seinen Nachbarn verlocken und animieren wollte?

Rückblickend sagt Shimon Peres über ihn, den er heute einen Freund nennt, obgleich er früher dessen Aktivitäten bekämpfte: „«Er war im Recht, und wir waren im Unrecht», sagt Peres. Wann hat man so etwas von einem Politiker schon einmal gehört? «Er war seiner Zeit nicht voraus – wir waren unserer Zeit einfach hinterher.»“ (Michael Hanfeld in der FAZ)

War er zu naiv in seinem Idealismus? (In Deutschland hätte man den Friedensaktivisten als Wolf im Schafspelz, als moralischen Stalinisten über die Klinge springen lassen.) Oder brauchen wir gerade solche naiven Moralisten, die zynischen Generälen und politischen Machiavellisten Paroli bieten können, wie einer seiner Bewunderer, der Haaretz-Journalist Gideon Levy, in dem eindrucksvollen

Film erklärte, der gestern in ARD zu sehen war?

In der ARD? In der ARD! Es war ein Wunder, dass das andere Israel, das vernünftige und friedensliebende, hier zu sehen war. Es war ein Ärgernis, dass der Film erst jetzt gezeigt wurde: zwei bis drei Generationen zu spät.

Im Film war die Garde der israelischen Selbsthasser zu sehen. Von Uri Avnery über Moshe Zimmermann bis Daniel Barenboim. Dazu „Zubin Mehta, Yoko Ono, Ruth Dayan, die Witwe des israelischen Verteidigungsministers, der Filmemacher Georg Stefan Troller, Ahmad Tibi, ehemals Berater von Jassir Arafat, der Oberrabbiner von Tel Aviv, Israel Meir Lau, der Playboy Rolf Eden, der Schriftsteller Gideon Levy, der Schauspieler Michael Caine – sie alle erinnern an einen Mann, der umstritten war, wegen der Siedlungspolitik Israels in Hungerstreik trat, in Haft kam, weil er Arafat getroffen hatte, dem sie aber nichts als Bewunderung entgegenbringen.“

Der Film war eine symbolische Bestätigung für den Bankrott der deutschen Heuchel-Politik gegenüber Israel. Kein einziger Deutscher war unter den Bewunderern des israelischen Friedenslagers. Die phrasenhaften Philosemiten glänzten durch Abwesenheit, das Schicksal des geliebten Landes nahmen sie nicht zur Kenntnis. Das Jüdische ist ihnen zu gefährlich, sie überlassen es denen, die am meisten davon verstehen: den Juden. Macht euren Kram alleene, Lieblinge Gottes, und hindert uns nicht am Geldmachen, dann kommen wir uns nicht in die Quere.

Auch die einheimischen Antisemitismus-Wächter ließen sich nicht blicken. Für sie ist Shalom eine Begrüßungsformel, keine politische Agenda. Das Volk der ehemaligen Täter nimmt nicht zur Kenntnis, wie ihre Opfer sich bemühen, die richtigen Lehren aus dem Holocaust zu ziehen: Frieden als oberstes Ziel aller Politik.

Für sie ist das neue Volk der Juden identisch mit der Rache- und Unterdrückungspolitik des ultrarechten Netanjahu-Lagers. Wer diese Menschenrechtsverletzungen nicht für koscher hält, der ist ein Judenfeind! Den Deutschen wird abverlangt, amoralische Handlungen für richtig zu halten, die sie an anderer Stelle mit Abscheu zurückweisen würden.

Die mittelalterliche Lehre der doppelten Wahrheit ist zur conditio sine qua non der bedingungslosen Solidarität mit Israel geworden. Die Treuegelöbnisse der Deutschen werden immer devoter und knechtischer. Während das israelische Friedenslager sich vollständig im Stich gelassen, ja, verhöhnt sieht, wird die offizielle Regierung in Jerusalem durch den unterwürfigen Helotensinn der Deutschen – und der Europäer – zu einer immer selbstgerechteren und herrischeren Machtpolitik provoziert.

Wer merkt, dass andere vor ihm zittern, wird immer hybrider und vermessener. Es reizt ihn, den anderen derart zu kujonieren, bis jener zurückschlägt und dem Provokateur die Grenzen zeigt. Gottgleiche nehmen es dem Gewürm übel, dass es sie widerstandslos Götter werden ließ. Kaum ein Mensch auf Erden – außer den gebenedeiten Weltmilliardären – erträgt es auf Dauer, seinen Mitmenschen nur überlegen zu sein. Wer den Supermann spielen muss, rächt sich an denen, die ihn durch Kleinheit zwingen, immer den starken Max zu mimen. Wer ständig dominant sein muss, sehnt sich danach, dass man ihn zur Kenntlichkeit reduziert.

Die servile deutsche Israelpolitik will vor allem unschuldig sein. Niemals mehr will sie Vorwürfe hören, sie habe sich an den Juden vergangen. Also sagt sie nur noch Ja und Amen. Wer nichts tut, kein falsches Wörtchen sagt, kann nichts falsch machen. Diese heimtückische Ignoranz hält Merkel für loyal. Der Gipfel der Loyalität ist für sie, wenn sie Netanjahu die Füße küssen darf.

Als das Wiesenthal-Institut die Badische Zeitung auf die Antisemitismus-Liste des Jahres setzte, weil sie Netanjahu vorwarf, die Friedenspolitik zu vergiften, gab es nicht die geringste Reaktion im Binnenlager aller Edel-Feiglinge.

Das ist kein Skandal mehr, das ist ein möglicher Grund, den Nahostkonflikt in einen heißen Krieg zu verschärfen. Denn Jerusalem bemerkt, dass sich niemand seinen Hasardeurgelüsten in den Weg stellt. Sollte es in der Krisenregion zu einem militaristischen Desaster kommen, haben die Deutschen durch Feigheit vor dem Freund ein Streichholz an die Lunte gelegt.

Nach der Riesenschuld im Dritten Reich wollten die Deutschen alles anders machen. Sie haben es nur zu einer Reaktionsbildung gebracht und bestrafen heute die Israelis durch philosemitisches Gesäusel, wo sie früher vom internationalen Finanzjudentum gehetzt hätten. Freud spricht von der Identität des Opfers mit dem Täter. Der Schwache will stark sein wie der, der ihn quält – damit er es ihm an einem fernen Tag der Rache mit gleicher Münze zurückzahlen kann.

Deutscher Philosemitismus ist die Identität eines bestraften Täters mit dem ehemaligen Opfer, das der Täter als Sieger und Rächer betrachtet, unter den er sich ducken muss, ohne dass sein Ducken bemerkt werden soll. Philosemitismus klingt geläutert und souverän, und darf seine innere Unterwerfung verdrängen.

Aus der missglückten deutsch-jüdischen Symbiose ist eine deutsch-jüdische Folie à deux geworden. Beide Nationen sind sich ähnlicher, als sie zugeben wollen. Beide fühlten sich auserwählt, beide wissen nicht, ob sie noch immer auserwählt sein wollen – oder ob sie in normale Säkularität übergehen wollen.

Wie eine Nation sich definiert – durch Rasse, Religion oder Kultur – ist fürs erste belanglos. Entscheidend sind die Konsequenzen, die sie aus ihrer Definition ziehen.

Wollen sie eine säkulare Demokratie sein, haben sie sich säkular – und das heißt vernünftig – zu verhalten. Säkularität ist Vernunft. Religionen in einem säkularen Staat haben die Vernunftgrundlagen zu akzeptieren. Erst dann gilt: alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt und gehört zur Freiheit der Selbstbestimmung.

Bei Shlomo Sand kommen diese Aspekte zu kurz. Wenn Israel sich als säkulares Gemeinwesen bezeichnet, muss es den Einfluss demokratiefeindlicher Haredim in die Schranken weisen. Das geschieht nicht dadurch, dass die Nation sich areligiös definiert. Was ein Volk ist, kann es durch abstrakte Selbstbenennung nicht bestimmen. Es muss sich wahrnehmen, wie es ist, seine gewachsenen Charakterstrukturen durch Blick in seine historische Entwicklung aufarbeiten, um die Lasten seiner mitgeschleppten Inhumanität abzuschütteln.

Wie in allen westlichen Monotheismen ist der Zustand der Religionskritik in Israel und Deutschland verbesserungswürdig. Die besten Atheisten gefallen sich als wohlfeile Beschützer der religiösen Grundlagen des Gemeinwesens, ohne die die Polis zu verwahrlosen drohe.

Deutschland und Israel befinden sich in einer Krise. Die Krise des Heiligen Landes aber ist tiefer und prinzipieller als die der Neugermanen, die sich in Europa eingebunden fühlen. Israel fühlt sich nur sicher im Einklang mit Amerika – doch dies in abnehmendem Maß.

Die Juden kennen den Grund des amerikanischen Philosemitismus: von biblizistischen Eschatologen werden sie gebraucht, um durch rechtzeitige Bekehrung zum christlichen Glauben die Wiederkehr des Messias zu ermöglichen. Sollten die Amerikaner glauben, dass die Zeit erfüllet sei, und die Juden würden sich noch immer störrisch zeigen, wird Gottes eigenes Land von einer antisemitischen Massenflut überrollt werden. Es könnte sich wiederholen, was in der deutsch-jüdischen Symbiose geschah, die in dem Moment zerbrach, als das 1000-jährige Reich seinen österreichischen Messias präsentierte. Das war das Signal für die finale Katharsis.

Das säkulare Israel steht noch unter einer zweiten Bewährungsprobe. Nach mehr als 2000 Jahren politischer Fremdbestimmung muss es der Welt beweisen, dass es zur nationalen Politik fähig geworden ist. Als Gäste, Minderheiten und Flüchtlinge in anderen Völkern waren sie für deren nationale Überlebensfähigkeit nie allein zuständig. Im zionistischen Staat aber fällt die Verantwortung für ihre politischen Künste allein auf sie zurück.

Zwar sind sie eifrig dabei, die Mängel ihrer eigenen Friedlosigkeit der bösen Welt in die Schuhe zu schieben, nach dem Motto: der Beste könne nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. Allein, die Angst geht um in Israel, dass das zionistische Projekt im Ganzen gefährdet sein könnte. Gerade unter den Säkularen wächst der Pessimismus und viele Jugendliche fliehen in andere Länder.

Ähnliche Auflösungserscheinungen des Judentums in Amerika beschreibt Hannes Stein in der WELT:

„58 Prozent der amerikanischen Juden gehen heute Mischehen mit Nichtjuden ein; ein Fünftel der amerikanischen Juden bekennt, dass sie sich durch keinerlei Religion mehr gebunden fühlen; die Geburtenrate liegt mit 1,9 Kindern pro Frau deutlich unter dem nationalen Durchschnitt. Bei vielen dieser Kinder muss man als unwahrscheinlich ansehen, dass sie jemals eine jüdische Erziehung genießen werden. Edward Feinstein, ein führender konservativer Rabbi, nahm kürzlich kein Blatt vor den Mund, als er sagte: «Unser Haus brennt … Wir haben vielleicht noch zehn Jahre. In den nächsten zehn Jahren werden wir einen rapiden Kollaps von Synagogengemeinschaften und der Organisationen erleben, die sie unterstützen.»“

Müssten säkulare Juden diese Assimilation nicht als erfreulichen Fortschritt eines Gemeinwesens betrachten, das sich nicht länger durch Ausschließung definieren muss? Demokratien sind ohne Gleichheit nicht zu denken. Gleichheit ist keine platte Uniformität, aber auch keine Hierarchie exklusiver Schichten.

Müsste eine Menschheit, die sich dem „Ewigen Frieden“ verpflichtet fühlt, nicht aus Menschen bestehen? Und nicht aus Rassen, Religionen und sonstigen schwarz-weißen Abgrenzungsmethoden? Wozu brauchen wir noch Deutsche, Franzosen, Engländer, Israelis, Weiße oder Christen, die sich in der Geschichte ihren Nachbarn stets überlegen und berechtigt fühlten, jene zu unterwerfen oder gar auszurotten?

Die Zeiten exklusiver Nationenbildungen müssen vorüber gehen, wenn wir uns als gleichberechtigte Brüder und Schwestern in die Arme schließen wollen. Amerikas Mischtopf könnte noch immer ein Vorbild sein – auch wenn in Amerika die Zäune und Mauern der gated communities immer unüberwindbarer werden.

In einem NZZ-Artikel über Israel werden die Ultras als intolerante Meisterideologen der Exklusion geschildert. „Säkulare und moderat Religiöse fühlen sich ihrerseits von den Haredim bedroht, weil Fanatiker immer wieder Versuche unternehmen, andern ihren Lebensstil aufzuzwingen – etwa, indem sie gegen «unzüchtig» gekleidete Frauen ausfällig werden.“

Der Kern aller monotheistischen Moralen ist keinem Frieden verpflichtet, sondern dem Kampf um Sein oder Nichtsein mit allen Mitteln. Versöhnung und Liebe gelten nur Gott und den eigenen GlaubensgenossInnen. Wenn‘s hart auf hart kommt, ist alles erlaubt: „Wenn Leben in Gefahr ist, treten alle Gesetze der Tora ausser Kraft“, meint ein Rabbiner. Christliche Theologen kennen das Gesetz göttlicher Amoral und sprechen von Antinomismus.

Israel ist ein junger Staat, der sich von feindlichen Nachbarn umzingelt fühlt. Krisenphänomene treten hier schärfer zutage als in den anderen religiösen Demokratien.

Erlöserreligionen berufen sich auf ihren Glauben an ein Unsichtbares, um von den sichtbaren Machtgelüsten ihrer Priester und Propheten abzulenken. Unter dem Deckmantel karitativer Fürsorglichkeit dominieren deutsche Kirchen als größte Arbeitergeberverbände den ganzen Sektor der Diakonie, Kitas und vieler privater Schulen. In diesen Einrichtungen wird das Gegenteil von Demokratie gelehrt.

Je mächtiger der Klerus, je bedrohter das gleiche und freie Gemeinwesen. Erlösungsreligionen gefährden den Bestand der Demokratien, in denen die Würde des Menschen unantastbar sein soll. Wie kann ein überzeugter Demokrat gläubiges Mitglied der Vatikankirche sein, die das größte totalitäre Gebilde der Welt darstellt? Die Sirenengesänge der Gläubigen klängen überzeugender, wenn sie ihre himmlische Moral unabhängig von Machtinstitutionen zeigen würden, die über Heil oder Verdammnis ihrer Seelen bestimmen können.

Abie Nathan war ein Friedensstifter der extraordinären Art. Ohne Religion versuchte er, sein Land Israel mit dessen Nachbarn zu versöhnen:

„Er beschämte Israel. Er stellte Fragen, die bis heute unbeantwortet sind“, sagt der Schriftsteller Gideon Levy. Eine „Stimme der Vernunft“ nennt ihn der ehemalige DJ Don Stevens. „Er gab ein persönliches Beispiel und ging voran, allein“, erinnert sich Uri Avnery. „Vernünftig und sehr, sehr weise“ nennt ihn Yoko Ono. Ein Poet, der seine Träume in Realität umgesetzt hat, meint Georg Stefan Troller. „Im Nachhinein“, sagt Daniel Barenboim, „fragt man sich: Wieso hat nur er daran gedacht? Daran, dass die Menschen im Nahen Osten aufeinander zugehen, miteinander reden, sich als Nachbarn akzeptieren und dem Gegenüber dieselben Rechte zugestehen müssen wie sich selbst.“

Will die Menschheit sich weiterentwickeln, muss sie nationale Ausschließungen im Namen intoleranter Religionen – ausschließen. Wir benötigen keine Erlösungsmonopole, bevorzugte Rassen, überlegene Geschlechter und wirtschaftlich gesteuerte Ungleichheiten.

Erst wenn der Mensch sich in jedem Menschen erkennt, haben wir das Prinzip der Polis verstanden.