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… zum Logos XLIII,

Tagesmail vom 11.03.2022

… zum Logos XLIII,

Dobrij den, Wladimir, mein Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Dafür kann man dich den ganzen Tag in den Medien bewundern. Wie schaffst du das nur?

Sei gegrüßt, Gerhard, mein deutscher Freund. Du gehörst zu den Wenigen, die mir die Treue bewahrt haben – gerade in der Not. Offenbar haben die Deutschen ihre eigenen Traditionen vergessen. Hörst du?
Im Hintergrund hört man die Comedian Harmonists singen:

Ein Freund, ein guter Freund,
Das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.
Ein Freund bleibt immer Freund
Und wenn die ganze Welt zusammenfällt
.

Ich muss dir Recht geben, Wladimir, für die Deutschen existieren nur noch Hollywood-Attrappen wie Elon Musk und Bill Gates. Ihre wahren Freunde wie das russische Volk, das ihre Verbrechen so großmütig vergeben hat, zählen nicht mehr.

Dobro, dobro, Gerhard, du scheinst noch zu wissen, was dein germanischer Vorname bedeutet: starker Speer. Doch kommen wir zur Sache. Du kannst dir vorstellen, wie mich zurzeit die ganze Welt sprechen will. Und wofür? Für meinen ehrlichen Kampf um Dinge, den die Welt bewundert, aber aus Feigheit und demokratischer Anpassung nicht zeigen darf.

Du meinst, für eine Welt der Starken und Aufrechten, der männlichen Treue und Kameradschaft? Dann scheinst auch du noch ernst zu nehmen, was dein Vorname bedeutet: Macht und Frieden. Wir beide wissen, dass die verweichlichte Moderne nur Frieden will, die nötige Macht dazu aber hochmoralisch ablehnt. Dann darf sie sich nicht wundern, wenn ein Mann wie du sich zur Macht bekennt, um den wahren Frieden zu erkämpfen. Selten habe ich in meinem Leben einen ehrlicheren und intelligenteren Mann kennengelernt – als dich, Wladimir.

Liege ich richtig, dass du jetzt ein Angebot von mir erwartest, mit dem du deine Deutschen beschwichtigen kannst, um vom Kreuz des hässlichsten Deutschen wieder abzusteigen?

Richtig, wie immer denkst du voraus und hast mir schon ein akzeptables Paket geschnürt.

Okay, ich kann mir nicht vorstellen, dass du von mir verlangst, von meinem Weg der Rettung der Menschheit abzuweichen?

Um Gottes Willen, dann wärst du ja ein tatsächlicher Verderber der Menschheit. Nein, wir brauchen ein Angebot, das dem wahren Kurs zum Verwechseln ähnlich ist, aber langfristig ganz was anderes bedeutet.

Ich biete dir an, die Kämpfe um Kiew sofort zu unterbrechen, um Friedensverhandlungen zu ermöglichen. Sollten wir uns einigen, ist der Krieg – der gar keiner ist – sofort beendet. Dann wirst du von deinen Deutschen vom Kreuz geholt, um deine Wiederauferstehung zu erleben. Das passt wunderbar zum bevorstehenden Frühling: Karfreitag und Ostern stehen vor der Tür.

Sollte das Ganze länger dauern, als deine Wohlstandsbubis warten können, solltest du ihnen – in echt christlichem Sinn – zuraunen: Geduld, ihr Degenerierten. Noch nie vom Verzug der Parusie gehört? Die Kirchen werden es dir nie vergessen und dich, nach deiner Nachfolgerin, der heiligen Madonna, zum messianischen SPD-Heros erheben. Ach so, beinahe vergessen, auch deine liebe Frau wird in Zukunft auf Händen getragen werden für ihren unbeirrbaren Glauben:

„Schröders Ehefrau Soyeon Schröder-Kim postete auf ihrer Instagram-Seite am Abend ein Foto von sich mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen, auf dem im Hintergrund die Basilius-Kathedrale am Roten Platz in Moskau zu sehen ist. Einen Kommentar schrieb sie zu diesem Bild nicht.“

Der weitere Verlauf des schicksalhaften Gesprächs wurde nicht bekannt. Freunde der Menschheit, warten wir und beten. Hat Bruder Gerhard tatsächlich die Chance, zum Friedensbringer Deutschlands, ja der ganzen Welt, zu werden? Was aber, wenn er (wir wollen es nicht hoffen) mit leeren Händen zurückkehrt? Wie wird die Welt es verkraften, schon wieder einen deutschen Messias an der Realität scheitern zu sehen?

Dann kann er Parteibuch und die Gemeinschaft mit seiner Ehefrau für immer abschreiben. Sein Gesicht wird sich furchterregender verzerren als das seiner Nachfolgerin, als die Vögel eines Tiergartens sie als eine der Hauptschuldigen der Naturverwüstung erkannt und ihr Gesicht zur Entgleisung gebracht haben.

Schnell hinweg von dieser alptraumartigen, neuen Ausgabe der Grimms Märchen und in die Arme der tröstlichen Realität – der deutschen Schule – geflüchtet. Hier werden die wirklichen Weichen für die Zukunft gestellt.

„Schulen müssen Lernrückstände abfedern, aber auch die psychosozialen Folgen der Krise auffangen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder überhaupt lernen können.“  (SPIEGEL.de)

Das sind Metaphern, die wir in reelles Deutsch übersetzen müssen. Lernrückstände der Kinder werden zu Lernblockierungen der Erwachsenen, was ihre Fähigkeiten betrifft, die Überlebenschancen der Menschheit im letzten Augenblick zu sichern. Um welche Fähigkeiten handelt es sich?

„Eine Lehrkraft schließt in der Grundschule in Mathematik ein spezielles Thema ab, etwa die Addition. Sie stellt fest, dass in der Klasse fünf Kinder nicht in der Lage sind, diese Aufgaben zu lösen. Diese Kinder haben die Addition als mathematisches Konzept noch nicht hinreichend verinnerlicht. Aber was wird nun oft gemacht? Es wird weitergemacht. Als Nächstes wird die Multiplikation eingeführt, aber die fünf Kinder, die das Konzept der Addition noch nicht verstanden haben, werden auch die Multiplikation nicht verstehen. So können sich Lernrückstände kumulieren. Neben der Dokumentation braucht es eine differenzierte Diagnose, welche Lernschwierigkeiten die einzelnen Schüler haben und welche passgenauen Förderangebote sie benötigen.“ (SPIEGEL.de)

Mit diesen glasklaren Erkenntnissen müssten sich jetzt die Folgeerscheinungen der Rückstände bei Erwachsenen ermitteln lassen. Nehmen wir die Politiker und untersuchen ihre fremd- oder selbstverschuldeten Rückstände.

Die einstige Kanzlerin konnte nicht nur exzellent addieren und multiplizieren, jedes Gutachten konnte sie in Nullkommanichts rekapitulieren und Andersdenkende mit exakten Tatsachen niederbügeln.

Das verschaffte ihr so viel Respekt und Bewunderung – vor allem bei medialen Ist-Schreibern, ihren Wahlverwandten –, dass kritische Nachfragen nach ihrer politischen Kompetenz ausblieben. Diese hätte darin bestanden, das leblose Ist in ein quicklebendiges Sollen zu verwandeln.

War sie aber auch fähig, die Zahlen und Gebilde in Politik umzuwandeln, ja, das Ungute mit humaner Politik zu korrigieren? Nicht im Geringsten. Nicht nur konnte sie es nicht, sie lehnte eine solche Politik als Vergewaltigung des Seins ab – ganz nach ihrem DDR-Verständnis der Wirklichkeit, wonach das Bewusstsein sich vom Sein dominieren lassen muss.

Mit anderen Worten: Gedanken und Absichten der Menschen spielen keine Rolle beim Verändern des Seins, das sich nur durch sich selbst verändern lässt. Menschen sind nur mechanische Nachahmungen einer Wirklichkeit, die niemals anfragt, ob andere sie für gut empfinden oder nicht.

Marx war Schüler Descartes, der Menschen als Maschinen der Natur definierte. Gedanken und Absichten der Revolutionäre waren so belanglos für die Veränderung des Seins, wie das Tirillieren der Vögel für die Entstehung der Tornados. Der Mensch wurde erst dann frei, wenn seine Freiheit nichts mehr zu verändern fand. Das war eine gewaltige Tat zur Veränderung des Menschengeschlechts, das selber nichts verändern konnte, solange es revolutionär in Wallung war.

Das neue Opium des Volkes, welches das religiöse ersetzte, verlieh der Unfähigkeit des Menschen die Illusion, alles verändern zu können. Das schlechte Sein blieb eiskalt das alte und menschenunwürdige, solange das Bewusstsein sich einbilden durfte, alles nach Belieben drehen und wenden zu können. Diese verkehrte Welt des areligiösen Marx war die prägende Ideologie der Pastorentochter.

Ähnlichkeiten liegen auf der Hand. Nichts kann, nach Auskunft der Gottesexperten, in der Welt verändert werden, solange es von Gott nicht selbst verändert wird. Gott entspricht dem Sein, welches das Bewusstsein des Menschen im Griff hat. Dem entspricht der Grundsatz der lutherischen Politik: der Mensch ist unfähig, eine humane Politik zu entwickeln. Er soll es erst gar nicht probieren. Denn: die Welt ist der Veränderung unwürdig und unfähig:

„Das totale Fremdsein in der Welt setzte eine andere Heimat voraus, und so wird die Rede vom Christen als Himmelsbürger zu einem beständig wiederkehrenden Topos. „Unsere Heimat ist im Himmel“, verkündet Paulus. Zwar gehört Gott die Welt, die Dinge der Welt aber gehören dem Teufel. „Liebet nicht die Welt noch das, was in der Welt ist“, heißt es im Johannesbrief. Der Staat war die große Hure. Je früher die große Hure verging, desto schneller ging es mit der Welt zu Ende und man betrat das einzig wahre Vaterland, den Himmel.“ (Manfred Clauss, Ein neuer Gott für die alte Welt)

Solche Glaubensvoraussetzungen unterminieren alle politischen Versuche, aus der verkehrten Welt eine gute zu machen. Belastet mit solchen lutherisch-marxistischen Voraussetzungen, konnte ein Pastorenkind unter keinen Umständen eine menschenwürdige Politik gestalten.

Im Endzeugnis stand also im Fach „Politik“: durchgefallen, völlig inkompetent – natürlich nicht. Aber nur deswegen, weil Menschen zur selbstbestimmten Politik generell unfähig seien, zudem aus Rücksicht auf die Eltern, die – trotz ihres Glaubens – den Sozialismus noch immer für besser hielten als den Kapitalismus Adenauers.

In Deutsch bevorzugte die Musterschülerin eine philosophisch bedeutungslose unterkomplexe Simplicius-Sprache: ich habe getan, was ich tun konnte. Ich nahm die Menschen mit und habe niemanden überfordert.

Mit anderen Worten: sie ließ alles, wie es ist und überließ die Wirklichkeit ihrem von Oben verordneten Verfaulungsprozess. Dass Deutschland fast in jeder Hinsicht ein reformbedürftiger Staat ist (an Haupt und Gliedern), ist das Verdienst einer seins- und gotthörigen Kanzlerin. Theistische und marxistische Defekte vereinigten sich bei ihr zur demokratiefeindlichen Demokratie.

Was erfolgreich von selbst funktionierte, wurde lediglich überwacht, damit es auch weiterhin funktioniere. Was nicht lief, wurde seinem Verfaulungsprozess überlassen. Das Debakel kommt jetzt erst in der Krise zum Durchbruch und beginnt nun, die fromme Hypnose der Bevölkerung zu beenden. Von Tag zu Tag wird das Erwachen ungemütlicher und beängstigender.

Im augustinischen Sinn wurde der Lauf der Welt nicht verbessert, sondern in seinem Verfaulungsprozess lediglich verwaltet. Was von Gott zum Unheil bestimmt ist, kann nur noch notdürftig verwaltet werden. Im Jüngsten Gericht wird Angela ihrem himmlischen Vater melden können: wie befohlen, habe ich die Welt in ihrem Verelendungsprozess nur verwaltet: zum bitteren Ende für die Gottlosen und zum seligen Ende für die Auserwählten.

In deutschen Schulen wird nichts Wesentliches gelernt. Weder in politischer noch in bildungsmäßiger Hinsicht. Echte Bildung muss geradezu verhindert werden, denn sie stört den Unterordnungsprozess der Neulinge unter eine Gesamtmaschinerie. Wahre Bildung würde unangenehme Fragen stellen und vor harter Kritik nicht zurückschrecken.

Ist schon jemandem aufgefallen, dass SchülerInnen am wenigsten danach gefragt werden, wie sie ihre desolate Bildungssituation empfinden und wie ihre eigenen Änderungswünsche aussähen?

Schule wird nur von Außen untersucht und bewertet. Selbsternannte Fachleute wie Bildungsökonomen, Einser-Abiturienten und sonstige Opfer des Drillprozesses stellen Fragen wie die:

„Wir müssen zum Beispiel klären, was Gerechtigkeit im Bildungssystem heißt. Bedeutet gerecht, dass die Leistungsunterschiede von Kindern aus privilegierten und nicht privilegierten Familien in zehn Jahren verschwunden oder kleiner sein müssen.“

Sie müssten Gerechtigkeit im Bildungssystem klären– klären aber nichts. Veränderungen im System kann es nicht geben. Denn:

„Das hat keinen großen Zuspruch gefunden, unter anderem mit dem Argument, eine Veränderung von Lehrplänen dauere Jahre.“

Also bleibt alles liegen, verfault und verrottet, weil eine Veränderung zu lange dauern würde. Und wenn sie nicht gestorben sind, verrotten sie in 100 Jahren noch immer – wenn es sie bis dahin noch gibt.

Eine deutsche Wundermethode, um dem Elend zu entgehen, ist: das Elend immer elender werden zu lassen. Was verfault, muss immerhin noch existieren, damit es weiter verfaulen kann. Das Nichts wird bekämpft – mit einem nichtigeren Nichts. Erst der totale Untergang wird die Deutschen von ihren nichtigen Triumphzwängen überzeugen können.

Wenn nur die Fleißigen und Angepassten den Zieleinlauf schaffen und die Versager auf der Strecke bleiben – wo ist dann das Problem? Die Schule wird zum Plagiat des Kapitalismus, wo es ebenfalls nur Sieger und Verlierer geben kann. Ca c`est la vie. Sollte der Kapitalismus etwa so dumm sein, in seinen Schulen rebellische und kritische DenkerInnen heranzuziehen, die ihm das Licht ausblasen könnten? Dann gäbe es ihn schon lange nicht mehr.

Die deutsche Starrheit zeigt sich auch in der Schule. Weil so vieles verändert werden müsste, lässt man alles unverändert. Bringt ja doch nichts. Fachleute sprechen von Nihilismus, der Sehnsucht nach dem Nichts, weil man das immer schlechter werdende Etwas nicht erträgt. Der Nihilismus Nietzsches gehörte zum Grundelement der NS-Ideologie: alles oder nichts. Los, spielen wir:

„Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an, für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere gesamte Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

Ist Nietzsches Empfinden noch realistisch? Immerhin verloren die Risikospieler fast alles, um alles aus den Siegerländern zu importieren: ein neues Lebensgefühl, einen grenzenlosen Optimismus, der gar nicht mehr definieren kann, was er optimistisch erwartet.

So ergab sich eine gärende Melange aus uraltem Nihilismus, den man nicht im Geringsten überwunden hat – und einem Optimismus, der das Bessere nicht mal definieren kann, außer durch den Satz: schauen wir nach vorne, hinter uns lässt Gott Feuer und Schwefel auf Sodom fallen. Dann sind hoffentlich längst tot. Lasst die Toten die Toten begraben.

Das Revier der Humanität wird an allen Ecken und Enden verlassen und verraten:

„In ihren Ausführungen nennt Wagenknecht den von Wladimir Putin befohlenen Angriff völkerrechtswidrig und verurteilt das Blutvergießen. Doch dabei bleibt es nicht. Rasch spannt sie den Bogen zu möglichen »Planspielen« des Westens, Russland in eine größere militärische Konfrontation zu treiben. Sie warnt davor, dass sich US-Präsident Joe Biden und andere Nato-Partner als »die Guten inszenieren« würden, und mahnt, weiterhin alles kritisch zu hinterfragen, was geschehe. Russland agiere nur deshalb »auch wieder wie eine Großmacht«, weil die USA sich in den vergangenen 30 Jahren großmächtig gebare. „Seit vielen Jahren stehen Wagenknecht und einige ihrer Verbündeten in der Linken-Bundestagsfraktion für einen extrem russlandfreundlichen Kurs, seit vielen Jahren gibt es Streit darum, ob die Partei bei aller gewünschten Pluralität Stimmen wie die von Wagenknecht noch aushält.“ (SPIEGEL.de)

Ab wann idealisiere ich das fremde Böse, wenn ich mich freundlich gebe und mir erlaube, die eigene Welt kritisch zu betrachten? Ist Humanität nicht die allseitige Erkenntnis alles Guten und Bösen – bei anderen und bei sich selbst?

Extrem russenfreundlich ist nicht mehr freundlich, sondern unterstützt das fremde Böse? Offenbar darf es Im realen Kampf keine Kritik beider Seiten geben, sondern nur blinde Parteinahme für die eigene und eine giftig-verblendete für die andere?

Wann beginnt die europäische Epoche der Humanität? Mit dem Spruch: erkenne dich selbst. Nur wer sich selbst vorbehaltlos durchschaut hat, kann auch die Welt vorbehaltlos durchschauen:

„Das berühmte: Erkenne dich selbst, das am Tempel in Delphi stand, forderte den Menschen auf, sich der Kleinheit, Schwäche und Flüchtigkeit seines Wesens – im Gegensatz zur Größe, Macht und Ewigkeit des Gottes bewusst zu werden.“

Am Anfang ging es darum, durch Selbstkritik die Nichtigkeit des Menschen zu erkennen, im Gegensatz zu übermächtigen Göttern. Aus der Fähigkeit zur Selbstkritik erwuchs die Kompetenz, die humanen Qualitäten des Menschen zu erkennen, um sie in Politik zu übersetzen. Oder etwa in medizinische Heilungsprozesse, wenn ich meine seelisch-körperlichen Vorzüge und Defekte vorbehaltlos erkenne. Jenes führte zur Geburt der Demokratie und der praktischen Philosophie, dieses zur Erfindung der hippokratischen Medizin.

„Nicht durch übernatürliche Wunderberichte wurde der Kranke geheilt, sondern durch sachverständige Behandlung.“

Selbsterkenntnis und Selbstkritik wurden zur Grundlage aller humanen Politik. Und das bereits im uralten China:

„Oft klagt sich der Kaiser in Peking selbst wegen der Fehler an, die er begangen hat. Die Mandarine waren die Zensoren des Kaisers, nicht absetzbar und sehr gefürchtet. Sie haben das Recht, dem Kaiser Vorstellungen zu machen und ihn zu tadeln.“ (Hegel in seiner Philosophie der Geschichte)

Obwohl wir eine Demokratie haben, die das alte Kaisertum in China in Kritik und Gegenkritik übertreffen sollte, haben wir jenes Niveau nicht mal in Ansätzen erreicht. Verschwommene Begriffe, rhetorische Kniffe, anonyme Politspiele entschärfen jede Kritik in Brei. Bewundert werden rednerische Finten und Versteckspiele, damit echte Dialoge unmöglich werden.

In Deutschland gibt es keine Selbstkritik, schon gar nicht, weil dadurch die Gefahr bestünde, die Schuld Putins zu entschärfen. Hier eine amerikanische  Selbstkritik, justament von einem Ökonomen, dem damals vorgeworfen wurde, das Russland Gorbatschows in eine wirtschaftlichen Wüste verwandelt zu haben und den verbliebenen Reichtum des Landes den neuen Oligarchen in die Hände gespült zu haben.

„Henry Kissinger hat 2014 etwas Interessantes geschrieben: Für den Westen ist die Dämonisierung von Putin keine Politik, sondern ein Alibi für die Abwesenheit von Politik. Zu sagen, dass Putin in der Vergangenheit lebt und von einem russischen Imperium träumt, sagt sich leicht, weil wir nicht mit ihm gesprochen haben. Das sowjetische System war ein furchtbarer Irrweg, ökonomisch, sozial, moralisch. Michael Gorbatschow hat das nicht nur erkannt, sondern war entschlossen, das System zu ändern. Dafür gebührt ihm ewiger Dank. Gorbatschow unterstützte die politische Öffnung und auch die deutsche Wiedervereinigung. Aber wir im Westen hatten nicht die nötige Großmut, diese historische Chance zu ergreifen. Russland hatte den Wettstreit der Systeme verloren. Wir hätten das Land dafür nicht mit Verunglimpfung strafen dürfen, und uns fehlte die Weisheit, um langfristig zu planen. Die Bush-Regierung lehnte selbst die grundlegendsten Maßnahmen ab, etwa die Einstellung von Schuldenzahlungen. Alle sagten: Das ist Russlands Problem, wir kassieren jetzt unsere Friedensdividende. Hardlinern wie Dick Cheney und Paul Wolfowitz kam die russische Schwäche gerade recht. Sie wussten, dass die USA die einmalige Gelegenheit erhielten, ihren Einfluss im Nahen Osten auszubauen. Gorbatschows Vision eines gemeinsamen europäischen Zuhauses wurde davongespült, und die Reformbemühungen scheiterten am Zusammenbruch der Wirtschaft. Sie haben 1993 das Handtuch als Wirtschaftsberater geworfen. Warum? Sachs: Weil ich tagtäglich erlebte, dass der Westen nicht bereit war, Russland zu helfen. Was hätte ich machen sollen? Zugleich wurde die Korruption in Russland immer schlimmer. Statt zu helfen, träumte der Westen davon, die einzige Supermacht zu werden. Das außenpolitische Establishment der USA ist arrogant. Das bedeutet nicht, dass Amerika diese Krisen auslöst. Aber die amerikanische Außenpolitik war unklug. Unsere gescheiterte Politik trug zur Krise in Afghanistan und im Irak bei, jetzt trägt sie zu dieser Krise mitten in Europa bei. Nun müssen wir umsteuern. Für eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft gibt es keinen Grund, außer wir wollen einen Atomkrieg riskieren. Wir müssen verhandeln.“ (SPIEGEL.de)

Der Westen ist zur bigotten und selbstgerechten Weltmacht verkommen, ohne jede Vorbildlichkeit, um andere Länder zu überzeugen. Putins Biographie zeigt viele Ähnlichkeiten mit der eines Trump. Er fühlt sich nur radikaler und ehrlicher, weil er Konsequenzen zog und mit seiner Macht der Welt zeigte, wozu er fähig ist.

Selbst wenn er seine Niederlage bald einräumen müsste, stünde der Westen noch immer vor demselben Problem: Jede Macht, die zur Kritik und Selbstkritik unfähig ist, verhindert den leisesten Anhauch einer politischen Humanität.

Fortsetzung folgt.