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… zum Logos XLII

Tagesmail vom 09.03.2022

… zum Logos XLII,

Sag mir wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Blumen sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind.
Wann wird man je verstehen,
wann wird man je verstehen?

Sag mir wo die Mädchen sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Mädchen sind,
Männer nahmen sie geschwind.
Wann wird man je verstehen?

Sag mir wo die Männer sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Männer sind,
zogen fort, der Krieg beginnt.

Sag wo die Soldaten sind,
was ist geschehen?
Sag wo die Soldaten sind,
über Gräben weht der Wind.

Sag mir wo die Gräber sind,
was ist geschehen?

Haben wir verstanden? Wissen wir, was geschehen ist, wenn wieder neue Kriegsgräber in Europa ausgehoben werden?

Betrieben wir eine friedensfähige Politik – und was wäre ein solche? Oder haben wir den Topf solange sieden lassen, bis er kurz vor der Detonation steht und nun keine Zeit mehr ist für säuselnde Sirenenklänge?

In Friedenszeiten müssen wir doch nicht über Frieden nachdenken, wenn er ohnehin die Zeit prägt? Also warten wir, bis die Katastrophe direkt vor der Tür steht! Doch dann dürfte es zu spät sein und wir stürzen uns wieder tatenhungrig ins Getümmel. Die Vorsehung hat es nicht anders gewollt.

Ist Krieg ein Gewächs des Friedens, das unterirdisch heranwuchs und plötzlich in die Realität einbricht? Gibt es Ursachen des Krieges, die wir in ihrem Entstehen wahrnehmen, verstehen und bewerten müssten, um sie nach Möglichkeit für immer zu verhindern – oder begnügen wir uns mit religiösen Gut-Böse-Kategorien? Dieser Putin ist ein betonierter Bösewicht, unbelehrbar und unerklärbar wie die Erbsünde. Man kann ihn nur wortlos ausrotten.

Hier beginnt bereits die Liste der Unfriedens-Ursachen. Das Böse ist bereits die erste Kriegserklärung eines „Schöpfers“ an seine einst sehr gute, dann plötzlich ins Miserable umgekippte Schöpfung.

Gewiss, die Hauptverantwortliche für alles muss natürlich ein Weib sein. Solchen Unsinn überlassen wir dem unbeweibten Herrn der Welt, der aus Eifersucht nicht mehr aus den Augen schauen konnte. Nicht mal zur späteren Zeugung seines Sohns konnte er sich antike Götter zum Vorbild nehmen, die sich in lüsterne Tiere und Tiermenschen verwandelten, um ihre Brunstqualitäten vor Ort zu beweisen.

Bekennen wir uns frank und frei zur heidnischen Vernunft und sagen: Nichts ohne Ursache. Zwar ist der Mensch seinen Triebregungen untertan, aber nicht so komplett, wie Deterministen (und marxistische Materialisten) deklarieren.

Noch gibt es den Geist, der, trotz aller Naturprägung, Bestimmer seiner irrationalen Regungen und Instinkte ist. Kein Geist Gottes, sondern die von der Natur geschenkte Lenkungsinstanz des autonomen Menschen.

Es gibt keine bösen Menschen, bei denen keine Ursachen des Böseseins zu finden wären. Stalin, Hitler, Breivik und sonstige Monstren: sie alle sind nicht böse zur Welt gekommen, sondern durch den Einfluss ihrer Umgebung böse gemacht worden.

Diese Ursachen müssen verstanden und nach Möglichkeit beseitigt werden, damit andere Monstren möglichst vermieden werden.

Hier erkennen wir bereits die erste und wichtigste Grundforderung jedes Friedens. Friedenspolitik muss alle Ursachen des Unfriedens zwischen den Menschen peu à peu zu beseitigen suchen.

Jeder Zeitgenosse, der an den bösen Menschen glaubt und versucht, dessen Bosheit durch Zwangsbeglückung zu beseitigen, dem muss bescheinigt werden, dass er Politik als selbsterfüllende Prophezeiung exekutiert. Woran man glaubt, tut man.

Das Endziel aller Friedenspolitik ist die globale Feier des Menschen in Frieden mit der Natur. Das ist die Utopie jedes friede-schaffenden Menschen, der Gewalt zur Erreichung seines Ziels ablehnt.

Seine Methoden sind: Argumente, Dialoge, logische Schlüssigkeit, demokratische Meinungsprozesse bis zu Mehrheitsabstimmungen, Fachkenntnisse und „werte-basierte“ Bewertungen.

Werte-basiert ist eine Ersatzformel für moralisches Beurteilungsvermögen. Da der Begriff Moral heute anrüchig geworden ist, muss er ersetzt werden durch einen technisch klingenden, quantitativen Präzisionsbegriff.

Eine Gesellschaft ohne rationales Vertrauen in den moralisch lernfähigen homo sapiens, den „weisen“ Menschen, ist zum Untergang verurteilt. Nur der utopische Mensch ist ein rationaler Mensch. Die Friedensfähigkeit beginnt im philosophischen Kopf jedes Einzelnen.

Kein Mensch ist von Natur aus böse, auch Putin nicht. Was ihn zu seinen mörderischen Taten trieb, lässt sich von außen nur ahnen. Nur wer die Möglichkeit hätte, seine gesamte Biographie aufzurollen, der könnte begründete Hypothesen über seine Motivationen entwickeln.

Psychoanalyse ist keine Naturwissenschaft, denn kein menschlicher Geist ist ein mechanisch determinierter Akteur. Insofern er geprägt wurde von seinem Innenleben, das von seiner Umwelt geprägt wurde, können psychische Quasigesetze durchaus zur Introspektion benutzt werden.

Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Denn je weniger ein Mensch sich kennt und seine Triebregungen beherrscht, umso determinierter verbleibt er seiner äußeren Prägung.

Allerdings gilt auch, je mehr ein Mensch sich durch sein rationales Denkvermögen lenken lässt, umso „berechenbarer“ wird er. Denn weise Menschen, die ihre Ratio am meisten entwickeln konnten, sind am allerwenigsten sprunghaft. Sie reden, um mit Sokrates zu sprechen, immer das Gleiche. Etwas Besseres kennen sie nicht.

Ihre „Berechenbarkeit“ ist moralisch-politische Zuverlässigkeit. Nur deutsche Gegenaufklärer, die Vernunft hassten, waren vernarrt in irritierende Sprunghaftigkeit, die sie als Zeichen ihres Genies betrachteten.

Das kann man noch heute bei deutschen Journalisten erkennen, die ihre Genialität in ihrem Hass gegen alle rationale Moral sehen wollen.

So war es beim Begründer der deutschen Gegenaufklärung, dem frommen Georg Hamann aus Königsberg:

„Der Mensch ist nicht zum Vernünfteln geboren, sondern um zu essen, zu trinken und zu zeugen, um zu lieben und zu hassen, zu leiden und zu opfern und Gott zu dienen. Aber davon weiß man in Paris, der Hochburg der Aufklärer, nichts, wo das monströse cogito (ich denke) das erhabene sum (ich bin) verdunkelt hat.“

Auch im heutigen Deutschland weiß kaum einer etwas über Aufklärung, geschweige über Gegenaufklärung. Weshalb der Hauptstrom der nachkantischen deutschen Entwicklung ein Siegeszug der deutschen Genialität ist, sprich, der deutschen Gefühlsbesoffenheit, die sich jeder rationalen Selbstbesinnung entzieht.

Die Deutschen verabscheuten den französischen Determinismus, die Reduktion des Menschen auf den l`homme machine. Wie so oft war ihr Protest anfänglich berechtigt, denn die erste Welle der französischen Aufklärung reduzierte den Menschen weithin auf ein berechenbares Maschinenwesen. Das spontane Leben des Geistes drohte verloren zu gehen.

Der geistige Neubeginn der Deutschen mit der Sturm- und Drangbewegung hatte die Nase voll von absolutistischen Befehlsattitüden und befreite sich mit Ungestüm von neuen Autoritäten, die als Herrscher der Maschinen auftraten. Doch wieder einmal schütteten sie das Kind mit dem Bade aus.

So entstand ihr Hass gegen die Vernunft, die angeblich keine Gefühle duldete. Die Deutschen versanken in neuen Gefühlswelten, unter denen sie antirationale Eruptionen verstanden.

Noch heute gehört es zum Zeitgeist der Wirtschaftsgläubigen, Vernunft und Emotionen auseinander zu reißen.

Doch Vernunft ist alles andere als Widersacherin der Gefühle. Nichts, was den Menschen auszeichnet, muss von der Vernunft als böse verabscheut werden. Auch Gefühle haben ihre spezifischen Erkenntnismöglichkeiten, die allerdings von der Vernunft ebenso überprüft werden wie umgekehrt. Auch Emotionen haben die Pflicht, die „kalten Erkenntnisse“ auf ihre Plausibilität zu überprüfen.

Man lese nur die Erfahrungsberichte großer Physiker, die einer neuen Erkenntnis nicht allein mit kalter Vernunft begegneten, sondern mit der geballten Intuition, der Harmonisierung ihrer emotional-rationalen Erkenntnisinstanzen. Vernunft ist die Koordination aller Instanzen des Menschen, die sich der Erkenntnis widmen.

Wie reagieren die Deutschen auf das Böse schrecklicher Übeltaten? Sie können sich gar nicht genug übertreffen mit „scharfen Verurteilungen“ und sonstigen Gefühlen des Abscheus. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich vor dem geringsten Verdacht hüten müssen, wie verharmlosende Versteher des Bösen zu wirken. Durch Hassgefühle gegen das Böse wird der Kampf gegen das Unrecht partout nicht gewonnen.

Der Grund ist klar, vor Jahrzehnten waren sie Menschheitsverbrecher ohne das geringste Schuldgefühl. Im Gegenteil. Wer moralische Skrupel bei Verbrechen zeigte, entlarvte sich als Volksverräter.

Verstehen wurde zur weichlichen Billigung des Bösen. Dabeí ist es umgekehrt. Nur wer die Tat in all ihren Facetten durchschaut hat, kann sie mit aller Schärfe des Gesetzes und der Moral verurteilen.

Warum gibt es Gerichtspsychiater zur adäquaten Beurteilung von Straftätern, wenn nicht zur Enthüllung und Einordnung aller biographischen Elemente? Richter urteilen nur sachgemäß, wenn sie das Verstehen des Täters mit sachgemäßer Verurteilung verbinden können.

Stets lauert in den Deutschen das Virus der theologischen Verdammung. Was nicht gut ist, muss der Hölle entsprungen sein.

Tatsächlich werfen sie „Populisten“ am liebsten vor, die Wirklichkeit dualistisch zu trennen: in gut oder schlecht, in weiß oder schwarz.

Einerseits wäre der Vorwurf berechtigt, wenn er nicht benutzt würde, um den Unterschied zwischen richtig und unrichtig, wahr oder falsch, einzuebnen. Mit diesem Laisser faire verraten sie die objektive Wahrheit und den Widerstand gegen antidemokratische Kräfte.

Das rationale Gut oder Schlecht ist nicht identisch mit dem biblischen Widerspruch zwischen Gott und Teufel, heilig oder satanisch.

Zu den Hauptgründen der deutschen Verrottung gehören die unklaren Bewertungsmaßstäbe, die von niemandem erörtert werden.

„Dieser Mangel an Vorstellungskraft ist unser größtes Problem. Die Welt ist nicht so, wie wir sie gerne hätten. Wenn wir Frieden wollen, müssen wir Krieg verhindern können!“ (BILD.de)

Wir sind unfähig, die Welt zu beurteilen, weil wir sie weder verstehen noch nach klaren Kriterien beurteilen können. Zur Bewertung der Welt gehört weniger das Ausmalen des Bösen, sondern der Kontrast mit einer guten Welt, die wir uns nur vorstellen können, wenn wir uns der utopischen Friedensfähigkeiten der Gattung nicht verschließen.

Solange nichts Schreckliches passiert, suhlen wir uns in ungetrübter Harmonie mit dem Ist-Zustand der – Wirtschaft und Technik. Sind wir nicht echte Lebenskünstler, wenn das BIP von Jahr zu Jahr steigt?

Nach welchen Kriterien wollen wir Realität bewerten, wenn nicht nach moralischen, die wir identisch halten mit demokratischen?

Das folgende Urteil wäre vor Ausbruch des Krieges unmöglich gewesen:

„»Es gibt kein Russland mehr. Wir durchleiden eine Katastrophe – keine wirtschaftliche oder politische. Sondern eine moralische.« So hat der bekannte Filmkritiker Anton Dolin die Verzweiflung vieler Russinnen und Russen beschrieben. Und schließlich täte dem Westen etwas Demut gut. Lange bevor Putin in die Ukraine einmarschiert ist, haben die USA mit dem Irakkrieg internationales Recht gebrochen. Daran zu erinnern, relativiert nicht die russischen Kriegsverbrechen, sondern verdeutlicht nur, wie wichtig es ist, Menschenrechte zu schützen, immer und überall.“ (SPIEGEL.de)

Die Mitschuld der Gesellschaft vermindert nicht die Schuld der Täter. Trägt aber dazu bei, die Ursachen nicht nur bei dem Angeklagten zu suchen, sondern – bei uns allen. Auch der Westen kann seine Hände nicht in Unschuld waschen. Um weitere Putins vorbeugend zu verhindern, müssen wir die Brandherde ihrer Entstehung nicht verleugnen und unmissverständlich aufdecken.

Das undurchschaute ES der Gesellschaft ist der fruchtbarste Nährboden der Gesellschaft für ihre friedensfeindlichen Urgründe, die sich jederzeit so radikalisieren können, dass sie zu bösen Untaten werden können. Weshalb wir es nicht drauf ankommen lassen sollten, aus der Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen.

Das ES der Gesellschaft ist die Summe aller individuellen Bewusstseinsverdrängungen, die nicht wahrhaben wollen, in welchem Maß jeder auf seine Kosten kommt oder nicht. Der Einzelne hat erst das Gefühl des Friedens mit sich und der Welt, wenn er seine Grundbedürfnisse nach Glück oder des Angekommenseins bei sich intensiv spürt.

Das muss kein perfektes Paradies sein, aber doch die Empfindung, in wesentlichen Punkten die Meeresstille der Seele erfahren zu haben.

Solche „Träume“ werden heute als esoterischer Mummenschanz abgetan. Ein moderner Mensch sollte wissen, dass Fortschritt nur unter Risiken und unbekannten Folgekosten zu erreichen ist. Wer diese Realität nicht erträgt, ist nicht geschaffen für die abenteuerliche Reise in die unbekannte Zukunft.

Wie viele Menschen fühlen sich in der neoliberalen Gegenwart wirklich zu Hause? Ökonomen und Superreiche haben längst das Monopol der individuellen Bewertung der Gesamtlage übernommen. Sie fühlen sich legitimiert, den Menschen mit objektiven Zahlen ihr wahres Lebens- und Selbstgefühl aufzuoktroyieren.

Wehe, der Hartz4-Empfänger fühlt sich bestraft, wenn er seine minimalen Unterstützungsgelder als ungerecht empfindet. Die elitären Exegeten der ökonomischen Verhältnisse wissen besser, wie es den Arbeitsscheuen geht, als sie selbst jemals wissen können. Quantität prägt Qualität, nicht umgekehrt.

Menschen dürfen nicht erfahren, in welcher Situation sie tatsächlich stecken. Sie sollen sich frühzeitig daran gewöhnen, durch Vergleich mit anderen ihre eigene Situation als zufriedenstellend zu empfinden.

Den Ökonomen als modernen Darwinisten ist es längst gelungen, den unerbittlichen Wettkampf aller gegen alle durch quantitativen Vergleich mit anderen als hinreichend gelungen zu empfinden. Die äußerlichen Wohlstandsmerkmale sollten ausreichend sein, um über psychischen Firlefanz hinwegzukommen.

Das Selbstgefühl der Einzelnen mag noch so enttäuschend sein. Wenn es aber verglichen wird mit der noch kläglicheren Lage der Konkurrenten, sollten wir uns dennoch beglückwünschen – nicht wahr, ihr nächstenliebenden Welteliten?

Nicht mal die Superreichen könnten sich in ihrem Luxus aalen, wenn sie nicht den Eindruck hätten, es noch immer 1000mal besser zu haben als die vielen armen Schlucker in der Welt. Gerade sie müssen fürchten, beim kleinsten Umsturz derart schnell ihren Reichtum zu verlieren, dass sie sich vorsichtshalber alle tieferen Selbstgefühle verbieten. Könnte schnell ans Eingemachte gehen.

Der jetzige Krieg brach derart unvorbereitet über uns Europäer herein, dass wir noch gar nicht wahrhaben wollen, in welchem Maß unsere betonierten Selbstgefühle ramponiert wurden. Zusammen mit den anderen Petitessen wie Klima und Corona wissen wir nicht mehr, wo uns der Kopf steht.

Doch diese Krise birgt auch die Chance, uns tiefer und authentischer zu durchschauen als im kollektiven Schlendrian normaler Zeiten. Der Frieden ist nicht in erster Linie durch Waffen bedroht, sondern durch die unerforschten Gebiete unserer vagabundierenden Urgefühle – die nach Hause wollen.

Zeitenwende? Unbedingt! Aber nur, wenn sie unseren Wohlstand nichts kostet.

Fortsetzung folgt.