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… zum Logos X

Tagesmail vom 17.12.2021

… zum Logos X,

„Stehlen, morden, huren, balgen
Heißt bei uns nur die Zeit zerstreun.
Morgen hangen wir am Galgen,
Drum laßt uns heute lustig sein.
Ein freies Leben führen wir,
Ein Leben voller Wonne.
Das Wehgeheul geschlagner Väter,
Der bangen Mütter Klaggezeter,
Das Winseln der verlaßnen Braut
Ist Schmaus für unsre Trommelhaut
Und wenn mein Stündlein kommen nun,
Der Henker soll es holen,
So haben wir halt unsern Lohn,
Und schmieren unsre Sohlen.“  (Schiller, Die Räuber)

Wo sind wir hier gelandet? Bei den Erfindern der deutschen Freiheit, die eher die ganze Welt in Trümmer legen, als sich Spießer nennen zu lassen.

Karl Moor, der „sich gegen die gesamte bürgerliche Ordnung und den ganzen Zustand der Welt und Menschheit empört“ – wie ihn sein schwäbischer Landsmann Hegel beschreibt – ist um kein Argument verlegen, sein mörderisches Tun zu rechtfertigen.

Ein deutscher Mann soll sich von Popen und kalten Aufklärern vorschreiben lassen, was gut und böse ist?

Da könnte jeder Wicht kommen, um deutsche Kraftprotze und Genies an die Kette zu legen. Wer erkühnt sich, einem Giganten Moral vorzuschreiben, der von sich behauptet:

„Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“

Ein deutscher Mann lässt sich von anderen nicht mehr vorschreiben, was gut und böse ist. Ab jetzt bestimmt er das selbst. Wann ist jetzt?

Wir sind in der Epoche des Sturm und Drang, in der sich die späteren Klassiker von Glauben und Vernunft in einem einzigen Akt trennen und sich die Vollmacht erteilen, ihre eigenen Regeln der Freiheit zu erfinden. Freiheit ist für sie die Erlaubnis, die ganze Welt in Trümmer zu legen.

Schiller hätte kein Klassiker werden können, wenn er bei diesen Allmachtsspielen geblieben wäre. Nur eine komplette Reue und Buße konnten ihm Zutritt verschaffen in den Olymp deutscher Dichter und Denker:

„O über mich Narren, der ich wähnte, die Welt durch Greuel zu verschönern und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten. Ich nannte es Rache und Recht, da steh ich am Rand eines entsetzlichen Lebens und erfahre nun mit Zähneklappern und Heulen, dass zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrund richten würden.“

Hat Deutschland von Schiller gelernt, dass man die Welt durch Vernichten nicht verschönern kann? Ein gutes Jahrhundert später ergriff erneut ein Sturm und Drang die Nation und wollte das Leben des Volkes durch Vernichtung der bösen Welt in ein Paradies oder ein 1000-jähriges Reich der Vollendung verwandeln.

Auch Schillers späterer Freund Goethe begann als „Einzelgänger von Kolossalischer Größe, als scheiternder Heros der Selbstherrlichkeit.“

Und allen Perrückeurs und Fratzen
Und allen literar’schen Katzen
Und Räten, Schreibern, Mädels, Kindern
Und wissenschaftlich schönen Sündern
Sei Trotz und Hohn gesprochen hier
Und Haß und Ärger für und für.
Weisen wir so diesen Philistern,
Kritikastern und ihren Geschwistern
Wohl ein jeder aus seinem Haus
Seinen Arsch zum Fenster hinaus.

„Götz von Berlichingen hat gut zu leben, gut zu lieben und ist sein eigener Herr. Er braucht nicht zu kriechen, weil er kämpfen kann. Bei seinem Anblick ruft Martin aus: Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehen.“

Ein halbes Jahr später plante Goethe ein Stück über Sokrates. Warum nur scheiterte er? Seitdem beschränkte sich die deutsche Graecophilie auf altgriechische Mythen jenseits von Gut und Böse.

Nur die „Iphigenie, mit dem matten Sätzchen „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ (den heute niemand mehr zitiert), rettete den Ruf des Humanisten bei allen nachkriegsdeutschen Gymnasiasten. Kurz danach begann das Regiment des Mephisto, der stets das Böse wollte – um das Gute zu erreichen. Nicht anders als bei Karl Moor.

Mit der griechischen Aufklärung, der Erfindung der Menschenrechte und Demokratie, hatte Goethe nichts am Hut. Mit solchem Menscheln kann man keine Tragödien schreiben.

Die Ratio verbanden sie nun mit den ungeliebten Franzosen, nicht mit den Griechen. Weswegen es ihnen leicht fiel, die Vernunft unter die Guillotine zu legen und das urdeutsche, naturreine Gefühl auf den Thron zu setzen:

„Ein neues, innig umfassendes und sich einfühlendes Verhältnis zur Natur vereinte sich mit einer tragischen Grundauffassung vom Genie. Das Gefühl rückte ins Zentrum der literarischen Aussage. „Die Stimme des Herzens ist ausschlaggebend für die vernünftige Entscheidung.“ Dieses Zitat von Johann Gottfried Herder zeigt den Protest gegen die herrschenden Moralvorstellungen, die Entscheidungen von der Moral und nicht vom Herzen abhängig machten.“

Womit wir, Hokuspokus, bei den heutigen Impfgegnern angekommen wären. Auch sie verabscheuen Gründe der Vernunft, hören nur auf die Stimme ihres unfehlbaren Gefühls.

Bei Herder begann die Alleinherrschaft des Gefühls, die das Reich der Romantik vorbereitete. Weil die Gefühlsduselei der Novalis & Co sich als nicht kriegstauglich erwies, wurde sie komplettiert und verstärkt durch Hinzufügung eines zügellosen Willens, der von Nietzsche zum Willen des welterobernden Herrenmenschen erhoben wurde.

Wenn man sich in einem Akt von Himmel und Vernunft löst, welches Problem entsteht dann? Der Rebell steht ohne Schutz und innere Selbstgewissheit da. Plötzlich ist er mutterseelenallein in der Welt.

Das hält niemand aus, schon gar kein Deutscher. Also muss er sich selbst einen Schutz schaffen. Schiller Schutzinstanz haben wir bereits kennen gelernt: „Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“ Der Mensch ist sein eigener Gott und Teufel.

In der Lebensreformbewegung, die eine Wiederholung des Sturm und Drangs auf der Ebene des Volks war, taucht der Gott-Teufel bei Hermann Hesse wieder auf, jenem Literaten des schwärmerischen Gefühls, der nach dem Krieg einen riesigen Erfolg in Amerika hatte und dazu beitrug, die Bewegung der Hippies ins Leben zu rufen – die sich nach ersten Ermüdungserscheinungen in jene Gründergenies von Silicon Valley verwandelten, die der Welt das Gefühl globaler Erneuerung schenken wollten: per vollkommener Maschinen.

Der Traum von der Humanisierung des Menschen war ausgeträumt: der neue Mensch der Zukunft war das digitale Genie der KI. Die Menschen in der reinen Natur, von der Stürmer, Dränger und spätere Lebensreformer träumten, verwandelten sich in perfekte Maschinen, die die Natur auf Erden hinter sich ließen und tief im Universum eine unbefleckte Heimat suchten.

Der Protagonist In Hermann Hesses „Demian“ versucht, „über den Weg einer Neuinterpretation von biblischen Gleichnissen und mittels einer Botschaft über einen Gott namens Abraxas, der Gut und Böse in sich vereint, zu einer Integration des Dämonischen zu kommen. „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Gott heißt Abraxas.“ (Kindlers Literaturlexikon)

Hesse hatte eine psychoanalytische Therapie bei einem Schüler C. G. Jungs absolviert, der alle gnostischen Mythen ausgebeutet hatte. Dazu gehörte das Abraxasmotiv mit dem Archetypus des „Führers“. C .G. Jung, Freuds abtrünniger Schüler, war der einzige Psychoanalytiker von Rang, der von den NS-Schergen als germanisch anerkannt wurde.

Ein germanischer Held nimmt es mit Tod und Teufel auf, um ins Vollkommene zu gelangen, heiße er nun Mephisto oder Abraxas.

Warum verweigern Impfgegner die medizinische Spritze gegen das Virus? Weil sie das Gegenteil von Natur ist: sie ist Kultur, Wissenschaft, Frucht der Vernunft.

Für Lebensreformer ist Rousseaus Satz ein Dogma:

„Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“

„Er forderte eine Rückkehr zu naturgemäßer Lebensweise, postulierte eine körpereigene „Naturkraft“, die durch Abhärtung zu fördern sei, und lehnte Medikamente ab.“ (Wiki)

Rousseau war ein Gegner der französischen Aufklärung. Er forderte keine Leistungen der Vernunft, die er verachtete, sondern wollte die Rückkehr zur vollkommenen Natur – die er Gott nannte.

Alles ist gut, was aus den Händen der Natur kommt, alles entartet unter der Vernunft des Menschen. So lautet das Glaubensbekenntnis der Impfgegner, den Wiedergängern der Vernunftfeindlichkeit ab Sturm und Drang, über die Romantik – bis zur Lebensreformbewegung.

„Wesentliches Merkmal der entstehenden Naturheilkunde war die Überzeugung, dass der Körper über Selbstheilungskräfte verfüge, die lediglich angeregt und unterstützt werden müssten. Diese Ansicht ging auf Paracelsus zurück. Die Krankheitsvorgänge betrachtet sie als Heilsvorgänge, durch welche die den Lebensakt störenden Stoffe unter den Zeichen des Fiebers, der Entzündung, der Gärung und Fäulnis, d. h. durch Zersetzungsprozesse, unschädlich gemacht werden. Auf diesem Weg ist die Naturheilkunde so weit gekommen, beispielsweise Masern, Pocken, Scharlach für von der Natur für ein bestimmtes Lebensalter eingesetzte Reinigungsprozesse zu erklären, deren Lebensgefährlichkeit erst durch das hinfällige Menschengeschlecht sowie durch die Arzneiheilkunde selbst geschaffen worden sei.“

Dieser biologisch überlegene Naturbegriff wurde ein Teil der nationalsozialistischen Ideologie. „Die Nationalsozialisten erhofften sich durch die Instrumentalisierung von Lebensreform und naturgemäßer Heilkunde die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, seine ‚rassische‘ Gesundheit und physische Robustheit zu steigern.“

Die Grünen hatten in ihrer Gründungsphase Schwierigkeiten, sich auf die Natur zu berufen, weil diese durch die Nationalsozialisten korrumpiert sei. Dies wurde ihnen auch sofort um die Ohren geschlagen.

Doch lassen wir die Kirche im Dorf. Der Naturbegriff der Hitlerpartei war ein vernunftfeindlich-reaktionärer, nicht identisch mit dem Kosmos der Griechen, dessen innerster Kern der Logos war, die Vernunft der Mutter Natur.

Die Grünen hätten nur die Geschichte des Naturbegriffs erforschen müssen und sie wären auf die Weisheit der Natur gestoßen, auf deren Basis sie ihren Kampf gegen Naturverwüstungen hätten führen können.

In der „Philosophie der Grünen“ von Manon Maren-Grisebach, der ersten Bundesvorstandssprecherin der Grünen, liest man über Vernunft und Naturphilosophie fast nichts. Viel hingegen über Gefühl:

„Und da gehört Gefühl als tiefster Quell der Bedürfnisse dazu. Gefühle sind nur sicher im eigenen Innern, mitgeteilt sind sie schon zerfallen.“

Das Ansprechen der Gefühle als politische Mitteilungen, über die debattiert werden müsste, gilt schon als Verletzung unantastbarer Gefühle. Gefühle aber sind nur emotionale Empfindungsorgane der Vernunft. Auch sie unterliegen dem Irrtum und müssen im Dialog überprüft werden. Unfehlbare Gefühle, über die man nicht reden dürfe, sind aufklärungs- und demokratiefeindlich.

Die Zahl der PolitikerInnen, die nicht mehr über das Notwendige und Zielführende reden können, steigt und steigt. Und diejenigen, die reden wollen, können nur hohle Monologe halten.

Logos aber heißt vernünftige Rede. Wer vernünftig redet, will kein Geschwätz, sondern einen Dialog, der die Gesprächspartner in die Suche nach Wahrheit verstrickt.

In Deutschland ist die Kunst des Zwiegesprächs verloren gegangen. Unter endlos geschwätzigen Selbstdarstellungen kennt man keine anamnestische Suche nach der Wahrheit mehr.

Impfgegner als Erben vernunftfeindlicher Lebensreformer verstehen unter politischer Gemeinschaft eher pietistisch verschwiegene Zirkel als vitale Debattierkreise, die wissen, dass es immer mehr um Sein oder Nichtsein geht denn um sophistisches Luftverpesten.

Was hat die demokratiefeindliche Freiheit des FDP-Liberalismus mit Impfgegnern zu tun? Die Liberalen vertreten jenen Freiheitsbegriff, den Stürmer und Dränger als Inbegriff deutscher Rebellion und im Gegensatz zur westlichen Freiheit verstanden.

Mit der Freiheit des klassischen Liberalismus hat der heutige Freiheitsbegriff der FDP keine Gemeinsamkeit mehr. Die gesetzlose Freiheit der FDP hat nichts mehr mit demokratischer Humanität zu tun.

Nicht nur bei Adam Smith war die Freiheit des Egoismus nicht gemeinschaftsschädlich. Im Gegenteil: je egoistischer ein Mensch für sich arbeitete und verdiente, umso nützlicher war er der Gesellschaft. Denn die unsichtbare Hand sorgte dafür, dass alle Egoismen zur Harmonie des Ganzen beitrugen.

Doch es ging auch ohne unsichtbare Hand. Im Jahre 1656 schrieb Joseph Lee:

„Es ist ein unleugbarer Grundsatz, dass jedermann dank dem natürlichen Licht und der Vernunft das für ihn Vorteilhafteste tut … Das Fortkommen des einzelnen kommt der Allgemeinheit zugute.“ (zit. bei Russell, Philosophie des Abendlandes)

Wir können uns auch auf John Locke berufen: „Das vernünftige Zusammenleben der Menschen ohne irdisches Oberhaupt bei gegenseitiger Jurisdiktion, das ist der eigentliche Naturzustand.“ (ebenda)

Das ist der große Unterschied: der Liberalismus der Aufklärung ist vernunftgesteuert und will der Gemeinschaft nützen. Eine Freiheit hingegen, die nur der eigenen Gottähnlichkeit dient, wäre ein Verbrechen.

Was ist der Unterschied zwischen einem gesetzlosen Tun der Linken (die sich für eine gerechte Gesellschaft einsetzen) und dem der Rechten, die nur ihrem eigenen Egoismus folgen?

Die Linken gelten als Gesetzesbrecher, die Rechten als Freunde der Freiheit.

Der Freiheitsbegriff der FDP ist kein klassischer Liberalismus, sondern stammt aus einer späteren Zeit: er ist neoliberal. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus hasst der Neoliberalismus die Vernunft. Der Mensch würde sich mit seiner schwachen Vernunft überschätzen.

Weder erkennt er die Wirklichkeit, noch kann er sie reformieren. Sie ist nichts als das Tummeln asozialer Wesen à la Hobbes, wo jeder Mensch seinem Mitmenschen ein Wolf ist.

Die Geheimnisse des allmächtigen Marktes könne kein Mensch verstehen. Er muss glauben, dass der Markt das Beste für die Menschheit tut. Eine beste Gesellschaft bleibt dem Menschen versagt. Er kann nur vertrauen, dass der Markt das Bestmögliche für die Menschen tun wird. Sollte das nicht geschehen, müsste der Mensch auch dies akzeptieren.

„Es ist gewiss oft traurig zu sehen, wie die Verteilung der Güter dieser Welt durch bloßes Glück, wenn nicht durch Schlimmeres bestimmt wird und nur so selten im Verhältnis zu erkennbarem Verdienst oder Bedarf steht. Aber wie viel schlimmer wäre es doch, wenn wir alle überzeugt wären, dass jeder das verdient, was er hat – oder nicht hat – und der, dem es schlecht geht, wüsste, dass alle anderen meinen, er verdiene es eben nicht besser. Ich möchte jedenfalls nicht in einer solchen Welt leben, die heute so viele Menschen machen möchten, wenn sie nur können.“ (Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit)

Mit christlichen Worten: Hayek möchte lieber in einer sündigen Welt leben, in der Hoffnung, in einem jenseitigen Reich werden alle Sünden getilgt und alles wird vollkommen sein.

Hayeks Neoliberalismus entpuppt sich als traditioneller Glaube an ein jenseitiges Reich Gottes. Uns stünde es nicht zu, durch hybride Politik ein Reich Gottes auf Erden zu errichten.

Sprachen wir etwa von der neoliberalen Politik der Ex-Kanzlerin?

Kein Zufall, dass die Freiheitsdebatte einhergeht mit dem Aufstand der Impfgegner. Sind diese beiden Stränge doch innig miteinander verbunden und auf dem Boden der deutschen Sturm-und Drang-Bewegung gewachsen.

Kein Zufall, dass die FDP eine gesetzeswidrige Freiheit fordert. Nur mit dieser gottähnlichen Freiheit könnten Impfgegner ihre amoralischen Forderungen realisieren.

Die FDP hat die Grundwahrheiten der Demokratie verdrängt: kein Demokrat ist ein isoliertes Privatwesen („Idiot“). Er ist ein zoon politicon, ein Gemeinschaftswesen, dessen Freiheit dort endet, wo die des Nächsten beginnt.

Neoliberale Freiheit will eine Gesellschaft der Kolosse, Starken und Gesetzlosen. Die Schwachen sollen zugrunde gehen. Eine solch asoziale Partei hat in einer humanen Gesellschaft nichts zu suchen.

Fortsetzung folgt.