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… zum Logos XXXI

Tagesmail vom 11.02.2022

… zum Logos XXXI,

 wann beginnt der Krieg?

Wenn hinten, weit, im wilden Osten die Völker auf einander schlagen?

Nein! Er beginnt, wenn mitten im Frieden der Frieden verramscht wird und die Völker vom Kriege zu träumen beginnen, der alle Probleme schlagartig lösen wird. Alles, was wir ungelöst in die Tonne werfen, wird unsere Schlinge um den Hals noch enger ziehen.

Doch, zeitlose und generelle Erkenntnisse gibt es, ihr postmodernen Schlafwandler. Wenn Wahrheit Frieden und Glückseligkeit bedeutet, muss postmoderner Wahrheits-Hass Tod und Verderben bringen. Wer Krieg führt gegen die Natur, führt auch Krieg gegen die ganze Menschheit.

Die Wahrheit des Autisten will nicht isoliert bleiben. Sie träumt davon, zur Wahrheit aller zu werden. Da fällt der Blick des Vereinsamten auf die in der Sonne blinkende Kanone. Und aus dem Ich, dem kläglich verbarrikadierten und isolierten Subjekt, wird durch Krieg und Kriegsgeschrei der König oder der Despot und Tyrann der Welt.

Das Land der Wahrheit und Freiheit ist weiter entfernt denn je. Gewalt und Glückseligkeit sind wie Feuer und Wasser. Was soll Wahrheit anders sein als Frieden unter den Geschöpfen der Natur?

Worte der Pein für moderne Zukunfts-Konquistadoren – die dabei sind, das All zu erobern.

Der Erste Weltkrieg, eine Bagatelle gegenüber dem Zweiten, war das Werk von Somnambulen – so ein versierter Historiker. Dann muss der Zweite das Werk von Schlaftrunkenen gewesen sein, die im Vollrausch durch die Gegend ballerten.

Nein, ihr Menschen könnt nichts dafür, ihr seid unschuldig wie immer. Es war der angeborene Selbstzerstörungstrieb, den euch die Evolution eingepflanzt hat. Diese hinterlistige Dame stand am Rande des Spielfelds, beobachtete euch objektiv, wie ihr euch gegenseitig die Gurgel durchgeschnitten habt.

Cool und unparteilich protokollierte sie Sieger und Verlierer. In wissenschaftlicher Neugier erwartete sie das nächste Gemetzel. Würden die Sieger wieder dieselben sein? Die Verlierer erneut verlieren? Ach, das Leben war so spannend. Langeweile kannte die Evolution nicht. Von ihren Kreationen fühlte sie sich vorzüglich unterhalten.

In Deutschland begann die Kriegsphase, als die Schwärmer des Herzens das Friedensgeflunker des Uralten aus Königsberg den Hühnern gaben. Weg mit der kalten Vernunft! Wir wollen im Feuerofen geglüht werden, um unsere heldische Zukunft zu schmieden.

„Was ist denn unsere Würde“ schrieb einer ihrer Rädelsführer, „als die Kraft und der Entschluss, Gott ähnlich zu werden!“ Welch erhebendes Gefühl, dass ein unendliches Ziel und eine göttliche Bestimmung vor dem Menschen liege, schrieb ein anderer in „abstrakter Trunkenheit“. Wir nähern uns der traumwandlerischen Seelenerhebung, die nur 100 Jahre später zur Berserkerei wurde. Ohne Tod und Wiedergeburt ging nichts mehr.

„Was euch Tod erscheint, ist eine Reife für ein höheres Leben – in jedem Moment seiner Existenz reißt er etwas Neues außer sich seinem Kreise mit fort, bis er alles in denselben verschlinge.“

Es war das deutsche Ich, das sich entschlossen hatte, gottähnlich zu werden. Heute sind es die Ichs des amerikanischen Silicon Valley, die die Botschaft der deutschen Romantiker vernommen und in Schrauben und Algorithmen verwandelt haben.

Zuckerberg & Co versammeln sich regelmäßig einmal in der Woche, um sich mit Novalis und Fichte trunken zu machen.

„Durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die tote, formlose Masse. Allein vom Menschen aus verbreitet sich Regelmäßigkeit rund um ihn herum bis an die Grenze seiner Beobachtung – und wie er diese weiter vorrückt, wird Ordnung und Harmonie vorgerückt. Durch seine Beobachtung falten sich die Weltkörper zusammen und werden ein organisierter Körper; durch sie drehen sich die Sonnen in ihren angewiesenen Bahnen. Durch das Ich steht die ungeheure Stufenfolge da, von der Flechte bis zum Seraph.“ (in: Ricarda Huch, Die Romantik)

Das gottgleiche Ich betrachtet die Natur und siehe, sie regt sich nicht mehr. Also muss er sie vollends töten, um sie in neuer Gestalt wiederzubeleben. Das Ich muss alles neu beleben und das ganze All in ein magisches Wunder verwandeln. Weshalb man bei Novalis vom magischen Idealismus spricht. In Silicon Valley ist alles konkreter und mechanischer, dennoch sind Einschätzung der Natur und Ziel ihrer Wandlung identisch mit dem magischen Idealismus der deutschen Romantik.

Bei Novalis, einem Bewunderer Fichtes, verwandelt sich der praktische Teil der Wissenschaftslehre in „das Märchen von der absoluten Allmacht des denkenden, glaubenden, wünschenden und wollenden Ich über den Körper und die gesamte Außenwelt.“

Der magische Idealist ist derjenige, der „eben sowohl die Gedanken zu Dingen, wie die Dinge zu Gedanken machen kann und beide Operationen in seiner Gewalt hat.“

Es gibt zwei Wege, um zur Herrschaft über die Natur zu erlangen. Der eine besteht in schrittweiser Erforschung der Natur, der andere ist der Weg des Zauberers. Mühelos wechselt Novalis von der Sprache Francis Bacons zur Sprache des religiösen Schamanen, der gar imstande sein wird, verlorene Glieder zu restaurieren, sich durch bloßen Willen zu töten und dadurch wahre Aufschlüsse über Körper, Seele, Welt, Leben, Tod und Geisterwelt zu gewinnen.

Und nun die Geburtsstunde Amerikas:

Wer fähig ist, das „nicht Gegenwärtige zu vergegenwärtigen“, die „Wunderkraft der Fiktion“ zu beherrschen, in dem ist der ewige Friede bereits da:

„Gott ist unter uns, hier ist Amerika oder nirgendwo sonst. Aller Glaube ist wunderbar und wundertätig. Gott ist in dem Augenblick anwesend, da ich ihn glaube. Und daher immer wieder die Begeisterung für den Tod, die ihn sagen lässt, dass Leben eine „Krankheit des Geistes, ein leidenschaftliches Tun“ oder dass Sterben ein philosophischer Akt sei.“ (in: Haym, Die Romantische Schule)

Für Kierkegaard ist die Krankheit zum Tode das wahre Leben.

Bei den Romantikern wird zum Ereignis, wie der Glaube Berge versetzen kann. Womit sie alle nüchternen Biedermänner in den Schatten stellen. Traum schlägt Wirklichkeit.

Vernunft hatte die kosmische Vollendung der Natur verehrt. Die Romantiker rühmen die eigene Vollendung, die Natur durch Technik zum vollkommenen Werk der Schöpfung erhebt.

Mit esoterischen Allmachtsphantasien beginnt der deutsche Weg in den wundermachenden Krieg.

In Kants Weg zum ewigen Frieden stand noch die Klausel:

„Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“

Gilt das noch heute? Die Großmächte rüsten ununterbrochen auf, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Der Wettbewerb um die schrecklichsten Waffen wird unterstützt vom Kampf um die profitabelste Wirtschaft, die auf der Verwüstung der Natur beruht. Je kränker die Natur, umso herrlicher die Wiederbelebung durch das Genie des Menschen.

Als der lästige Friedensgedanke Kants vom Tisch war (eine Vision, für die er von einem SPD-Kanzler zum Doktor geschickt worden wäre), konnte der wunderschaffende Krieg das Ruder übernehmen.

„Durch Frieden wird die sittliche Gesundheit der Völker zerstört. Friede ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen.“ (Hegel)

Was damals Krieg war, heißt heute Disruption, Risiko, Vergangenheit hinter sich lassen, Neues wagen, Träume haben.

Ab Fichte, Hegel und den Romantikern verließen die Deutschen ihre privaten Gehäuse, wo sie tugendhaft gewohnt, gearbeitet und gehorcht hatten und entdeckten, nach dem Überfall Napoleons, mit Erschrecken ihre politische Memmenhaftigkeit.

Eben hatten sie noch die französischen Revolutionäre bewundert. Als die aber zur Gewalt übergegangen waren, nahmen sie Abstand von den „wilden Tieren“.

Ab Hegel beginnt die Verherrlichung des Krieges durch Verherrlichung Machiavellis, der zum Heiligen der ab jetzt beginnenden politischen Machtverherrlichung wurde:

„So geschah das Neue und Ungeheure, dass der Machiavellismus eingegliedert wurde in den Zusammenhang einer Realpolitik, während er früher sein Dasein immer nur neben dem sittlichen Kosmos, den man sich aufbaute, geführt hatte.“ (Meinecke, Die Idee der Staatsraison)

Friedrich der Große hatte als junger Moralist noch einen Antimachiavell geschrieben. Als er jedoch sein Reich per Krieg auszudehnen begann, wurde sein Glaube an die Moral beschädigt. Ab jetzt begleitete ihn sein schlechtes Gewissen den Rest seines Lebens.

Seit Inthronisierung des Italieners zum Gewährsmann einer robusten Interessenpolitik verschwand das schlechte Dauergewissen der Deutschen. Bismarck erhob den Willen zur Macht zum Repertoire einer tüchtigen Politik. Mit der Bergpredigt könne er keinen Krieg führen.

Das war ehrlich, im Gegensatz zu heutigen Christen, die keine Hemmungen kennen, das Gewehr zu schultern, um danach einen Gottesdienst zu feiern.

Unter uns Pfarrerstöchtern: natürlich kann man mit der Bergpredigt heilige Kriege führen. Luther hatte nicht das geringste Problem mit Gewalt, wenn sie gegen aufrührerische Elemente ging, die sich der Obrigkeit widersetzten. So rief er die Fürsten auf, die Rotten der aufrührerischen Bauern rücksichtslos in Stücke zu hauen.

„Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“

„Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“

Selbst vor der Zerstörung der Familie schreckt der Heilige nicht zurück. Die wahre Familie ist die Gemeinde der Gläubigen. Da reden sie heute von der christlichen Familie, die das Urmuster einer intakten Familie sein soll. Wenn der Kapitalismus unaufhörlich die Familie zerstört, steht er auf dem Boden des Neuen Testaments.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Die Leidenden und Sanftmütigen mögen oft genug das Nachsehen hienieden haben, im Finale der Geschichte aber werden sie groß rauskommen und alle Feinde in den Schatten stellen.

Der Schein wehrloser Ohnmacht täuscht die Welt: am Ende werden die Niedrigen über alle erhöht werden.

Fasziniert von der heidnischen Logik der Aufklärung waren die studierten Pfarrerssöhne dazu übergegangen, die antinomische Botschaft der Schrift in eindeutige Moral zu verwandeln. Das Ergebnis war paradox. Die angebliche Eindeutigkeit einzelner Stellen ignorierte das Widerspruchs-System der ganzen Schrift. Hermeneutische Beliebigkeit, die seit Schleiermacher sich jedem Zeitgeist elastisch anpassen konnte, wurde zur systematischen Deutungsbigotterie.

Seitdem gibt es keine Philosophie und Politik, die biblisch nicht legitimiert werden könnte. Von Bismarck über Weimar bis Hitler, vom Kapitalismus bis zum marxistischen Klassenkampf: alles war durch geschickte Schriftauslegung zu rechtfertigen. Das ist die Stimmung der heutigen Ampelpolitik, die keine philosophischen Debatten mehr kennt, sondern sich auf eine profillose Kompromiss-Maische geeinigt hat.

Christlich? Selbstverständlich! Rational? Selbstverständlich. Sozial? Selbstverständlich. Fortschrittlich? Selbstverständlich. Konservativ? Selbstverständlich. Neoliberal? Na, was denn sonst?

Diese Begriffe nahm eine Kanzlerin nicht mal in den Mund. Das war für sie ideologischer Müll. Sie anerkannte nur eine Wissenschaft: die reine, quantitative, messbare und berechenbare Physik. Dass diese Wissenschaft nur den kleinen Mangel hatte, weder etwas von Jesus noch von Machiavelli zu wissen: das fiel ihr nie auf.

Die Rechtfertigung allein durch den Glauben wurde zur Absegnung aller Taten und Untaten – wenn sie nur durch rechte Gesinnung begründet war. Das war der Grund für die Ablehnung der Gesinnungsethik durch Max Weber, der gleichwohl das Kind mit dem Bade ausschüttete.

Weber berief sich nicht auf die Strenge Kants, auf die logische Eindeutigkeit der Vernunft, sondern propagierte eine Verantwortung, die in gleichem Maße willkürlich war wie Schleiermachers Wünschdirwas-Moral. Am Ende landete er in der dialogunfähigen Unvernunft, die auf jedes Argument verzichten musste.

Wie kommt es zum Krieg? Indem man den Frieden benutzt, um den nächsten Krieg unausweichlich zu machen. Das geschieht durch Wettbewerb in allen Disziplinen – um die Spitze der Welt zu erringen und das Geschick des Planeten von oben zu bestimmen.

Sollte Putin wirklich den Krieg beginnen, wäre er ein Verbrecher an der Menschheit. Sollte er jedoch seine Truppen nur benutzen, um politische Ziele zu erreichen, müsste man fragen: was willst du mit deiner riskanten Militanz, oh Wladimir?

Selten, dass westliche Politiker die möglichen Motive Putins zu analysieren versuchen. Für sie steht a priori fest: Putins Beweggründe mögen sein, wie sie wollen, verglichen mit den westlichen, besonders amerikanischen Triebfedern, sind sie hinterhältig, irrational und unverantwortlich.

Zwei Artikel sehen das anders:

„Russland kann und will nicht Junior-Partner des Westens sein. Doch seit vielen Jahren haben wir das Gefühl, Russland wird vom Westen nicht als Partner gesehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten alle das Gefühl: Alles ist gelöst. Francis Fukuyama schrieb sein Buch „Das Ende der Geschichte“. Nur wenige haben gespürt, dass Russland seinen eigenen Weg gehen wird. Es gibt keine Strickmuster, nach denen eine Demokratie zu gestalten ist. Auch in der EU gibt es unterschiedliche Wege, wenn Sie nach Ungarn, Polen oder Rumänien schauen. Die Globalisierung hat eine unerwartete Entwicklung ausgelöst. Viele Völker haben eigene Werte und wollen in ihrer Kultur eigenständig bleiben. Es gibt Augenblicke, da ist das Nichthandeln die Rettung. Es kann mitunter moralisch besser sein, nichts zu tun, als etwas zu tun. Heute interessieren wir uns für das andere Land nur, wenn es wieder um eine Krise geht. Doch das wahre Interesse füreinander ist weg. Früher waren in Russland nicht nur Goethe und Schiller, sondern auch Böll, Grass, Enzensberger, Botho Strauss, Heiner Müller, Peter Hacks und natürlich Bert Brecht Pflichtlektüre! Ich rede gar nicht von Heinrich und Thomas Mann oder Remarque.“ (Berliner-Zeitung.de)

Das war die Meinung eines russischen Kulturbeauftragten, der die deutsche und russische Perspektive genau kennt. Die einstige deutsche Empathie für russische Kultur gibt es nicht mehr. In Schulen, Universitäten, Medien wird Russland totgeschwiegen. Gab es in den letzten Jahrzehnten eine einzige Talkshow über die Beziehungen beider Völker? Kennt noch jemand den Namen Gorbatschow?

Als nach dem Krieg der deutsch-französische Friedensprozess begann, gab es endlose Aktivitäten, um den Prozess zu fördern: Dörfer- und Städtepartnerschaften, Schüleraustausch, Sonderbeauftragte für den Friedensprozess.

Was gab es im russisch-deutschen Versöhnungsprozess? Putin durfte anfänglich eine Rede im Bundestag halten, die von allen gerühmt wurde. Danach ging‘s bergab. Deutschland negierte das abgesunkene Weltreich – und konzentrierte sich nur noch auf Amerika, dessen Weltbeherrschungspolitik es kritiklos unterstützte.

Während Moskau immer mehr im Nebel verschwand, wurde Washington immer mehr bewundert. Norman Birnbaum verhöhnte die blinde Bewunderung der Deutschen. Freunde, auf deren Schutz man angewiesen ist, dürfe man nicht beschimpfen.

„Da die USA Inbegriff des Guten sind, muss alles, was uns widerspricht, böse sein. »Wer von uns angegriffen wird, tut gut daran, das als himmlische Strafe hinzunehmen. Dies können keine gewöhnlichen Kriegshandlungen sein, da wir keine ordinären Kriege führen, sondern nur Kreuzzüge.« Amerika blieb seiner uralten Rolle treu, eine Erlösernation zu sein.“ (In „Gott und Politik in den USA“)

Seitdem hat Amerika immer Recht. Es ist das Reich des Guten, das dem Reich des Bösen standhaft widerstehen muss.

Amerikanische Politik war angewandter christlicher Erwählungsglaube: „Seid Christen und ihr werdet erfolgreich sein.“ Religion oder die Verehrung Gottes waren kein Selbstzweck, sondern Instrumente, um politische Ziele zu erreichen.

Im Gegensatz zum „aufgeklärten“ Glauben der Deutschen waren die amerikanischen Fundamentalisten stets der Meinung, dass Religion und Politik nicht zween Herren gehorchen dürften. Wer glaube, sei wirtschaftlich und politisch erfolgreich. Das müsse Amerika in allen Dingen beweisen.

Deutschland bewundert seine Befreier, doch die Bewunderung ist inzwischen blind geworden. Deutsche und amerikanische Gläubige haben sich nichts zu sagen. So wenig, wie Deutschland Israel versteht, so wenig versteht es die Geschichte der Neocalvinisten jenseits des Teichs.

Daniela Dahn erinnert an die vielen Wortbrüche des Westens, die Russland zu einer belanglosen Macht im Osten degradierten – im Triumph, den Kalten Krieg mit Glanz und Gloria gewonnen zu haben:

„Ist es so schwer nachzuvollziehen, was von russischer Seite als Aggression empfunden wird? Ein halbes Dutzend führende Politiker, allen voran der damalige US-Außenminister James Baker, haben Michael Gorbatschow versichert: die NATO „nicht einen Zentimeter ostwärts“! Zusagen unter Politikern galten einst als Ehrenwort – nicht so in der westlichen Wertegemeinschaft. Die NATO-Osterweiterung einen „Jahrhundertfehler“ zu nennen, wie es Egon Bahr tat, war Konsens in der SPD. Als aggressiv dürfte es empfunden werden, wenn die USA mehr als zehnmal so viel für Rüstung ausgeben wie Russland. Wenn kein Protest gegen die neuen Raketensysteme in Rumänien hilft. Wenn Russland dem NATO-Angriffskrieg gegen seinen Verbündeten Serbien zusehen muss. Aber jahrelang hatte Präsident Putin andere Wege beschritten: mit seiner um gute Beziehungen fast flehenden Rede im Bundestag 2001, mit der Aufrechterhaltung der Kommunikations-Pipeline zwischen beiden Ländern, mit dem schon schärfer formulierten Missbehagen gegen die fortschreitende NATO-Osterweiterung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Nur ein Jahr später ermunterte die NATO auch Georgien und die Ukraine, die Mitgliedschaft anzustreben. Der Maidan-Putsch sollte die Türen zum Westen endgültig öffnen und die historisch gewachsene Verflechtung mit Russland rückabwickeln. Das heutige Großmachtverhalten der russischen Führung ist das erwartbare Ergebnis jahrelanger westlicher Provokationen und Demütigungen. Die NATO, der Logik des Kalten Krieges entsprungen, versteht noch keine andere Sprache. Plötzlich kommt Bewegung in die Debatte, nichtsahnend rätseln alle: Was will der Russe?“ (der-Freitag.de)

Deutschland bereist die ganze Welt – und ist an nichts in der Welt interessiert. Es sumpft in sich selbst. Die TV-Kanäle, die Gazetten: sie denken nicht daran, die vielen Perspektiven der Weltpolitik ihrem Publikum vorzuführen. Es gibt endlose Talkshows über Corona, aber keine über die erloschenen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau.

Wenn man glaubt, schon alles zu wissen, wenn man es nicht mehr für nötig hält, die Welt immer besser kennenzulernen, kann man die Jalousien herablassen – und die Kanonen aus dem Keller holen. Wir wünschen einen unterhaltsamen und spannenden Krieg, der, unter günstigen Bedingungen, sogar zu einem alles vernichtenden und erneuernden Weltkrieg ausarten könnte.

Ohne Tod keine Erneuerung der Natur, ohne Krieg keine Eroberung des Alls.

Fortsetzung folgt.