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… zum Logos VIII

Tagesmail vom 13.12.2021

… zum Logos VIII,

„Wenn der selbsternannte „Leuchtturm der Demokratie“ Journalisten mit Hilfe befreundeter Staaten im Ausland festsetzen und ausliefern lässt, was soll andere Länder dieser Welt davon abhalten? Wer soll China ernsthaft daran hindern, Reporterinnen und Reporter, die über Staatsgeheimnisse – etwa die Masseninternierungen von Uiguren in Xinjiang – berichten, weltweit zu verfolgen und mundtot zu machen? Es ist eine bittere Fußnote der Geschichte, dass der Londoner High Court Assanges Auslieferung ausgerechnet am internationalen Tag der Menschenrechte abgesegnet hat – an jenem Tag, an dem die philippinische Journalistin Maria Ressa und ihr russischer Kollege Dmitrij Muratow in Oslo den Friedensnobelpreis entgegengenommen haben. Ressa sagte in ihrer Dankesrede: „Ich lebe mit der realen Gefahr, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen, nur weil ich Journalistin bin.“ (Sueddeutsche.de)

Demokratie gerät in Gefahr, wenn Journalismus in Gefahr gerät.

Journalismus gerät in Gefahr a) durch Demokratien, die eine freie Presse nicht mehr ertragen und b) durch seine eigene Verwahrlosung.

a) England und Amerika, die beiden ältesten Demokratien des Westens, kooperieren vorbildlich im Kampf gegen eine freie und kritische Presse. Wer noch den Mut aufbringt, erschreckende Defizite der Demokratien ans Licht zu bringen, der muss, wie Snowden, ausgerechnet in Putins Regime fliehen oder, wie Assange, mit endloser Freiheitsberaubung rechnen.

Kein Protest der Verbündeten. Die westlichen Demokratien schliddern immer mehr in Grundsatzkonflikte, die sie nicht mehr austragen. Deutschland schweigt ohnehin zu allem.

Philosophische Grundsatzfragen gelten hierzulande als Ideologien, an denen sich eine fromme Kanzlerin und ihre hymnologische Gemeinde nicht die Finger schmutzig machen. Geistesabwesend, gedanken- und ziellos heißt auf Neudeutsch sachlich und emotionsfrei.

Demokraten aller Länder, tretet ein in das verheißene Land der Politmaschinen, in denen das Geschwätz besiegt, das Herumschrauben der Sozialrädchen gewonnen hat. Reden verstummen oder werden hohl, Streitgespräche verwandeln sich in Monologe, kritische Fragen in hämische Äußerungen ohne Erkenntnisinteresse.

Die Moderne wirft allen Gedankenballast ab, um frei und unbeschwert ins Universum zu starten – Überprüfen durch Beobachten und Bewerten überflüssig.

Womit wir bei b) angekommen wären: die Presse versinkt in scheinkritischer Überidentität mit der Regierung und in der Doppelmoral ihrer eigenen Prinzipien. Einerseits enthalten sie sich aller Bewertungen durch Schreiben, was ist. Andererseits sind sie stolz auf journalistische KollegInnen, die wegen ihres couragierten Widerstands gegen diktatorische Regimes mit Gefängnisstrafen, ja mit Gefährdung von Leib und Leben rechnen müssen. Sie begnügen sich nicht mit Schreiben, was ist, sie legen anklagend ihre Finger in die Wunden:

„Ressas Kampf richtet sich insofern mindestens genauso gegen das Duterte-Regime wie gegen die Firma von Mark Zuckerberg. Ihre Rede war eine einzige große Warnung vor der Gefahr, die sogenannte soziale Netzwerke für unsere Gemeinschaft bedeuten können. „Es ist ein tödliches Spiel um Macht und Geld“, sagte Ressa. „Glaube an das Gute auf der Welt.“ Ihr Ziel ist, sagte Ressa, Journalismus für eine bessere Welt zu machen, die frei von Hass, Gewalt und Machtmissbrauch sei.

Ihr Kollege Dmitri Muratow zitierte in seiner Rede den russischen Physiker Andrej Sacharow, der 1975 Träger des Friedensnobelpreises war: „Frieden, Fortschritt, Menschenrechte – diese drei Ziele sind untrennbar miteinander verbunden.“ Doch die Welt wende sich von der Demokratie ab, sie wende sich hin zu Diktaturen. „Wir haben es mit der Illusion zu tun, dass Fortschritt durch Technologie und Gewalt, nicht durch Menschenrechte und Freiheiten erreicht werden kann“, sagte Muratow. Journalisten müssten helfen, die Zukunft zu verbessern. Und in diesem Sinne sei der Friedensnobelpreis eine Auszeichnung für die gesamte Gemeinschaft von investigativen Journalisten: „Wir sind das Gegenmittel zur Tyrannei.““ (WELT.de)

Deutsche Journalisten erkühnen sich, auf diese mutigen KollegInnen stolz zu sein – und gleichzeitig deren „idealistischen“ Ziele als Moralisieren zu verhöhnen. Damit untergraben sie ihre Pflicht, als Vierte Gewalt die anderen drei Gewalten unter die Lupe zu nehmen. Sie merken nicht, dass sie sich noch immer vom Positivismus der Wertefreiheit dominieren lassen, der Kants ethische Pflichten vom Tisch geräumt hat – womit sie weiterhin im Banne der Gegenaufklärung stehen, auf dessen Morast der religiöse Neoliberalismus wachsen konnte.

Die prästabilierte Harmonie mit ihrer Ex-Kanzlerin beruht auf der gleichen positivistischen Werte-Allergie: moralisch urteilen ist unbegründbares und willkürliches Schwatzen. Über ethische Imperative der Vernunft könne man wissenschaftlich nicht reden, weshalb Wittgensteins Gebot gilt: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“

Die Reduktion des Schreibens auf das, was ist, soll den Verstoß gegen die demokratische Urpflicht übertünchen: verdammt noch mal seine Meinung zu sagen, um eine stabile und wahrheitssuchende Polis am Leben zu erhalten.

Dabei wären Grundsatzdebatten in der jetzigen Multikrise dringlicher denn je. Der Streit um Freiheit etwa, der mit der umstrittenen Impfpflicht aufkam. Ist Impfpflicht ein Verstoß gegen die Freiheit?

Beginnen wir mit der ärgerlichen Feststellung: müssen denn diese Scharmützel über Dinge sein, die doch selbstverständlich sein sollten?

„Worte müssen einen klaren Sinn haben: Freiheit ist Freiheit. Sie ist genau das, was der angeblich anachronistische Freiheitsbegriff des Altliberalismus sagt: das Fehlen von Beschränkung und Bevormundung, die Möglichkeit, nach eigenen Vorlieben, Einsichten und Entscheidungen zu handeln. Der Anspruch, stattdessen einen anderen, umfassenderen, besseren Freiheitsbegriff zu besitzen, ist Schummelei und Etikettenschwindel. Er ermöglicht es, „Freiheit“ zu nennen, was tatsächlich Eingriffe in die Freiheit sind. Die Rede von der „wahren“ Freiheit ist die verführerischste Maske, die man der Unfreiheit aufsetzen kann“. (ZEIT.de)

Kurz: Freiheit ist, wenn ich tun und lassen kann, was ich nach Lust und Laune will. Stopp: steht das wirklich so da? Kann man seinen eigenen Augen trauen? Wenn das die Überzeugung der Deutschen wäre, müsste das Land zurückgefallen sein in ein Stadium chaotischer Finsternis, in der jeder gegen jeden kämpft! Könnte diese Anarchie tatsächlich eine Demokratie sein – die auf wohldurchdachten Regeln beruht?

Philosophieren heißt Kinderfragen stellen, gemäß Freuds Einsicht von der überragenden Intelligenz der Kinder, die von der Torheit ihrer Autoritäten noch nicht verdorben wurden.

Bin ich frei, wenn ich unbeschränkt tun kann, was ich will? Auch wenn ich Schlimmes will, weil ich ein Verbrecher, Kinderschänder, Folterer oder Triebtäter bin? Die Bösewichter der Geschichte wären die größten Heroen der Freiheit? Das Dritte Reich wäre das Vorbild aller radikalen Freiheitsfreunde gewesen?

Himmler meinte dies in der Tat, als er – in der berühmten Posener Rede – seine SS-Schergen nicht genug ob ihrer Freiheit loben konnte, mit der sie sich von lächerlichen Einschränkungen der traditionellen Moral befreit hatten, um Menschheitsverbrechen zu begehen, zu denen sonst kein Volk dieser Welt fähig gewesen wäre. Eines Tages würde die Welt diese moralische Selbstbefreiung zu würdigen wissen.

Ich bin frei, wenn ich, unzufrieden mit der Demokratie, alles unternehmen werde, um sie in eine Diktatur zu verwandeln?

Ich bin frei, wenn ich auf die unantastbare Würde des Einzelnen pfeife und jeden Missliebigen wie einen Untermenschen traktiere?

Ich bin frei, wenn ich die Welt mit List und Tücke davon überzeugen will, dass die Klimagefahr keine menschengemachte ist und die Menschheit nichts dagegen tun kann – obwohl ich seit einem halben Jahrhundert die wissenschaftliche Wahrheit kenne?

„Das Instrument, das ich am eingehendsten untersucht habe, ist der Einsatz von Fake-Experten. Als es um die Frage ging, ob die Universität künftig weiter Geld von der Öl- und Gasindustrie annehmen darf, haben sich viele Professorinnen und Professoren nicht für ein Ende dieser Finanzierung ausgesprochen. Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber zumindest einige von ihnen erhielten Geld von der Industrie für fossile Brennstoffe. So entstehen Interessenkonflikte, die dazu führen, dass die Leute den Kopf unten halten. Man erkauft sich eine Art Duldung. Wir wissen, dass die Massenmedien den Klimawandel lange als Debatte dargestellt haben, in der beide Seiten annähernd dieselbe Zeit oder denselben Raum bekommen haben. Ich bin überzeugt, dass das dazu beigetragen hat, die Klarheit der Erkenntnisse in der Öffentlichkeit zu vernebeln. Und wir wissen aus internen Dokumenten, dass genau das der Zweck war. Das ist eine bewusste und absichtsvolle Strategie, bei der die Industrie an die journalistische Vorstellung von Objektivität appelliert hat. Das Ergebnis ist »false balance«, eine falsche Ausgewogenheit. Wir haben Berge an Beweisen dafür, dass diese Firmen bewusst Halbwahrheiten und Desinformation verbreitet haben, konsequent, über Jahrzehnte. Und deshalb ist die eigentliche Frage: Haben sie sich geändert? Und das konnte man bei den Anhörungen deutlich sehen: Haben sie nicht.“ (SPIEGEL.de)

Schreibt Forscherin Naomi Oreskes über den gigantischen Betrug an der Menschheit, begangen durch eine globale Komplizenschaft aus steinreichen Kapitalisten, einer Unmenge gekaufter Wissenschaftler und moralfreier Medien, die unter dem Deckmantel einer „ausgewogenen Berichterstattung“ jedem Fake eine Chance gaben.

Lügenmeldungen sind doch auch Tatsachen, über die man wertfrei und objektiv berichten muss – oder nicht? (Nebenbei: wären diese Tatsachen nicht mannigfach bewiesen, wäre es vor kurzem noch eine schlimme Verschwörungstheorie gewesen, solche unglaublichen Geschichten in die Welt zu setzen.)

Wem schwirrt hier nicht der Kopf? Hat etwa Deutschland, das seine Freiheit nie erobern und erarbeiten musste, bis heute nicht verstanden, was Freiheit ist? Verwechselt der ZEIT-Artikel Freiheit mit dem Faustrecht der Starken – wie es oft genug in der Geschichte geschehen ist?

Und gerade dort, wo dieses Faustrecht gebändigt wurde, um eine funktionsfähige Demokratie zu erfinden: in Athen?

Nestle spricht vom Naturrecht der Starken, die ihre grenzenlose Freiheit auf Kosten aller Schwächeren ausagierten. In der Schrift „Vom Staate der Athener“ schreibt ein Verteidiger der chaotischen Freiheit per überlegener Macht:

„Die ganze (demokratische) Staatsverfassung ist auf den Vorteil der „schlechten Leute“ eingestellt, die die besoldeten Ämter für sich in Anspruch nehmen und sich auf Kosten der „rechten Leute“ – die ihnen geistig überlegen sind – amüsieren, wozu das Geld durch Leiturgien (steuerartige Spenden der Reichen) und Vermögenskonfiskationen aufgebracht wird. Schon Alkibiades bewies seinem Vormund Perikles, dass die vom Volk erlassenen Gesetze genau so Gewalt seien wie die Herrschaft eines Tyrannen. Der Hass zwischen den Armen und Reichen erreichte einen solchen Grad, dass die letzteren zu schwören pflegten: „ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und, so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“ (Vom Mythos zum Logos)

Hat sich bis heute irgendetwas verändert? Nur dem Grade nach: die Reichen von heute sind unvergleichlich viel reicher und beherrschen faktisch die mächtigsten Staaten der Welt. Damals gelang es noch dem Volk, die Oligarchen mit demokratischen Gesetzen zu zähmen.

Zwei gewaltige Unterschiede gibt es doch. Die Reichen verwandelten sich aus Feinden des Volkes in Wohltäter des Volkes. Ohne ihre Leistungsfähigkeiten, Fabriken und Geldmassen würde keine Demokratie funktionieren. Es gäbe keine Arbeitsplätze, die sie in gnadenhafte Arbeitgeber verwandeln, ohne ihre Produktions- und Forschungskapazitäten wäre der Staat wettbewerbsunfähig.

Und: in Athen wurde noch Tacheles geredet, die Tatsachen wurden angesprochen, wie sie jeder mit eigenen Augen wahrnehmen konnte. Heute wird um den heißen Brei herumgeredet: man kommuniziert, um andere unbemerkt zu beeinflussen.

Der erbarmungslose antike Krieg zwischen Reich und Arm verwandelte sich in der christlichen Moderne wunderbarerweise zu einem Fürsorge-Kapitalismus: wenn die Flut steigt, heben sich alle Boote.

In neocalvinistischen Ländern wie England und Amerika gilt der Kapitalismus als Frucht des Glaubens. Wie der Fromme gute Werke tut, um vom Himmel belohnt zu werden, so pokert der Prädestinierte mit seinem Vermögen, um mit irdischen Zinsen reichlich belohnt zu werden.

Heute sind die Gräben zwischen Habenden und Nichthabenden ungleich schlimmer. Nicht trotz, sondern wegen des Fortschritts. Fortschritt war die Erfindung der Überlegenen, um ihre Überlegenheit grenzenlos auszubauen. Der Wohlstand ist zwar gewachsen, doch stets verbunden mit der ebenso wachsenden Gefahr eines irreversiblen Wehestands für alle.

Immer mehr Arme darben, das Klima wird zum höllischen Feuer, die Natur wird vollends verdorben und dennoch und dennoch: der Fortschritt ins Gigantische und Gottähnliche ist unaufhaltsam. Was wäre die Menschheit ohne ihre unvergleichlichen Helden des Fortschritts wie Musk und Gates, den Lieblings-Söhnen des Himmels?

Haben die deutschen Prediger der unbegrenzten Freiheit immer noch nicht wahrgenommen, dass wir in einer Demokratie leben? Was, bitte, ist Demokratie?

Es ist ein zerbrechliches Geflecht aus verschiedenen Tugenden, die kunstvoll miteinander ausbalanciert werden müssen. Sollte eine Demokratie nicht gerecht sein, die Menschenrechte jedes Einzelnen wahren, mit Schwachen und Notleidenden solidarisch sein? Wie aber verträgt sich dies mit einer Freiheit, die glaubt, rücksichtslos über Stock und Stein trampeln zu dürfen?

Sind das nicht die simpelsten Fragen, die gestellt werden müssen, um dem Phänomen Freiheit auf die Pelle zu rücken? Warum stellt sie niemand?

Ist unsere Demokratie kein Rechtsstaat mit unzähligen Gesetzen und Vorschriften, die von niemandem über den Haufen geworfen werden dürfen? Sind das etwa keine Einschränkungen der Freiheit? Kann man bei Rot über die Kreuzung rennen, ohne Gefahr, sanktioniert zu werden?

Wie können die Deutschen diese schlichten Tatsachen verdrängen? Schauen wir uns um, ob ein Rechtsgelehrter uns weiterhelfen kann?

„In der deutschen Tradition wird Freiheit gern mit Vernunft identifiziert, sie kommt gewissermaßen aus dem Sollen. Anwalt dieser Vernunft sind die Grünen, nicht zufällig berühmt für ihren leicht moralisierenden Ton und ihre hohe fachpolitische Sachkunde. Freiheit, das lehrt uns die angelsächsische Tradition, kann man aber auch als Fähigkeit verstehen, seinen Bedürfnissen zu folgen. Hier kommt die Freiheit nicht aus dem Sollen, sondern aus dem Wollen. Schließlich sind wir körperliche Wesen, die sich keineswegs immer frei fühlen, wenn sie das vermeintlich Richtige tun. Die Erinnerung an diese Seite der Freiheit ist Sache der FDP. Man mag das als Präferenz für schnelle Autos und Fleischmahlzeiten mit schlechter Klimabilanz abtun, aber das wäre zu kurz gedacht. Wenn sich die Grünen um den langfristigen Schutz der Freiheit kümmern, soll uns die FDP daran erinnern, dass Freiheit in der Gegenwart real werden muss, das Leben kurz ist und nicht völlig in langfristiger Planung aufgehen kann.“ (SPIEGEL.de)

An diesem Artikel eines Rechtsphilosophen ist fast alles falsch. Kant hatte weder Einwände gegen Wollen noch gegen Bedürfnisse. Beides aber musste vom kategorischen Imperativ überprüft und bewertet werden. Was man als Rechtsgelehrter gegen das Moralisieren haben kann, bleibt rätselhaft: ist das Einhalten von Gesetzen keine moralische Pflicht? Nicht körperliche Gefühle entscheiden darüber, ob wir das Rechte tun, sondern unsere sachkundige Vernunft. Freud würde vom rationalen Ich reden, das sich mit seinem Es und Über-Ich auseinandergesetzt hat und zu einem sinnvollen Ergebnis gekommen ist.

Das chaotische Wollen, welches sich von keinem Sollen beurteilen lässt, entstammt der mittelalterlichen Theologie, als die Frage aufkam: muss Gott sich seinen eigenen Gesetzen unterwerfen – oder widerspräche das seiner Allmacht? Ja, es widerspricht, ergo wurde Gottes Willen zur chaotischen Freiheit des Allmächtigen. Dieser Wille führte zu Nietzsches moralfreiem Willen zur Macht.

Woher kommt der Begriff einer regellosen Freiheit? Aus dem Bericht über den Sündenfall.

„Des Menschen erste Sünde, der Ungehorsam, war seine erste Tat der Freiheit, sie ist der Beginn der Menschheitsgeschichte.“ (Fromm, Das Christusdogma)

Ungehorsam war die erste Tat der Freiheit, also muss Freiheit Ungehorsam sein – wider alle Gebote der Tugend. Dies wurde zur Grundüberzeugung englischer Intellektueller bei Beginn der Neuzeit.

Francis Bacons Wissen ist Macht sollte die Folgen der Erbsünde überwinden und dem Menschen helfen, mit Hilfe der Wissenschaft das Paradies zurückzuerobern. Desgleichen spätere Philosophen, die der bösen Freiheit die Unschuld kapitalistischer Habgier zurückerobern wollten. Dazu kam Adam Smith‘ unsichtbare Hand – und die Harmonie aus Egoismus der Reichen und Elend der Schwachen war abgesegnet.

Das war die biblische Quelle der unbegrenzten Freiheit eines Christenmenschen: sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

Die zweite Quelle ist die Freiheit der griechischen Philosophie, deren Motto lautet: Freiheit ist, wenn du tust, was du als richtig und tugendhaft erkannt hast. Das Richtige ist das Gute oder die Moral der Vernunft.

Beide Moralbegriffe streiten und verbinden sich in der europäischen Geschichte in den seltsamsten, menschen- und demokratiefeindlichsten Mischungen – obgleich sie völlig inkompatibel sind.

Wer unter Freiheit die Lizenz zum menschenfeindlichen Tun versteht, hat nichts verstanden von der Synthese aus Wollen und Sollen. Wenn ich tun kann, was ich für richtig halte, erfüllt mich das mit dem Selbstbewusstsein, ein freier und zugleich verantwortungsbereiter Mensch zu sein. Auf diesem Selbstbewusstsein ruht jede vitale und überlebensfähige Demokratie.

Fortsetzung folgt.